Aus der Haft: Käthe Leichters Geburtstagsgruß an ihren Sohn

Porträt von Käthe Leichter und ihr Sohn Otto Leichter.
„Aufnehmen und behalten - das ist das wichtigste mein Bub. Und froh, stark und aufrecht sein“, das schrieb Käthe Leichter an ihren Sohn. | © DÖW 1297 (Ausschnitte, KI-bearbeitet).
1939 schrieb Käthe Leichter ihrem Sohn Heinz in die Pariser Emigration einen Brief zum 15. Geburtstag. Es ist ein großartiges Dokument einer Mutterliebe ohne Scheuklappen, aber auch des Zusammenwachsens von zwei Menschen unter außergewöhnlichen Belastungen. Der A&W-Beitrag zum Muttertag 2024.
Die ehemalige AK-Expertin Käthe Leichter wartete im Frühjahr 1939 im Gefangenenhaus des Wiener Landesgerichts auf ihren Prozess. Fünf turbulente, belastende und unsichere Jahre des Exils und des aktiven Widerstands gegen den Faschismus lagen hinter ihr und ihrer Familie. Ihr Mann, der Journalist Otto Leichter, und die jungen Söhne Heinz und Franz waren gerade noch rechtzeitig nach Paris entkommen, sie wurde von einem Spitzel an die Gestapo verraten. Den Geburtstagsbrief an den 15-jährigen Heinz schrieb sie am 3. März, die darin zum Schluss ausgesprochene Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen sollte sich nicht erfüllen. Als Heinz, der sich jetzt Henry nannte, nach der Flucht in die USA seinen 18. Geburtstag feierte, war seine Mutter schon vom NS-Regime ermordet worden.

Käthe Leichters Familie im Schweizer Exil
Die Familie Leichter im Schweizer Exil. Sohn Heinz links außen neben dem Vater. | © DÖW 1297 (Ausschnitte, KI-bearbeitet).

Käthe Leichter: Brief an ihren Sohn

Mein liebster Heinzibub,

Du wirst jetzt also fünfzehn Jahre alt, und ich bin nicht bei Dir! Das ist weiter weder ungewöhnlich noch tragisch, denn in Deinem Alter sind schon viele Buben nicht mehr zu Hause, und das Ungewöhnliche in der Situation ist ja nicht, daß Du weg bist, sondern daß ich weg bin. Ich sage mir aber heute, daß Du zum Glück besser dran bist als viele Altersgenossen, weil Du in der Fremde Dein Heim, den Papa, das Brüderchen und hoffentlich auch mich bald wieder hast.

Fünfzehn Jahre mein Bub – da hört man auf, ein Kind zu sein, da kann man sich schon manches sagen. Du warst, wie Du klein warst, eigentlich mein Sorgenkind – viel mehr als Dein seelisch robusterer Bruder, weil ich in Dir viele Eigenschaften von mir gemerkt habe, an deren Überwindung ich selbst lange genug zu tun hatte. Weichheit, geringe Widerstandskraft, Unentschlossenheit. Gerade daß Du in Purpur geboren, in behüteter und besorgter Atmosphäre aufgewachsen bist, in der Dir alles von selbst in den Schoß fiel, von uns, den Eltern, gerade weil wir im Beruf nicht allzu viel Zeit für Dich hatten, in der übrigen Zeit besonders umsorgt, hat mich für Dich fürchten lassen, dass Dich diese Atmosphäre noch mehr verweichlicht, noch weniger widerstandsfähig für das Leben macht. Das Schicksal hat es anders gewollt, und so bitter es für uns war, so gut und gesund war es sicher für Dich, mein Bub.

Daß in sehr dunklen Monaten, die zum Glück schon hinter mir liegen,
die Erinnerung an unseren Abschied, an einen Buben,
der so tapfer seine Tränen hinuntergeschluckt hat,
mir viel geholfen und in mir die Verpflichtung gefestigt haben,
mich so zu verhalten, daß Dein Vertrauen in mich nie enttäuscht wird! 

Käthe Leichter an ihren Sohn

Du bist mit zehn Jahren aus dem gesicherten Wohlleben herausgerissen worden, hast gesehen, daß es nicht selbstverständlich ist, daß man alles hat was man wünscht, und nun haben die reichen und vielleicht doch schönen Jahre begonnen. Rückschauend finde ich, daß sie für mich schöner waren, und sie waren es sicher auch für Dich: Zürich, Mauer – nur zwei Zimmer, aber das Aufwachen um Grünen, das enge Zusammenleben mit uns. Es waren schöne Jahre, und sie waren sicher gut für uns und Dich. Ich habe mit wachsender Freude gemerkt, daß Du fester, selbständiger, entschlossener wirst. Du hast gleichzeitig Dein ungebundenes Leben führen und doch immer mehr an unserem Leben teilnehmen können. Daß noch ein zweiter Schock kommen mußte, war vielleicht ein bißchen viel für Dich. Aber auch da sage ich nun heute, daß jedes Erlebnis irgendwie reifer und reicher macht. So gerne ich es Dir erspart hätte – Du warst mir in den schweren Monaten ein so selbstverständlicher guter Kamerad, daß ich glaube, daß Du auch diesen Schock richtig verwertet hast. Wir beide, Du und ich, die sicher weicher veranlagt sind als unsere beiden resoluteren Familiengefährten, haben vielleicht jetzt die Festigkeit erhalten, die die anderen zwei von uns voraus hatten. Und ich danke gerade heute voll Glück, dass nach den vier Jahren Landleben das weitere Aufwachsen in der großen, fremden Stadt gerade das ist, was jetzt für Deine Entwicklung gut ist, und ich bin glücklich, dass das Wohnen am Stadtrand Euch beiden den Übergang sicher erleichtert.

Was soll ich Dir heute noch sagen, mein Bub? Daß in sehr dunklen Monaten, die zum Glück schon hinter mir liegen, die Erinnerung an unseren Abschied, an einen Buben, der so tapfer seine Tränen hinuntergeschluckt hat, mir viel geholfen und in mir die Verpflichtung gefestigt haben, mich so zu verhalten, daß Dein Vertrauen in mich nie enttäuscht wird! Daß ich voll Freude daran denke, daß mich, wenn ich herauskomme, ein zweiter Kamerad, ein guter Freund, mit dem ich schon alles besprechen kann, erwartet? Und daß wir dann trotz alldem wieder zu dritt Musik machen werden? Bis dahin, mein Bub: Augen und Ohren offen halten. Ich fühle hier, wie gut es war, daß die „Wimper so viel gehalten hat“. So kann ich, wenn ich meine Feuermauer ansehe, auch an den Blick von der Bockhardscharte, den Zürichberg oder den Mauerberg, und unseren Garten in Blüte denken, und wenn ich hier Lagerpfeifen höre, das Busch-Quartett oder die Matthäuspassion hören. Aufnehmen und behalten – das ist das wichtigste mein Bub. Und froh, stark und aufrecht sein. In Dein Stammbuch aber schreibe ich Dir zum heutigen Tag, auch wenn ich es nicht tatsächlich kann, die Flamme von Stefan George! Mein liebster Bub! Alles andere ist Freude auf das Wiedersehen!

                                                                                                                                  Deine Mama

Nachtrag

Das Gedicht Stefan Georges, das Käthe Leichter ihrem Sohn in Gedanken ins Stammbuch schrieb, stammt aus dem Lyrikband „Der Stern des Bundes“:

Wer je die flamme umschritt
Bleibe der flamme trabant!
Wie er auch wandert und kreist:
Wo noch ihr schein ihn erreicht
Irrt er zu weit nie vom ziel.
Nur wenn sein blick sie verlor
Eigener schimmer ihn trügt:
Fehlt ihm der mitte gesetz
Treibt er zerstiebend ins all.

Der in vieler Hinsicht umstrittene Dichter Stefan George spielte für die kritische Jugendbewegung vor und während des Ersten Weltkriegs, aus der auch Käthe Leichter kam, eine wichtige Rolle. Er zählte zur Minderheit der Kriegsgegner:innen und ließ sich später auch vom NS-Regime nicht vereinnahmen. Zu seinem Kreis gehörten unter anderem der Hitler-Attentäter Stauffenberg und dessen Brüder.

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Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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