Wann macht Weiterbildung Schule?

Bild von jungen Menschen, die lernen. Symbolbild für die Erwachsenenbildung.
„Die Wirtschaft sagt, sie könne die Weiterbildung nicht finanzieren, den Arbeitnehmer:innen fehlt angesichts der Inflation das Geld, und der Staat ist sehr zurückhaltend“, beklagt Franz-Josef Lackinger, Geschäftsführer des Berufsförderungsinstituts Österreich. | © Miriam Mone
Schlechte Noten kriegen Regierung und Wirtschaft im Fach Erwachsenenbildung. Der Grund: mangelnde Mitarbeit. Dabei könnte die berufliche Fortbildung einige der größten Probleme unserer Gesellschaft und Wirtschaft lösen. Man muss es nur wollen!
Nie mehr Schule ist von gestern. Heute gibt es viele gute Gründe, das ganze Arbeitsleben lang dazuzulernen. Den einen fehlt in jungen Jahren vielleicht die Lust zu lernen oder die richtige Unterstützung. Diese Menschen wollen dann später die Matura nachholen. Andere waren eben noch bei einem Montagebetrieb beschäftigt, der sich jetzt aber auf Solartechnologie spezialisieren will, weswegen das entsprechende Know-how erworben werden muss. Wieder andere wollen ihre Deutschkenntnisse verbessern oder Fertigkeiten wie Nähen oder Reparaturen von Elektrokleingeräten lernen. Kurzum: Erwachsenenbildung ist für alle da. Doch seit der Corona-Pandemie schüttelt ein Beben die Branche durch.

Erst einmal die schlechte Nachricht: Das Coronavirus hat der Erwachsenenbildung einen Reset verpasst. Im Jahr 2019 gab es in Österreich 4,2 Millionen Teilnehmer:innen entsprechender Angebote. Ein Jahr später zählte man nur noch zwei Millionen. Im Jahr 2021 schrumpfte das Ergebnis gar auf 1,5 Millionen. Die Zahlen stammen aus dem Jahresbericht der Konferenz der Erwachsenenbildung Österreichs, der sogenannten 36. KEBÖ-Statistik.

Aber es gibt auch gute Nachrichten: Die Branche ist in einem Maße resilient, anpassungsfähig und pragmatisch, dass sich viele Wirtschaftsunternehmen eine Scheibe abschneiden könnten. Denn quasi über Nacht digitalisierte sich der ganze Sektor. Abzulesen ist das an den Unterrichtseinheiten. Die brachen von 2019 (5,9 Millionen Einheiten) auf 2020 (4,5 Millionen) zwar auch ein – aber längst nicht so massiv wie die Zahl der Teilnehmer:innen. Im Jahr 2021 kletterte sie trotz weniger Schüler:innen sogar wieder auf 4,9 Millionen.

Hauptverursacher ist nicht nur Corona. Krisen und Innovationen geben sich seit ein paar Jahren die Klinke in die Hand. Dazu gehören (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Wahlmüdigkeit, Fake News, Populismus, künstliche Intelligenz, Industrie 4.0, Green Deal, Klimakatastrophe, „Fachkräftemangel“, Verkehrs- und Energiewende. All diese Herausforderungen haben direkte Auswirkungen auf die Erwachsenenbildung. Denn sie ist es, die dafür den Menschen das Rüstzeug in die Hand gibt – von den Grundlagen bis zum Spezialwissen, egal ob berufliche Qualifikation oder privates Interesse.

Nachsitzen im Krisenfall

„Erwachsenenbildung ist ein weites Feld. Es umfasst die Qualifizierung für den Arbeitsmarkt, das Nachholen von Bildungsabschlüssen, Weiterbildung, politische Bildung, aber auch Kunst und Kultur“, erläutert Sabine Letz im Gespräch mit Arbeit&Wirtschaft. Sie ist Geschäftsführerin beim Verband Österreichischer Gewerkschaftlicher Bildung (VÖGB). Durch diese Themenvielfalt und die schiere Menge an Weiterbildungsmöglichkeiten ist Erwachsenenbildung aber auch sehr politisch – allerdings, ohne dass die Politik das zu würdigen wüsste. „Die Erwachsenenbildung genießt nicht den Stellenwert, der ihr zustehen würde, auch nicht bei der Finanzierung. Denn immer, wenn es demokratiepolitisch oder wirtschaftlich knirscht, wird nach der Weiterbildung gerufen, und der Bildungssektor muss die Probleme beheben.“

Anfang Mai kam es deswegen erstmals, seit es in der Branche einen Kollektivvertrag gibt, zu Streiks, weil es im Vergleich zur Menge an Vollzeitstellen viel zu viele Teilzeitstellen gibt und weil die Arbeitsbelastung zu hoch und die Bezahlung zu niedrig ausfällt. Aktuell fließen 0,4 Prozent des Bildungsbudgets in die Erwachsenenbildung. Die Arbeiterkammer (AK) und der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) fordern einerseits eine Aufstockung auf 1,0 Prozent, andererseits aber auch die Einführung eines Weiterbildungsfonds. Unternehmen sollen 1 Prozent der Jahresbruttolohnsumme einzahlen, um mit dem Geld kleinere und mittlere Unternehmen bei der Weiterbildung zu unterstützen.

„Die Wertschätzung für die Erwachsenenbildung kann ich an der Finanzierung ablesen. Die Unternehmen sagen, sie brauchen Fachkräfte und gut ausgebildete Arbeitnehmer:innen – nur zahlen will es niemand. Auch wenn die Wichtigkeit in Sonntagsreden immer betont wird: Ein durchdachtes strategisches Konzept samt stabiler Finanzierung vermissen wir“, bringt Letz die aktuelle Situation auf den Punkt.

In Zukunft gehe es in der Erwachsenenbildung vor allem darum, mehr Menschen zu erreichen. Dies könne auch mit einer einwöchigen Bildungsfreistellung pro Jahr gelingen, so Sabine Letz. | © Markus Zahradnik

Gelernte Knausrigkeit

Erstaunlich ist, dass angesichts der jüngsten Debatten über einen vermeintlichen Fachkräftemangel auch die Firmen zurückhaltend sind. Seit Jahren sinkt laut Weiterbildungsindex der Stellenwert, den die Weiterbildung bei Firmen einnimmt. Eine Studie des Instituts für Höhere Studien kommt zu dem Schluss, dass der Anteil der Unternehmen an der Finanzierung der Weiterbildung von 41 Prozent (im Jahr 2009) auf 31 Prozent (2018) zurückging. Im gleichen Zeitraum wuchs der Anteil, den die Beschäftigten selbst übernehmen, von 29 auf 42 Prozent.

Die Wirtschaft sagt, sie könne die Weiterbildung nicht finanzieren, den Arbeitnehmer:innen fehlt angesichts der Inflation das Geld, und der Staat ist sehr zurückhaltend. Erwachsenenbildung spielt im Ministerium eine untergeordnete Rolle“, beklagt Franz-Josef Lackinger. Er ist Geschäftsführer des Berufsförderungsinstituts Österreich (BFI). „Das Budget von 40 Millionen Euro hat eher symbolischen Charakter. Was fehlt, ist eine politische Gesamtverantwortung, die der Erwachsenenbildung mittels konjunkturunabhängiger Budgets eine Planungssicherheit gibt.“

Und das alles im Schatten groß angelegter Kampagnen, in denen sich Politik und Industrie über den Fachkräftemangel beklagen. „Man muss unterscheiden zwischen der öffentlichen Diskussion, hinter der vielleicht politische Absichten stecken, und dem, was wirklich passiert. Es gibt natürlich Betriebe, die gezielt in die Weiterbildung investieren. Von einer flächendeckenden Bereitschaft der Unternehmen, wirklich Geld in die Hand zu nehmen, kann man aber nicht sprechen“, so Lackinger weiter.

Dabei sei es in der Praxis so, dass die Nachfrage nach Spezialwissen und berufsorientierten Abschlüssen in den vergangenen Jahren besonders hoch gewesen sei. Kein Wunder: „Das öffentliche Ausbildungssystem kann sich angesichts der rasanten Entwicklung nicht schnell genug anpassen. Das ist aber unser Kerngeschäft. Wir müssen schauen, was in der Wirtschaft gefragt ist und wie wir das in Bildungsprogrammen umsetzen können“, beschreibt Lackinger die Leistung der Erwachsenenbildung.

„Es gibt natürlich Betriebe, die gezielt in die Weiterbildung investieren. Von einer flächendeckenden Bereitschaft der Unternehmen, wirklich Geld in die Hand zu nehmen, kann man aber nicht sprechen“, so Franz-Josef Lackinger.

Schulstartbeihilfen?

„In der Erwachsenenbildung können wir ganz viel sehr schnell anbieten, und das in Top-Qualität. An Angeboten mangelt es nicht. Zeit und Geld sind aber zentrale Hemmnisse beim Zugang zu Weiterbildung. Wir erreichen daher einfach nicht alle Menschen so, wie es sein sollte“, weiß Letz – ein Problem, das auch Lackinger sieht. Oft kommen eben die Menschen, die bereits Führungsfunktionen und einen höheren Abschluss haben.

Die Digitalisierungswelle während der Corona-Pandemie ist ein gutes Beispiel dafür, wie ungerecht es in der Erwachsenenbildung zugeht. Einerseits konnten plötzlich Menschen an Weiterbildungen teilnehmen, deren Zeit oder Mobilität begrenzt ist, was den Frauenanteil bei den Angeboten des VÖGB stark erhöht hat, erklärt Letz. Andererseits fielen all jene durch das Raster, die sich die entsprechende Hardware oder Internetverbindung nicht leisten konnten.

Auch das Arbeitsmarktservice (AMS) verschärft die Ungleichheit eher. Dessen Aufgabe ist es, Menschen in einen Job zu bringen. „Das AMS orientiert sich in erster Linie an seinem Vermittlungsauftrag und somit stark an den Anforderungen des Arbeitsmarkts. Das betrifft auch die Investition in die Qualifizierung der Menschen. Das ist gesetzlich so vorgesehen“, erklärt Lackinger. Allerdings erfordern 40,5 Prozent der offenen Stellen in Österreich nur einen Pflichtschulabschluss oder gar kein bestimmtes Qualifikationsniveau. Das widerlegt zwar einerseits den Mythos vom Fachkräftemangel, nimmt aber auch den Druck vom AMS, Stellensuchenden eine Weiterbildung anzubieten.

Lebensbegleiter Lernen

In Zukunft gehe es in der Erwachsenenbildung vor allem darum, mehr Menschen zu erreichen, so Letz. Neben dem finanziellen Aspekt könne dies mit einer einwöchigen Bildungsfreistellung pro Jahr erreicht werden – eine Kernforderung von AK und ÖGB. Laut einer Befragung des Wirtschaftsförderungsinstituts der Wirtschaftskammer (WIFI) fehlt es 54 Prozent aller Erwerbstätigen schlichtweg an der Zeit für Weiterbildungen. Gleichzeitig messen 87 Prozent der Befragten dem lebenslangen Lernen eine große Bedeutung zu.

Aber es gibt Grund zur Hoffnung: Die Zahlen und Vorschläge liegen auf dem Tisch, und die Nachfrage steigt. Schon seit Mai ist der VÖGB für den Rest des Jahres ausgebucht. Und auch die Branche entwickelt fleißig die Themen weiter. „Es gibt nicht jeden Tag revolutionäre Einschnitte. Vielmehr ist es eine permanente Weiterentwicklung der Themen und der Ausbildungsangebote“, so Lackinger. Und weiter: „Sporadisch treten aber auch größere Veränderungen auf, wie etwa die rasante Verbreitung von ChatGPT und der erleichterte Zugang zu künstlicher Intelligenz. Solche Entwicklungen berücksichtigen wir natürlich und schaffen entsprechende Bildungsangebote.“

Doch damit diese Bildungssaat auf fruchtbaren Boden fällt, brauche es einen Wandel in der Wahrnehmung, macht Letz deutlich: „Der Stellenwert der Erwachsenenbildung muss sich in jeder Hinsicht ausdrücken – seitens des zuständigen Ministeriums, der medialen Wahrnehmung und Berichterstattung, aber auch hinsichtlich der Finanzierung. Das setzt voraus, dass es eine Gesamtstrategie für das lebensbegleitende Lernen gibt.“

Über den/die Autor:in

Christian Domke Seidel

Christian Domke Seidel hat als Tageszeitungsjournalist in Bayern und Hessen begonnen, besuchte dann die bayerische Presseakademie und wurde Redakteur. In dieser Position arbeitete er in Österreich lange Zeit für die Autorevue, bevor er als freier Journalist und Chef vom Dienst für eine ganze Reihe von Publikationen in Österreich und Deutschland tätig wurde.

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