Interview: Menschen mit Behinderungen sind in der Politik unterrepräsentiert

Silke Haider ist ehemalige SPÖ-Politikerin und sitzt im Rollstuhl. Im Interview spricht sie über Menschen mit Behinderungen in der Politik.
Silke Haider erklärt im Interview, warum es für Menschen mit Behinderungen so schwer ist, in die Politik zu kommen. | © Silke Haider
Silke Haider sitzt im Rollstuhl. Viele Jahre war sie in der Politik aktiv. Sie weiß, warum es für Menschen mit Behinderung nicht leicht ist, in die Politik zu kommen.
In der hiesigen Politik sind Menschen mit Behinderungen kaum präsent – und das merkt man. Früher gab es Theresia Haidlmayr von den Grünen oder Franz-Joseph Huainigg von der ÖVP. Sie haben die Interessen von Menschen mit Behinderungen auf die Tagesordnung der Politik gebracht. Heute fehlt es an diesen treibenden Kräften in prominenten politischen Ämtern. Silke Haider erklärt im Interview mit Arbeit&Wirtschaft, warum das ein Problem ist und welche Lösungen es gibt. Vor allem eines mahnt sie an: Geduld. Bei diesem Thema müssen – trotz breitem politischem Konsens – dicke Bretter gebohrt werden.

Kurzbiografie Silke Haider
Bis zum Jahr 2020 war Silke Haider ein aktives Mitglied der SPÖ und kandidierte sogar für den Nationalrat. Bis Juni 2016 war sie Gemeinderätin in Schwertberg und stellvertretende Landesvorsitzende der Jungen Generation in der SPÖ Oberösterreich. Aus der aktiven Politik hat sie sich allerdings zurückgezogen. Jetzt arbeitet sie als HR-Spezialistin und Expertin für Fragen rund um das Thema Menschen mit Behinderung.
Arbeit&Wirtschaft: Sind Menschen mit Behinderungen in der österreichischen Politik angemessen repräsentiert?

Silke Haider: Nein. Diese Gruppe ist in der Politik unterrepräsentiert. Im regionalen Bereich, das heißt Gemeinderat oder Ortsgruppen, bessert sich die Situation allerdings gerade. Da stoßen immer Menschen dazu, die selbst eine Art der Beeinträchtigung haben. Aber einen Platz zu kriegen, der auch eine gewisse öffentliche Wahrnehmung hat, im National- oder Landrat, das ist sehr, sehr schwer.

Werden Ihre Anliegen also nicht weitergetragen?

Es ist so, dass Menschen mit Behinderungen, meiner Ansicht nach, keine anderen Anliegen haben als Mensch ohne Behinderungen. Deswegen mag ich auch die Formulierung der ‚besonderen Bedürfnisse‘ nicht. Wir haben keine ‚besonderen Bedürfnisse‘. Was bei uns dazukommt, ist, dass die Umgebung barrierefrei sein soll. Sowohl ich als Rollstuhlfahrerin als auch ein blinder Mensch, der an Informationen kommen muss. Wenn Parteien dann ihr Programm schreiben, es aber für Menschen mit Sehbehinderungen nicht zugänglich machen, wie soll ich diese Menschen denn dann ansprechen? Sowohl als Wähler, als auch als aktives Mitglied. Da haben wir definitiv ein Problem in Österreich.

Dabei gab es Menschen mit Behinderungen, die schon in hohen politischen Ämtern vertreten waren.

Es hat diese Leuchtturmmenschen gegeben. Theresia Haidlmayr von den Grünen oder Franz-Joseph Huainigg von der ÖVP. Dazu kommt das Thema, dass wir lange Zeit keinen Behindertenanwalt oder Anwältin gehabt haben, die selbst betroffen gewesen wäre. Das ist jetzt zum Glück anders.

Wie groß war deren Einfluss?

Frau Haidlmayr und der Herr Huainigg haben vieles im Bereich Barrierefreiheit weitergebracht. Herr Schäuble aus Deutschland eher weniger, obgleich er ein betroffener Politiker war. Nur, weil man im Rollstuhl sitzt, muss man sich nicht für das Thema starkmachen. Auch, wenn es natürlich wünschenswert gewesen wäre. Dafür gibt es in Deutschland andere Stimmen – Raul Krauthausen etwa. Der ist zwar nicht politisch aktiv, setzt als Aktivist aber viele Themen.

Dennoch scheint es beim Thema ‚Menschen mit Behinderungen‘ in Österreich einen parteiübergreifenden Konsens zu geben.

Der Konsens ist dadurch entstanden, dass uns die Behindertenrechtskonvention mit erhobenem Zeigefinger ermahnt hat, endlich etwas zu tun. Je nachdem, welche Partei gerade in der Regierung ist, ist es dann deren Aufgabe, den entsprechenden Aktionsplan zu erfüllen – und da hinken wir hinterher. Wir haben die Behindertenrechtskonvention ratifiziert, aber wir setzen sie nicht um. Gerade, was das Schulsystem betrifft. Das Schulsystem ist noch lange nicht inklusiv. Aber es gelingt uns immerhin, glaube ich, das Thema Menschen mit Behinderungen nicht zu sehr zu politisieren. Anders als beispielsweise die Migrationspolitik, die sehr kontrovers diskutiert und gehetzt wird.

Wirkt sich dieser Konsens auf die Realpolitik aus?

Man sieht ihn im Abstimmungsverhalten, wenn es um Änderungen geht. Ein Thema ist beispielsweise die jährliche Anpassung des Pflegegelds an die Inflation. Da findet sich schnell ein Konsens. Und das Thema polarisiert nicht. Menschen mit Behinderungen werden, ich sage es salopp, nicht in den Dreck gezogen.

Wenn sich die Politik einig ist, aber trotzdem gegen die Behindertenrechtskonvention verstößt, scheint das Thema keine hohe Priorität zu genießen.

Ich glaube, das liegt daran, dass wir im DACH-Raum einen falschen Zugang zu dem Thema haben. Wir glauben, dass alles, was Menschen mit Behinderungen betrifft, nur diese kleine Gruppe betrifft. Aber erstens ist die Gruppe mit 1,3 Millionen Menschen gar nicht so klein und zweitens betrachten wir das Thema nicht breit genug. Wenn die Städte barrierefreier sind, dann ist es auch ein Vorteil für Eltern mit Kindern, ältere Menschen oder diejenigen mit temporärer Beeinträchtigung, weil sich die Person ein Bein gebrochen hat. Eine Grazer Architektin sagte einmal, ‚Barrierefreiheit ist für mich ein Muss und für die anderen ein Plus.‘ Einfach durch den Komfortgewinn.

Wie schafft man es, dass das Thema eine höhere Priorität bekommt?

Vor zwei Wochen habe ich einen Rundgang in einem Stadtviertel in Linz gemacht. Mit einem Verein, der mich angesprochen und gefragt hatte, wie das Viertel für Rollstuhlfahrer aussieht. Ich habe diesen Rundgang gemacht und es hat keine 48 Stunden gedauert, da habe eine Rückmeldung aus dem Gemeinderat von Linz bekommen, der sich gefragt hat, warum ich nicht mit ihm rede. Ich habe geantwortet: ‚Weil mehr darüber nachdenken, wenn es in der Zeitung steht.‘

Gerade städtebaulich muss man viel Geduld mitbringen.

Wenn ich mir den öffentlichen Verkehr in Linz anschaue, muss ich sagen, dass wir super Niederflurfahrzeuge haben. Aber die Haltestellen passen nicht. Aber es kommen Schritt für Schritt passende hinzu. Keine Stadt schafft es, innerhalb von einem Jahr alle Haltestellen zu adaptieren. Das geht schon rein finanziell nicht. Diese Zusammenhänge muss man lernen. Ich bin beispielsweise seit fünf Jahren in der Personalabteilung meiner Firma. Und jetzt kriegen wir automatische Türen. Warum? Weil wir das Büro umbauen und sich so eine Möglichkeit aufgetan hat. So ist das überall. Man muss Geduld haben und Aufklärungsarbeit leisten.

Gilt das auch für Unternehmen?

Ja, das ist auf dem Arbeitsmarkt auch so. Aktuell sind die Arbeitslosenzahlen nicht hoch. Aber schaut man sich die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderungen an, sieht man ein ganz anderes Bild. Und das liegt auch an der Unwissenheit von Unternehmen. Vor ein paar Jahren hat sich der besondere Kündigungsschutz geändert. Viele Unternehmen glauben, dass sie einen Menschen mit Behinderungen nie wieder loswerden. Der besondere Kündigungsschutz gilt jetzt aber erst nach vier Jahren und das wissen viele Unternehmen nicht.

Was würden Sie sich denn jetzt für die Politik noch wünschen, dass sich da wirklich mal nachhaltig in Österreich etwas verbessert?

Es müsste noch strengere Reglementierung geben von außen. Einerseits für die österreichische Regierung vonseiten der EU. Die müsste noch strenger darauf achten, dass die Regierung den nationalen Aktionsplan umsetzt und auch Sanktionen androhen. Andererseits muss man Unternehmerinnen und Unternehmer in die Pflicht nehmen. Wer aktuell die Einstellungspflicht nicht erfüllt, zahlt die Strafen aus der Portokasse. Das geht nicht. Denn gerade der Arbeitsmarkt ist ein wichtiges Instrument für Sichtbarkeit und Inklusion. Und wir müssen uns bewusst werden, dass unsere Gesellschaft immer älter und gebrechlicher wird und viele der Themen dann allgemeiner diskutiert und gelöst werden müssen.

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Über den/die Autor:in

Christian Domke Seidel

Christian Domke Seidel hat als Tageszeitungsjournalist in Bayern und Hessen begonnen, besuchte dann die bayerische Presseakademie und wurde Redakteur. In dieser Position arbeitete er in Österreich lange Zeit für die Autorevue, bevor er als freier Journalist und Chef vom Dienst für eine ganze Reihe von Publikationen in Österreich und Deutschland tätig wurde.

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