Das Wehklagen über den Fachkräftemangel in Österreich

Fotos (C) Markus Zahradnik
Seit Jahren jammert die Wirtschaft über den Mangel an Arbeitskräften. Aktuell können bereits 272.000 offene Stellen nicht besetzt werden. Man fordert mehr Druck auf Arbeitssuchende und Hilfe vom Staat, übersieht aber, dass das Personalproblem oft hausgemacht ist.
Eigentlich eine sehr erfreuliche Nachricht: Die heimische Wirtschaft und damit auch der Arbeitsmarkt haben sich rascher als ursprünglich erwartet vom Corona-Schock im Jahr 2020 erholt. So waren Mitte Juni beim AMS 228.846 Personen als arbeitssuchend gemeldet. 71.259 steckten in Schulungsmaßnahmen. Das ist die niedrigste Arbeitslosenquote seit 2012. Und der Trend scheint sich trotz schwieriger wirtschaftlicher Rahmenbedingungen fortzusetzen. Kann man aber von einem „ausgetrockneten Arbeitsmarkt“ sprechen, wenn noch knapp über 300.000 Menschen einen Job suchen und denen (Stand Ende Mai) 138.134 offene Stellen gegenüberstehen? Gibt es einen Fachkräftemangel in Österreich?

Fachkräftemangel in Österreich

Mit dem Fachkräftemangel operiert die Wirtschaft gerne und seit Langem. Laut einer WKO-Umfrage vom Frühling 2008 hatten damals 83 Prozent der Betriebe Schwierigkeiten, gut ausgebildetes Personal zu finden. Bei der Arbeitskräfteradar-Befragung im April 2022 gaben 73 Prozent der Betriebe an, vom Fachkräftemangel betroffen zu sein. Um Umfrageergebnisse richtig einordnen zu können, muss man sich allerdings die genaue Fragestellung ansehen. Und im Fall des Arbeitskräfteradars lautet sie: „Wie stark ist Ihr Unternehmen derzeit von einem Mangel an Fachkräften betroffen?“

Es geht um eine subjektive Einschätzung und nicht um objektiv messbare Kriterien. Die tatsächliche Lage am Arbeitsmarkt lässt sich daraus also nicht ableiten. Und dementsprechend werden Maßnahmen, die auf dieser „Datenlage“ basieren, das eigentliche Problem der Betriebe nicht lösen können. Das wäre nämlich freie Stellen besetzen zu können. Das sieht man am Beispiel der Mangelberufe. Die Liste wird seit Jahren immer länger. Aktuell umfasst sie auf Bundesebene 66 Berufe und 52 weitere in den Bundesländern. Den gefühlten oder tatsächlichen Fachkräftemangel hat sie aber nicht substanziell verringert. Schwarzdecker:innen etwa stehen zum Beispiel seit 2008 auf der Liste. Reitet man da vielleicht ein totes Pferd?

Demotivierende Rahmenbedingungen

„Es gibt Bereiche, in denen tatsächlich Fachkräfte fehlen, wie zum Beispiel Datensicherheit oder generell im IT-Sektor“, erklärt Michael Tölle, Bildungsexperte der AK Wien. Gleiches gilt für die Berufe rund um Ökologie und Nachhaltigkeit. „Und dann gibt es jene Sektoren, in denen zwar genügend entsprechend ausgebildete Personen vorhanden sind, die aber wegen der schlechten Rahmenbedingungen in ihrem erlernten Beruf nicht oder nicht mehr arbeiten wollen. Dazu zählen zum Beispiel die Pflege, der Tourismus oder die Gastronomie.“

Niedrige Löhne, eine schlechte Work-Life-Balance und eine geringe soziale Anerkennung. Unzureichende Karrieremöglichkeiten, unattraktive Arbeitszeiten oder hoher Arbeitsdruck. All das führt dazu, dass Fachkräfte abwandern. Und dazu, dass sich immer weniger Menschen für eine Ausbildung in diesen Berufen entscheiden. Dadurch ensteht à la longue ein echter Mangel am Arbeitsmarkt.

Fachkräfte-Gap in Oberösterreich

In Oberösterreich ist das bereits Realität. „Wir haben tatsächlich einen Mangel an Arbeitskräften“, sagt Gerhard Straßer, Geschäftsführer des AMS Oberösterreich. Anfang Juni gab es rund 34.000 offene Stellen aber nur 24.000 Arbeitslose. Selbst mit den 9.000 Personen in Schulung könnte der Bedarf nicht einmal rechnerisch gedeckt werden. „Wahrscheinlich ist die Lücke sogar noch größer. Denn während sich Arbeitslose melden müssen, um Leistungen vom AMS zu erhalten, trifft das auf freie Stellen nicht zu.“ Besonders groß ist der Fachkräfte-Gap in den Bereichen Technik und IT, im Gesundheitswesen, bei Pädadog:innen, in der Gastronomie und im Handwerk. Da kommen auf einen Arbeitssuchenden fünf freie Stellen.

Gerhard Straßer bewertet den Fachkräftemangel in Österreich differenzierter.
„Wir haben in Oberösterreich bereits tatsächlich einen Mangel an Arbeitskräften“, rechnet Gerhard Straßer, Geschäftsführer des AMS Oberösterreich vor.

Angesichts der prekären Lage rücken die Betriebe von ihrem gewohnten Personalsucheverhalten. Sie suchen nicht mehr nach perfekt passenden und sofort einsatzfähigen Mitarbeiter:innen. So steige laut Straßer die Bereitschaft, in die Ausbildung neuer Mitarbeiter:innen zu investieren und auch Kandidat:innen in Erwägung zu ziehen, die man bisher nicht im Fokus hatte.

„Langzeitarbeitslose sind ein zu wenig genutztes Potenzial bei der Rekrutierung von Arbeitskräften. Diesen Menschen eine Chance zu geben, bedeutet auch die Chance auf eine zusätzliche Arbeitskraft“, sagt Straßer. Dass das funktioniert, beweist der Erfolg der Arbeitserprobung. 3.850 solcher „Probeeinsätze“, die einige Tage bis maximal vier Wochen dauern, wurden 2021 organisiert. Und in 58 Prozent der Fälle hatte danach ein Langzeitarbeitsloser einen Job. Und ein Unternehmen eine freie Stelle weniger.

Fachkräftemangel in Österreich führt zu „War for Talents“

Die ökonomische Binsenweisheit, dass große Nachfrage und geringes Angebot zu höheren Preisen führen, gilt natürlich auch für den Arbeitsmarkt. Um im sogenannten „War for Talents“ nicht auf der Strecke zu bleiben, müssen Unternehmen bereit sein, ihr Angebot an die aktuelle Lage anzupassen. Mit angemessenen Gehältern, guten Karrieremöglichkeiten und Zusatzleistungen. Für KE Kelit in Linz, wo Rohrsysteme für Trinkwasserinstallation, Heiz- und Kühlanlagen, Industrie und Fernwärme produziert und weltweit vertrieben werden, ist das keine neue Erkenntnis. „Es gab immer schon Prämien, gemeinsame Feste, Incentivereisen, Weiterbildungsmöglichkeiten, Budgets für Abteilungsessen und Betriebsausflüge und Seminare. Wir haben das in den vergangenen Jahren weiter ausgebaut“, sagt Arbeiterbetriebsrat Gernot Albel. So gibt es zum Beispiel für alle Mitarbeiter:innen mit regelmäßigen Nachtschichten eine zusätzliche Urlaubswoche pro Jahr.

Dieser Einsatz für die Belegschaft zahlt sich aus: „Viele arbeiten bis zur Pensionierung bei uns. Und manche stehen uns sogar danach als Konsulenten weiter zur Verfügung und geben ihr Wissen an die jüngere Generation weiter.“ Zufriedene Mitarbeiter:innen sind auch in der Personalsuche eine wichtige Unterstützung. Und die wird man brauchen. Denn, so Albel, „es ist ein Faktum, dass mit der Pensionierung der Baby-Boomer-Generation weniger Menschen am Arbeitsmarkt sind.“ Betriebe stehen heute schon im Wettbewerb um engagierte und gut qualifizierte Mitarbeiter:innen und müssen sich an veränderte Wünsche anpassen. Wer innovativ ist, gute Ideen hat und diese glaubwürdig und konsequent umsetzt, wird vorne sein. Mit den Rezepten der 60er-Jahre bekommt man keine zufriedenen und damit engagierten Mitarbeiter mehr.

Palette an Benefits lockt Fackräfte an

Auch beim Luft- und Raumfahrtzulieferer FACC in Ried im Innkreis weiß man das längst. Die Palette der Benefits reicht vom Betriebskindergarten über Zusatzversicherungen, betriebliches Gesundheitsprogramm und flexible Arbeitszeiten bis zu Studienunterstützungen. Erst kürzlich wurde ein besonders Goodie für Lehrlinge eingeführt. Sie bekommen zwei Wochen zusätzlichen Urlaub pro Jahr. „Das ist einerseits eine Angleichung an die Sommerferien, wie ihn auch Schüler:innen haben. Andererseits möchten wir damit die hohen Leistungen unserer Lehrlinge wertschätzen und ihnen mehr Zeit für Erholung und die Zeit mit Freunden schenken“, erklärt FACC-CEO Robert Machtlinger.

Er hat seine Karriere selbst als Lehrling begonnen. Außerdem gibt es die Möglichkeit, während der Lehrzeit die Matura zu machen. Das soll den Stellenwert dieser Ausbildungsform generell heben. „Unsere Lehrlinge haben bei entsprechendem Interesse in der Vergangenheit rasante Karrieresprünge gemacht“, weiß Lehrlingsausbildner Helmut Winkler: „Wir tun unser Möglichstes, um sie bei dieser Entwicklung zu unterstützen.“

Die große Lehrabschluss-Leere

Fragt man die Betriebe, bei welchen Qualifikationen die Besetzung offener Stellen besonders schwierig ist, liegen Lehrabschlüsse mit 58,3 Prozent mit großem Abstand in Führung. Bei einer 2022 durchgeführten WKO-Befragung meinte aber lediglich ein Viertel der Wirtschaftstreibenden, dass mehr Lehrlingsausbildung eine geeignete Strategie sei, um dieses Problem zu lösen. Da wundert es nicht, dass die Betriebe immer weniger in die Ausbildung von Lehrlingen investieren. Oder in die Weiterbildung ihrer Beschäftigten.

Eine aktuelle Untersuchung der Arbeiterkammer zeigt, dass der Anteil der Unternehmen an den Schulungskosten zwischen 2009 und 2018 von 41 auf 31 Prozent gesunken ist. In Deutschland liegt die Quote dagegen bei 44 Prozent. Und auch in Schweden (39 Prozent) und Finnland (37 Prozent) leisten die Betriebe einen höheren Beitrag. Ein sinkendes Engagement für betriebliche Weiterbildung in Österreich lässt sich auch aus der Europäischen Arbeitskräfteerhebung, die zuletzt 2015 durchgeführt wurde, ablesen. Im Jahr 2005 waren „nur“ 22,9 Prozent der Betriebe in Sachen Weiterbildung untätig. Im Jahr 2015 lag die Quote schon bei 50 Prozent.

Ilkim Erdost erklärt, dass fehlende Aus- und Weiterbildung den Fachkräftemangel in Österreich verschärft.
„Unternehmen sind immer weniger bereit, in die Qualifikation ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu investieren“, konstatiert Ilkim Erdost, Bereichsleiterin Bildung in der AK Wien.

Skillskosten aus der eigenen Tasche

Dafür greifen die Arbeitnehmer:innen immer tiefer in die Tasche. Ihr Anteil an den Weiterbildungskosten ist im Untersuchungszeitraum von 29 auf 42 Prozent gestiegen. Ein klares Indiz dafür, dass es nicht an der Bereitschaft neue Skills zu erwerben fehlt. Aber auch dafür, dass berufliche Qualifizierung immer mehr zur Privatsache wird. Und das besonders für jene, die ohnehin schon knapp bei Kasse sind. Laut AK-Studie bekommt nur knapp ein Drittel der Beschäftigten, die höchstens einen Pflichtschulabschluss haben, von ihren Arbeitgebern Schulungen. Bei jenen, die einen Hochschulabschluss vorweisen können, sind es fast drei Viertel.

„Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Während der Bedarf nicht zuletzt durch die Digitalisierung und den ökologischen Umbau steigt und die Weiterbildungsbereitschaft der Beschäftigten so hoch ist wie noch nie, sind Unternehmen immer weniger bereit, in die Qualifikation ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu investieren. Der chronische Fachkräftemangel, den manche Branchen regelmäßig beklagen, ist oft hausgemacht“, konstatiert Ilkim Erdost. Sie ist Bereichsleiterin Bildung in der AK Wien.

Fachkräftemangel in Österreich mit Weiterbildung bekämpfen

Dass Arbeitnehmer:innen und Wirtschaft ohne Weiterbildung nicht auskommen werden, ist auch für Franz-Josef Lackinger, Geschäftsführer BFI Wien, ein Fakt. „Für immer mehr Jobs braucht es zumindest ein Verständnis für die Logik vom Programmieren. Lagerlogistiker ohne Ahnung von Automatisierungsprozessen wird es kaum noch geben. Und wer seine Produkte bewerben möchte, muss in Sachen Social Media mehr können als Liken oder Linksrechts- Wischen. Was aber nicht außer Acht gelassen werden darf ist, dass viele ganz normale Qualifikationen in den körpernahen Dienstleistungen, im Handwerk und Gewerbe nicht wegrationalisiert werden können. Daher bringen Ausbildungen in diesem Bereich sehr gute Chancen am Arbeitsmarkt mit sich.“

Und er spricht noch ein Thema an, das bisher oft zu kurz gekommen ist. „Für die Ausbildung der Fachkräfte von morgen werden gut ausgebildete Trainerinnen und Trainer benötigt. Und die fallen genauso wenig vom Himmel wie die Fachkräfte. Wir haben aktuell konstant über 50 offene Stellen ausgeschrieben. Von der Mechatroniktrainerin bis hin zum Deutschpädagogen, um die Geflüchteten rasch beim Spracherwerb zu unterstützen. Und der Wettbewerb um geeignetes Lehrpersonal ist aktuell so intensiv, wie schon lange nicht mehr.“

Drei Infos zum AK-Masterplan

Weiterbildung mit Mehr-Wert der AK-Masterplan

Es fehlt – mit einigen Ausnahmen – nicht an Fachkräften und schon gar nicht an der Bereitschaft der Arbeitskräfte, ihr berufliches Know-how laufend zu erweitern, sondern an besseren Rahmenbedingungen, um Weiterbildung für möglichst viele zugänglich und leistbar zu machen.

1 / Neues Fonds-Modell

Ein Booster für die Weiterbildung: Die AK fordert die Schaffung eines Weiterbildungsfonds, in den alle Arbeitgeber:innen einzahlen. Bei 0,2 Prozent der Jahres-Bruttolohnsumme ergibt das 220 Millionen Euro pro Jahr. Arbeitnehmer:innen sollen aus diesem Topf 500 Euro pro Jahr für Fortbildungsmaßnahmen erhalten. Bis zu 440.000 Arbeitnehmer:innen profitieren davon.

2 / Recht auf Weiterbildung

Alle Arbeitnehmer:innen sollen Anspruch auf eine Woche Weiterbildung pro Jahr bekommen. In der Arbeitszeit! Damit setzte Österreich endlich die Resolution der Internationalen Arbeitsorganisation ILO aus dem Jahr 1974 für eine bezahlte Bildungsfreistellung um!

3 / Qualifizierungsgeld

Alle Arbeitnehmer:innen über 25 Jahren sollen das Recht auf monatlich 1.500 Euro für insgesamt drei Jahre Aus- und Weiterbildung im Lauf von 15 Jahren bekommen. Finanziert wird das Qualifizierungsgeld aus dem Budget der Bundesregierung. Insbesondere Menschen mit niedrigen und mittleren Qualifikationen sollen davon profitieren.

Eine Übersicht über die Arbeitslosigkeit und den Fachkräftemangel in Österreich gibt es hier.

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