Wohlstandsbericht: Zukunft ist veränderbar

© Markus Zahradnik
Wie misst man Wohlstand? Während für viele Ökonom:innen noch immer die Wirtschaftsleistung einer Bevölkerung in einem Jahr zählt, legt die Arbeiterkammer Wien heuer nun schon zum fünften Mal den Wohlstandsbericht vor. Nur wenig ist besser, das meiste hat sich verschlechtert.
Wie geht es Österreich? Und wie geht es den Menschen in unserem Land? Gut, könnte man sagen. Weil die Wirtschaftsleistung, die in Form des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gemessen wird, vergangenes Jahr bei 403,4 Milliarden Euro lag und laut Prognosen weiter steigt. Sie ist damit so hoch wie noch nie in unserer jüngeren Geschichte. Pro Kopf hat jede Österreicherin und jeder Österreicher im vergangenen Jahr 45.043 Euro erwirtschaftet. Aber was sagen diese Zahlen aus? Wie viel die Menschen in Österreich verdient haben? Nein. Oder wie es den Menschen jetzt nach Corona und mitten in der größten Teuerungswelle seit 40 Jahren geht? Wie arm oder reich sie sind? Wie hoch ihr Wohlstand oder ihre Verschuldung ist? Das BIP ist für all diese Dinge nur bedingt anwendbar, wenngleich es indirekt durchaus auch Bereiche erfasst, die das Leben lebenswert machen. Der Wohlstandsbericht ist präziser.

Wohlstandsbericht statt BIP: Vorstoß des Statistikers

2012 machte in Österreich Konrad Pesendorfer einen bemerkenswerten Vorstoß. Der Geschäftsführer der Statistik Austria von 2010 bis 2019 geht einen wichtigen Schritt weiter. Er greift die Anregung der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz, Amartya Sen und Jean-Paul Fitoussi auf. Mit seinem Projekt „Wie geht’s Österreich“ liefert er mehr als nur die Zahl, die bis dato in Österreich im wirtschaftspolitischen Mittelpunkt stand. Damit zeichnet er vielmehr „ein umfassenderes Bild von Fortschritt und Wohlstand unserer Gesellschaft“, wie er im November 2014 in einem Online-Chat auf derstandard.at schreibt. Er stellt dem Bruttoinlandsprodukt 30 Indikatoren zur Seite, die ein besseres Bild des Wohlstands in Österreich geben sollen.  „Weil der Fokus auf das Wirtschaftswachstum in jedem Fall zu kurz greift“. Pesendorfer hat „einen Anstoß zu einer über das BIP hinausreichenden nationalen Debatte über die Entwicklung und den Fortschritt der österreichischen Gesellschaft“ gegeben.

Pesendorfers Nachfolger Tobias Thomas, dem ein guter Draht zu Sebastian Kurz nachgesagt wurde, hat das Projekt „Wie geht’s Österreich“ 2021 zum letzten Mal präsentiert und es mit dem Relaunch der Homepage der Statistik Austria nun still und leise begraben.

Die Vergangenheit abbilden

Internationale Organisationen wie die OECD oder die europäische Statistikbehörde Eurostat machten hingegen weiter. Sie haben in den vergangenen Jahren Berichte präsentiert, die ebenfalls mehr als nur das BIP zum Inhalt haben: Der Better Life Index der OECD will – wie es auf der Startseite der Organisation heißt – „einen länderübergreifenden Vergleich des Wohlstands auf der Grundlage von elf Themen“ ermöglichen, „die die OECD in den Bereichen materielle Lebensbedingungen und Lebensqualität als wesentlich eingestuft hat“. Georg Feigl, Experte der Arbeiterkammer Wien: „Wenngleich der Bericht wertvolle Erkenntnisse liefert, so steht der Vergleich mit anderen Ländern zu sehr im Mittelpunkt. Dabei ist die eigentlich entscheidende Frage, ob gesellschaftlicher Fortschritt stattfindet oder nicht – und darauf gibt die OECD kaum eine Antwort.“ Und der Bericht sagt nichts über den tatsächlichen Wohlstand in Österreich aus. Besser ist der jährliche Bericht von Eurostat, mit dem die Behörde die SDGs, die globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung, untersucht und illustriert.

Das Bruttoinlandsprodukt misst alles,
außer dem, was das Leben lebenswert macht. 

Robert Kennedy, 1968

Doch diese Untersuchungen und Berichte haben eines gemeinsam: „Sie bilden die Vergangenheit ab“, wie Tamara Premrov von der Arbeiterkammer Wien im Gespräch mit Arbeit&Wirtschaft sagt. „Was es jedoch braucht, um Wohlstand noch besser abzubilden, ist der Blick in die Zukunft.“

Der Wohlstandsbericht der AK

Genau das macht der Wohlstandsbericht der Arbeiterkammer (AK) Wien. „Er bezieht neben der Vergangenheit auch die Zukunft mit ein. Denn wir haben gesellschaftliche Ziele und die messen wir“, sagt Georg Feigl, einer von 36 Studienautoren. Er begründet das damit, dass „auch die Zukunft für die Wohlstandsmessung relevant ist. Denn die Vergangenheit können wir nicht mehr verändern, aber dafür die Zukunft“, argumentiert er, zum Beispiel indem die Strompreisbildung reformiert wird oder die Bundesregierung eine Mietpreisbremse beschließt. Natürlich auch, indem neben diesen und weiteren kostendämpfenden Maßnahmen Beschäftigte faire Lohnerhöhungen bekommen und „wir einen armutsfesten Sozialstaat haben“, wie AK-Präsidentin Renate Anderl in ihrem Vorwort zum Wohlstandsbericht betont.

Daher fokussiert der jüngste Wohlstandsbericht, der am 5. Oktober 2022 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, neben der Entwicklung der vergangenen drei Jahre auch das laufende und kommende Jahr und umfasst die Jahre 2018 bis 2023. Für den Wohlstandsbericht werden die fünf Ziele Vollbeschäftigung und gute Arbeit, fair verteilter ökonomischer Wohlstand, Lebensqualität, intakte Umwelt und ökonomische Stabilität beleuchtet. In Summe untersuchen die AK-Ökonom:innen die Entwicklung von 30 Teilzielen, also von den steigenden real verfügbaren Einkommen bis hin zur Preisstabilität.

Die Teuerung trifft einkommensschwache Haushalte stärker; diese haben aber oftmals nicht genug Erspartes, um die Preissteigerungen abzufedern.
Die Vermögenskonzentration spitzt sich zu. 

Silvia Hruška-Frank, AK-Direktorin

„Das Ziel einer Angleichung der Gehälter von Frauen und Männern aus heutiger Sicht werden wir erst 2070 erreichen, sofern sich der Abstand jährlich nur um 0,4 Prozent verringert“, so Tamara Premrov, AK Wien.

Die Vermögenskonzentration spitzt sich zu

Die jüngste Einschätzung der Expert:innen der Arbeiterkammer verheißt nichts Gutes. Im Rahmen einer Pressekonferenz anlässlich der Präsentation des Wohlstandsberichts 2022 sagte AK-Direktorin Silvia Hruška-Frank: „Energiekrise und Teuerung verschärfen die Vermögensungleichheit in Österreich. Die Teuerung trifft einkommensschwache Haushalte stärker; diese haben aber oftmals nicht genug Erspartes, um die Preissteigerungen abzufedern. Die Vermögenskonzentration spitzt sich zu.“ Fünf Prozent der Menschen besitzen laut Hruška-Frank 55 Prozent des gesamten Vermögens in Österreich, die Bevölkerungshälfte am unteren Ende der Einkommensverteilung besitzt hingegen nur drei Prozent. Hruška-Frank befürchtet durch die anhaltende Teuerung „Wohlstandsverluste. Das ist die objektiv messbare Verarmung der Bevölkerung durch die nachlassende Kaufkraft. Weitere Ursachen neben der Teuerung sind auch sinkende Reallöhne“ sowie die Verknappung und starke Verteuerung von Gütern wie Gas.

Der Wohlstandsbericht der Arbeiterkammer Wien bezieht neben
der Vergangenheit auch die Zukunft mit ein. Denn wir haben gesellschaftliche Ziele, und die messen wir. 

Georg Feigl, AK Wien

Wohlstandsrückgang im Detail

Im aktuellen Wohlstandsbericht wird der Rückgang des Wohlstands in Österreich durch die Teuerung besonders deutlich. Heuer wurden nur fünf der insgesamt 30 Indikatoren als positiv bewertet, vergangenes Jahr waren es noch zehn. „Zusammengefasst sehen wir mehr Rückschritte als Fortschritte“, sagt Hruška-Frank lapidar, „und dass wir in den kommenden Monaten auf Wohlstandsverluste zusteuern.“

Tobias Schweitzer, Bereichsleiter Wirtschaft in der AK Wien, erwartet, dass die ohnehin schon sehr hohe Vermögenskonzentration weiter zunehmen wird. Besonders einkommensschwache Haushalte leiden heftiger unter den „stark gestiegenen Preisen und Energiekosten“, wie der Ökonom ausführt. Er rechnet damit, dass viele Betroffene aufgrund der Teuerung ihr kaum vorhandenes Vermögen abbauen werden oder sich sogar verschulden, wodurch eine Zunahme der Armut in Österreich befürchtet wird.

Die AK-Spezialisten erwarten zwar, dass die anstehenden Kollektivvertragsabschlüsse einen Großteil der negativen Effekte der Teuerung auf die Haushaltseinkommen abfedern werden, die Schwächung der Wirtschaftsleistung wirkt sich aber weiterhin indirekt negativ aus, so Schweitzer. Denn durch die Inflation steigt der Druck auf Notenbanken, die Zinsen weiter anzuheben, was die Investitionstätigkeit und die Finanzmärkte belasten wird. Auch das drückt auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Die wirtschaftliche Schwächung und Verunsicherung werden dann wieder vor allem den Arbeitsmarkt und die Einkommen belasten. Er erwartet auch, dass sich die Verteilungskämpfe in den nächsten Monaten zuspitzen werden.

Generell sieht die AK-Wohlstandsspezialistin Premrov kaum Fortschritte bei der Einkommensverteilung zwischen Frauen und Männern, dem sogenannten Gender-Pay-Gap: „Der Trend geht zwar in die richtige Richtung. Allerdings so langsam, dass wir das Ziel einer Angleichung der Gehälter von Frauen und Männern aus heutiger Sicht erst 2070 erreichen, sofern sich der Abstand jährlich nur um 0,4 Prozentpunkte verringert.“

Das Vermächtnis der Babyboomer

Positiver beurteilt Schweitzer die Entwicklung der Beschäftigungssituation in Österreich. Sie hat sich besser entwickelt, als angenommen worden war; „gleichzeitig wird die Teuerung das Erreichen des Ziels ‚Vollbeschäftigung‘ erschweren“, wie Schweitzer sagt. Der demographische Trend der anstehenden Pensionierungswelle helfe, dass die Unterbeschäftigung in der Gesellschaft sinkt. Schweitzer rechnet, dass dies vor allem jenen Gruppen zugutekommen wird, die Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche haben, wie etwa Frauen oder Migrant:innen. Keine Verbesserungen sieht der Wohlstandsbericht bei der Verteilung der unbezahlten Arbeit. Nach wie vor leisten vor allem Frauen den Großteil der unbezahlten Pflegearbeit, also der Kinderbetreuung und Pflege von Senior:innen.

An oberster Stelle fordert der Leiter der AK Wirtschaftspolitik „die Besteuerung von Übergewinnen im Energiesektor“. Gemeinsam mit dem Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) hat die AK ein Modell ausgearbeitet: Von den geschätzten Übergewinnen in Höhe von bis zu fünf Milliarden Euro sollen ein bis 1,5 Milliarden Euro für Investitionen in erneuerbare Energieträger investiert werden. Weitere 1,5 bis 2,2 Milliarden Euro sollen zur Finanzierung von Anti-Teuerungsmaßnahmen verwendet werden. Schweitzer: „Es kann nicht sein, dass die einen in die Armut abrutschen, während die anderen scheffeln.“ Das Modell biete zudem einen Anreiz für Unternehmen, in erneuerbare Energie zu investieren, da diese Investitionen von der Steuer abgezogen werden können.

Den Mietpreiswahnsinn beenden

Eine zweite AK-Forderung betrifft die Mieten: Die Preissteigerungen bei Mieten sind aktuell mehrmals pro Jahr möglich; bei Löhnen und Gehältern ist das allerdings nicht der Fall. AK-Direktorin Hruška-Frank: „Man muss sich die Frage stellen, inwiefern eine Weitergabe der Inflation an die Mieter gerechtfertigt ist.“ Daher sollen Mieterhöhungen mit maximal zwei Prozent pro Jahr gedeckelt werden. Sie fordert zudem die Abschaffung befristeter Mietverträge von Immobilienkonzernen, Versicherungen sowie Großvermieter:innen. Weiters brauche es laut der AK-Direktorin mehr Anstrengungen bei der Lehrlingsausbildung im Bereich der Energiewende. Das ist auch dringend nötig.

Woher kommt das BIP?

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bildet die gesamte Wirtschaftskraft eines Landes in einer einzigen Zahl ab. Im 17. Jahrhundert trug der Engländer William Petty (1623–1687) Zahlen zusammen, die den „Wert der Ländereien, der Menschen, der Gebäude“ eines jeden Landes erfassen sollten. Besonders interessierte er sich für Großbritannien, Frankreich und Holland. Petty versuchte nachzuweisen, dass England es aufgrund seiner Ressourcen in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht mit Frankreich und Holland aufnehmen konnte. Pettys Arithmetik gilt als der wichtigste historische Vorläufer des BIP. Seine Zahlen waren allerdings größtenteils erfunden.

Bis 1929 gab es Versuche, das Nationaleinkommen einzelner Staaten zu berechnen – ohne großen Erfolg. In der Weltwirtschaftskrise 1929 änderte sich das. Der britische Chemiker Colin Clark (1905–1989) war frustriert darüber, wie Ökonomen die Krise zu lösen versuchten – nämlich ohne volkswirtschaftliche Daten. Also schlug Clark 1932 erstmals vor, sich statistisch aus drei unterschiedlichen Perspektiven der Wirtschaft zu nähern. Er wollte wissen, wie viel in einer Volkswirtschaft produziert wird, wie viel konsumiert wird und wie Einkommen verteilt sind. So schuf er viele Grundlagen der BIP-Berechnung.

Fast zeitgleich beauftragte der US-Senat den Ökonomen Simon Kuznets, ein quantitatives Bild der Wirtschaftskrise zu ermitteln. Seine erste Berechnung der Wirtschaftsleistung der USA in den Jahren 1929–1932 zeigte, dass das Volkseinkommen der USA infolge der Weltwirtschaftskrise um die Hälfte eingebrochen war. Diese Analyse brachte dem Forscher in den 1970er-Jahren den Wirtschaftsnobelpreis ein. Auf Kuznets’ Zahlen fußte US-Präsident Franklin D. Roosevelts „New Deal“. 1942 wurde das Bruttosozialprodukt, wie wir es heute kennen, erstmals in den USA öffentlich erwähnt. Es diente den Vereinigten Staaten zur Rüstungsplanung im Zweiten Weltkrieg.

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