Als in Second Life gestreikt wurde

Inhalt

  1. Seite 1 - Das Internet darf keine gewerkschaftsfreie Zone sein.
  2. Seite 2 - „In Solidarity with IBM Workers“
  3. Seite 3 - Und heute?
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Virtuelle Demonstration, echter Arbeitskampf: Vor vierzehn Jahren lieferte sich die Gewerkschaftsbewegung in Second Life einen Schlagabtausch mit IBM. Was wurde aus diesem Testlauf gelernt?

Hausgemachte Probleme

2010, nach nur etwas mehr als zwei Jahren, war das Experiment „Union Island“ auch schon wieder zu Ende. Ein Grund lag darin, dass die die sozialen Netzwerke für die Interessenvertretung zunehmend mehr Bedeutung erlangten als die dreidimensionalen Welten. Avatar:innen wurden für Aktionen und Zusammenkünfte überflüssig, längst können ja Menschen ohne virtuelle Stellvertreter:innen im Web in Video-Konferenzen kommunizieren.

Ein zweiter Grund für das Schließen von „Union Island“ war allerdings nach der Erfahrung der Betreuer:innen des Projekts hausgemacht: Es sei, abgesehen von den paar Highlights, nie richtig vom Fleck gekommen Die Gewerkschaften hätten zu viel anderes zu tun gehabt und dazu sei die Personalknappheit gekommen, die eine intensive Betreuung der Chats und gemeinsame Aktivitäten blockiert hatte. Es war ja die Zeit der damals größten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren und sie erforderte die ganze Kraft der Gewerkschaftsbewegung, um den rauen Wind, der den Arbeitnehmer:innen entgegenblies, wenigstens abzuschwächen.

Wiederkehr der Avatar:innen?

Um 2010 ging der „Second Life“-Boom generell zu Ende und in den folgenden Jahren trennten sich immer mehr User:innen von ihrem „zweiten Leben“, nach 2015 überlegten die Betreiber die Einstellung. Allerdings blieb SL weiter vor allem für drei Bereiche von Interesse: für die Gamer:innen-Community, für das Testen neuer kommerzieller Möglichkeiten und für Forschung und Lehre an US-amerikanischen Universitäten mit Lehrprogrammen, Bibliotheken, Informationsangeboten usw. Auch etliche NGOs blieben weiter aktiv, den „Union Island“-User:innen wurde beim Close-Down empfohlen, auf deren „Inseln“ zu wechseln und sich dort weiter für Arbeitnehmer:inneninteressen einzusetzen.

Im Jahr der Corona-Pandemie mit seinen Kontaktverboten und Abstandsregeln war „Second Life“ wieder stärker gefragt. Viele Menschen schätzten die Möglichkeit, hier die soziale Distanz zu überwinden, sich ganz ohne Einschränkung mit Familienmitgliedern und Freund:innen zu treffen oder eine Veranstaltung zu besuchen, zumal die Avatar:innen weitaus „menschlicher“ und bei Wunsch dem:der jeweiligen User:in ähnlicher gestaltet werden konnten als zur Zeit von „Union Island“. Dazu kommt: das Instrument der Video-Konferenzen ist für weltweite Großveranstaltungen oder Aktionen und intensive Diskussionen zwischen einer großen Zahl an Teilnehmer:innen nicht besonders geeignet. Wenn US-Universitäten Teile ihrer E-Learning-Programme über SL durchführten, war das deshalb gut nachvollziehbar.

Daten-Gewerkschaften

Vielleicht wird die Arbeit mit Avatar:innen einmal auch für die Gewerkschaftsbewegung wieder eine brauchbare Aktionsmöglichkeit darstellen, etwa zur Interessenvertretung der Arbeitnehmer:innen entlang weltweiter Güterketten. Google-Chairman Eric Schmidt prophezeite, das Internet würde in absehbarer Zeit unser Leben so sehr durchdringen, dass wir es gar nicht mehr bemerken. Hier weitergedacht wäre auch eine Verschmelzung von realen Menschen und ihren Avantar:innen vielleicht nicht außerhalb des Möglichen.

Zeichnung einer in die Luft gereckten Faust, die Blitze in der Hand hält. Darunter steht geschrieben "Cyber Rights now!". Symbolbild für den Streik in Second Life.
„Rechte für die Netzwelt Jetzt!“ Aus Davide Barillaris Präsentation beim UNI-Kommunikator:innen-Forum 2009. Menschen- und Grundrechte, damit auch Gewerkschaftsrechte müssen auch für die vernetzte real-digitale Welt gelten. | © UNI Global Union/ Davide Barillari

Umso wichtiger ist es, dass die Interessenvertretungen der Arbeitnehmer:innen und aller anderen, die nicht zu den Nutznießer:innen der turbokapitalistischen Globalisierung zählen, die Warnungen hinsichtlich der Machtverhältnisse im Web und der damit verbundenen Datennutzung sehr ernst nehmen und Strategien zur Gegensteuerung entwickeln.

Alex Pentland, der als einer der sieben wichtigsten Computerwissenschaftler der Welt gilt, plädierte etwa am 2. September 2020 in einem „Standard“-Interview dafür, den Datenreichtum unter öffentliche Kontrolle zu stellen und im Interesse der Allgemeinheit, vor allem auch von wirtschaftlich benachteiligten Menschen einzusetzen. Um das durchzusetzen, müssten sich die Menschen in Daten-Gewerkschaften organisieren – wie es seit 150 Jahren die Gewerkschaften machen, um bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Die Gewerkschaften selbst, so wäre zu ergänzen, hätten hier im Bereich der Arbeitswelt eine Pionier:innenaufgabe.

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Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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