Flexibel in der „gesunden Vollzeit“

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Woran sich die österreichische arbeitszeitpolitische Debatte orientieren könnte, wenn sie die Flexibilisierung der Arbeitszeiten auch gesundheitsorientiert umsetzen will.

Selbstbestimmung der Arbeitszeit

Für die Selbstbestimmung stellt die Arbeitszeit-Kommunikationskultur innerhalb des Betriebes einen entscheidenden Faktor dar. Nur ein kleiner Teil der Beschäftigten kann tatsächlich für sich und unabhängig von KollegInnen und Vorgesetzten seiner Arbeit nachgehen – weil man zum Beispiel ein Einzelbüro hat und deshalb bei der Durchsetzung privater Interessen weniger sozialen Druck verspürt. Für die Mehrheit der Beschäftigten ist hingegen wichtig, dass sie in ihrem Arbeitsumfeld über ihre Arbeitszeiten sprechen können und erst dadurch Einfluss auf diese gewinnen. Wenn diese Arbeitszeit-Kommunikationskultur gut ausgeprägt ist, sinkt das Risiko fremdbestimmter Arbeitszeiten und die Beschäftigten haben eher ausreichend Zeit und Energie für ihre privaten Angelegenheiten – und sie empfinden ihre Arbeitsbedingungen weniger belastend. Arbeitszeitpolitik, also die Aushandlung von verschiedenen Zeit-Interessen, findet in diesem Sinne nicht nur auf gesamt- und teilgesellschaftlicher (Arbeitszeitgesetz und Kollektivvertrag) sowie auf betrieblicher Ebene (Betriebsvereinbarungen) statt, sondern auch auf kleineren organisatorischen Ebenen wie etwa in Abteilungen, Teams oder auch zwischen jenen MitarbeiterInnen, die mehr oder weniger zufällig im gleichen Raum sitzen. Aus diesem Grund muss die Bewältigung von Arbeitszeitproblemen immer als soziales Problem verstanden werden, das nicht einfach durch die individuelle Schulung von Zeitmanagement-Kompetenzen gelöst werden kann.

Grundvoraussetzungen

Um die potenziellen negativen Effekte der Flexibilisierung zu vermeiden, müssen Betriebe ein Set an Grundvoraussetzungen erfüllen, damit es tatsächlich zu einer breitenwirksamen Umsetzung gesunder Vollzeit kommen kann:

  1. Nachweisprinzip: Betriebe müssen in Form empirischer Erhebungen nachweisen, ob selbstbestimmte Arbeitszeiten tatsächlich vorliegen (etwa durch zusätzliche Module in der Evaluierung arbeitsbedingter psychischer Belastungen) und dass aktiv Maßnahmen gegen eine dauerhafte Entgrenzung und Verlängerung der Arbeitszeiten getroffen werden.
  2. Ausgleichsprinzip: Es muss eine ausreichend hohe Zahl an Zeitausgleichstagen ermöglicht werden, da ansonsten ein zeitgerechter Ausgleich (Zeitraum nicht länger als 12 Monate) von Mehr- und Überstunden kaum möglich ist, ergänzt durch transparente und eindeutige Regeln für die Ausbezahlung von Mehr- und Überstunden.
  3. Risikogruppen-Ausschlussprinzip: All-in-Verträge und Überstundenpauschalen müssen – soweit sie nicht tatsächlich Führungskräfte betreffen – von den erhöhten Arbeitszeitgrenzen ausgenommen werden, da diese ein besonderes Risiko für überlange Arbeitszeiten über längere Zeiträume aufweisen.
  4. Kontrollprinzip: Es muss einen Betriebsrat geben, der über die Einhaltung der Grundvoraussetzungen wacht, sowie auch die Möglichkeit für das Arbeitsinspektorat, deren Umsetzung zu prüfen.

Betriebe sollten demnach erweiterte Flexibilisierungsmöglichkeiten nur dann bekommen, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind. Denn dann sind die Risiken dauerhaft erhöhter täglicher und wöchentlicher Arbeitszeiten und die damit einhergehenden gesundheitlichen Belastungen reduziert. Insgesamt geht es darum, sicherzustellen, dass wir in Österreich zwar auf der einen Seite auch „fortschrittliche“ Arbeitszeitregelungen anstreben, aber auf der anderen Seite nie die langfristige Gesundheit der Beschäftigten und die möglichen breiten Folgen für die Gesellschaft aus den Augen verlieren.

Verkürzte Arbeitszeit als Normalität

Der letzte Eckpfeiler gesunder Vollzeit betrifft die Höchst- und Normalarbeitszeiten. Wenn ein Hauptziel der Flexibilisierung in der Abdeckung von Schwankungen im Arbeitsbedarf liegt, dann müssen auf stärkere Beanspruchungen der Beschäftigten bei Arbeitsspitzen auch Phasen folgen, in denen sie entsprechend weniger beruflich in Anspruch genommen werden. „Gesunde Vollzeit“ strebt entsprechend 30 bis 35 Wochenstunden als neue Normalität an. Dieses gesundheitsorientierte Arbeitszeitmodell würde auch die Chancen für geschlechtergerechte Arbeitszeiten erhöhen, da Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei Berufstätigkeit beider Elternteile derzeit nur schwer umsetzbar ist und die mangelnde Vereinbarkeit statistisch gesehen Frauen in die Teilzeitbeschäftigung drängt. Die in diversen politischen Programmen immer wieder auftauchende Forderung nach einer Erhöhung der Höchstarbeitszeit – zum Teil pauschal für alle Beschäftigten, zum Teil nur auf Gleitzeit eingeschränkt – könnte also durchaus auch im Sinne der Beschäftigten umgesetzt werden, wenn man sie mit den entsprechenden Grundvoraussetzungen verknüpft.

Linktipps:
„Herausforderungen selbstbestimmt-flexibler Arbeitszeiten in der unselbständigen Beschäftigung“, Forschungsberichte der gemeinnützigen Gesellschaft für wissenschaftliche Forschung Spectro, Wien (2016), siehe:
tinyurl.com/yaw4nu39
AW-Blog:
tinyurl.com/y857qjnn

Von
Martin Griesbacher
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie und Centrum für Sozialforschung an der Karl-Franzens-Universität Graz

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 7/17.

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