„Ich liebe die Monotonie“

Martin Hartl zeigt mit seinem Zeigefinger auf einen Computer, Angelo sitzt an diesem Computer und hält die Maus. Symbolbild für Menschen mit Autismus im Arbeitsleben.
Um die 4.000 Bilder annotiert Angelo an einem Arbeitstag. Er versieht die Bilder mit Kennzeichnungen und füttert so die künstliche Intelligenz mit Daten. Links im Bild: Projektleiter Martin Hartl. | © Markus Zahradnik

Inhalt

  1. Seite 1 - „Ich versuche, möglichst offen zu kommunizieren“
  2. Seite 2 - „Wissen macht die Welt lebendig“
  3. Seite 3 - „Behandelt uns wie normale Menschen“
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Menschen mit Autismus finden nur schwer Jobs oder Praktikumsplätze. Kapsch TrafficCom initiierte ein Pilotprojekt, das unter anderem genau sie sucht. Eine Reportage über ein Leitprojekt für einen diverseren Arbeitsmarkt.
Angelo blickt hoch konzentriert auf den Bildschirm. Vor ihm ein Lkw auf der rechten Spur einer Autobahn. Er zieht mit der Maus einen Kasten. Nächstes Bild. Um die 4.000 Bilder annotiert er an einem Arbeitstag. Er versieht die Bilder mit Kennzeichnungen und füttert so die künstliche Intelligenz mit Daten. Rund um ihn: lange Gänge, schlichte Räume, Licht aus Neonröhren, Menschen, die auf ihre Bildschirme starren und klicken und klicken und klicken. In der Küche am Gang hängen „schnelle Fitnessübungen für zwischendurch“. Die Kaffeemaschine pfeift für einen Moment, sonst ist es ganz still. Menschen gehen zielgerichtet – kein Trödeln, kein Verweilen.

Und genau das sei der Sinn der Sache, erklärt Martin Hartl. Er leitet den Verein „Responsible Annotation“ zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts im KI-Umfeld, der mit der Firma Kapsch TrafficCom zusammenarbeitet. Er führt uns durch die Räume und blickt sich für einen Moment um. Dann sagt er: „Trostlos mag es für die einen wirken, angenehm, weil keine Ablenkungen, für die anderen.“ Eines von vielen Details, warum das Projekt funktioniert. In der Kaffeeküche darf geplaudert werden, man muss aber nicht. An den Wänden dürfen Bilder hängen, müssen aber nicht.

Sanfte Stimme, klare Sätze

Um 9.30 Uhr versammeln sich alle zum gemeinsamen Gespräch. Seit der Pandemie finden die Teambesprechungen online statt, ändern will das hier niemand. Vielen sei die virtuelle Kommunikation ohnehin lieber, meint Hartl. Obwohl die meisten der Abteilung an diesem regnerischen Dienstag im Mai anwesend sind, loggen sie sich in das Gespräch online ein. Die Teamleiterin Beate Fabian richtet ihr Headset. Sie begrüßt die Runde, spricht von neuen Datensätzen aus New York und von Fehlern, die beim letzten Vorgang passiert seien. Fabian will „Feedback bearbeiten“ und „Datensätze bündeln“. Sie verteilt 44.000 Bilder auf 11 Jobs, die sich das Team selbst einteilt. Fabian spricht sanft und formuliert ihre Sätze klar. Dazwischen meldet sich nur selten jemand – was nicht bedeutet, dass ihr niemand zuhört, im Gegenteil.

Beate Fabian sitzt vor ihrem Computer, hält in der linken Hand ihre Maus, unter sich ein Notizbuch. Sie trägt ein Headset. Fabian arbeitet mit Menschen mit Autismus zusammen.
Beate Fabian führt das Annotation-Team und weiß genau, wie die Kommunikation mit ihren Mitarbeiter:innen am besten funktioniert. | © Markus Zahradnik

In diesen Räumen ist oft die Rede von Validieren, Verifizieren und Annotieren. Aktuell trainiert man für einen neuen Datensatz. Dafür braucht es ein Handbuch und klare Regeln. Hartl sitzt der Teamleiterin Fabian im Büro gegenüber. Bei ihnen ist es grün, Pflanzen räkeln sich entlang der Fensterbank, von der Wand lacht bunte Kunst. „Wenn ich ein neues Handbuch an das Team rausschicke, das ich schon als recht detailreich empfinde, kommt es nicht selten vor, dass mir ein Mitarbeiter Minuten später alle Lücken auflistet.“ Hartl lächelt, wenn er solche Anekdoten erzählt. Es macht ihm nichts, dass sein Team oftmals gründlicher arbeitet. Er ist stolz auf seine Leute.

Empathie und Verständnis

Die Abteilung besteht aus einem vielfältigen Team von jungen Erwachsenen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen, hauptsächlich Autismus. Sie alle annotieren, das heißt, sie klicken Bilder durch und versehen sie mit Informationen. Diese neuen Daten werden dann als Trainingsmaterial für die Weiterentwicklung von KI im eigenen Haus verwendet. Ihre Arbeit trägt dazu bei, die Qualität und Genauigkeit von Software im Einsatz in Projekten zu optimieren. Damit die Zusammenarbeit mit einem derart diversen Team klappt, muss Fabian einiges beachten: „Für mich sind Empathie und Verständnis das Allerwichtigste. Ich versuche, möglichst offen zu kommunizieren.“ Jede Person habe besondere Bedürfnisse und Fähigkeiten – welche, das gilt es für sie herauszuarbeiten. Beim Annotieren sind Sorgfalt und Präzision besonders wichtig. Die KI versteht keine Fehler. Das passt gut, denn auch im Team lieben alle klare Regeln – Schwarz-Weiß, möglichst keine Graubereiche.

Menschen mit Beeinträchtigungen bringen
oft hervorragende Fähigkeiten mit.
Sie sind keine Zielgruppe für uns, sondern
eine besondere Kompetenzgruppe.

Martin Hartl, Leiter von Responsible Annotation

Wie unterschiedlich die Menschen im Team sind, zeigen die Kekse zu Weihnachten. Jedes Jahr bringt die Teamleiterin im Advent welche mit. Einige freut das gemeinsame Feiern, andere entschuldigen sich und sind heilfroh, nicht zu sozialen Aktivitäten gezwungen zu werden. „Die Leute können mit gutem Gewissen bei der Weihnachtsfeier heimgehen und müssen nicht Small Talk betreiben, wenn sie nicht wollen“, erklärt Hartl. Das sei in vielen anderen Firmen anders und stelle für Menschen im Autismus-Spektrum oder etwa mit sozialen Phobien große Hürden dar.

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Über den/die Autor:in

Eva Reisinger

Freie Journalistin und Autorin in Wien. Sie schrieb für den ZEIT-Verlag über Österreich, Feminismus & Hass. War Korrespondentin und lebt halb in Berlin und halb in Wien und erzählte euch, was ihr jeden Monat über Österreich mitbekommen müsst, worüber das Land streitet oder was typisch österreichisch ist.

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