Frauen mit Behinderungen: Der Wille zur Sichtbarkeit

Bernadette Sacluti ist eine Frau mit Behinderung in der Arbeitswelt. Sie arbeitet im Buchverleih der Bibliothek der Universität.
Bernadette Sacluti kümmert sich um den Buchverleih in der Bibliothek der Universität für angewandte Kunst. Sie ist froh, ihre Behinderung nicht verstecken zu müssen. | © Markus Zahradnik
Wie finden Frauen mit Behinderungen ihren Weg in die Arbeitswelt? Mit einem Mix aus Empowerment, Qualifizierung und Unterstützung geht das.
Bernadette Sacluti reicht den Studierenden der Wiener Universität für angewandte Kunst einen Infozettel. Darauf steht: „Bitte langsam und deutlich sprechen – ich bin gehörlos.“ Sie stellt Bibliotheksausweise aus und kümmert sich um den Buchverleih. „Wenn es mal nicht klappt, schreiben sie mir ihre Anliegen auf, oder ich frage eine Kollegin“, erklärt Sacluti in Österreichischer Gebärdensprache (ÖGS). Stefanie Euler übersetzt das Gespräch. Sie arbeitet als Jobcoach beim Verein WITAF, der gehörlose Menschen unterstützt, sowie als ÖGS-Dolmetscherin. Sacluti, geboren 1984, ist seit ihrer Kindheit schwerhörig. Im Alter von 20 Jahren verlor sie ihr Gehör komplett. Spricht man langsam und deutlich, kann sie von den Lippen ablesen. „Ich bin froh, meine Behinderung nicht verstecken zu müssen“, sagt sie und erzählt von positiven Begegnungen mit Studierenden. Seit 2007 ist sie in der Universitätsbibliothek beschäftigt, zunächst nur im Büro, seit 2018 zusätzlich in der Bibliothek. Auf ihrem Berufsweg war sie mit einigen Vorurteilen konfrontiert. Dabei wollte die Absolventin einer Fachschule für Mode und Bekleidungstechnik nur einen Job finden, der zu ihr passt. Frauen mit Behinderung sind in der Arbeitswelt immer noch kaum sichtbar.

Frauen mit Behinderung in der Arbeitswelt: Mehrfach diskriminiert

Die Erwerbsquote von Frauen mit Behinderungen lag 2018 laut Statistik Austria bei begünstigt behinderten Frauen bei 61 Prozent. Bei begünstigt behinderten Männern lag sie um 10 Prozentpunkte höher. L&R Sozialforschung stellte in Studien zum Leben von Frauen mit Behinderungen fest, dass sie geringere Berufswahlmöglichkeiten haben und großteils Teilzeit, oft in Niedriglohnbereichen arbeiten oder keiner regulären Beschäftigung nachgehen können. „In Gesprächen mit Frauen mit verschiedenen Behinderungen zeigte sich, dass sich viele wegen der Behinderung diskriminiert fühlen und ihre Leistungen dadurch in den Hintergrund geraten“, sagt Claudia Sorger, eine der Leiterinnen des Sozialforschungsinstituts. Sie werden doppelt diskriminiert: wegen ihres Geschlechts und ihrer Behinderung. Dabei beginnt die Diskriminierung schon in den großteils nicht inklusiven Kindergärten und Schulen. Mädchen mit Behinderungen wird weniger zugetraut als Burschen, und auch stereotype Berufsbilder wirken – etwa, dass eine Rollstuhlnutzerin „nur“ im Büro arbeiten könne.

Nach Schulabschluss war Bernadette Sacluti lange auf Jobsuche, was ihr sehr zusetzte. Bei Equalizent, einem Schulungszentrum für gehörlose Menschen, machte sie dann den Computerführerschein und absolvierte Praktika. Auf sieben Monate befristet war sie in Vollzeit bei Wien Work, einem integrativen Betrieb, beschäftigt. Die kostenlose Arbeitsassistenz unterstützt Menschen bei der Jobsuche. 2007 wurde Sacluti ein Praktikum in der Universitätsbibliothek vermittelt. Ein WITAF-Jobcoach begleitete sie dabei. Jobcoaches unterstützen beim Erlernen von Tätigkeiten und Arbeitsabläufen. „Ich konnte mich beweisen und wurde übernommen“, erzählt sie stolz. Seit dem Umzug der Universität im Jahr 2018 ist sie räumlich näher bei den Kolleg:innen und hat seitdem mehr Aufgaben übernommen. Eine neue Chefin traute ihr den Dienst in der Bücherausgabe zu. Eine Arbeitskollegin und WITAF-Jobcoach Stefanie Euler schulten sie ein. Jobcoaches gehören wie Arbeitsassistenz zum Netzwerk für berufliche Assistenz, kurz NEBA. Bernadette Sacluti arbeitet nun im Büro und in der Bibliothek.

Vorurteilsfrei sichtbar

Frauen mit Behinderungen sichtbarer zu machen, ist ein Ziel der Interessenvertretung Frauen* mit Behinderungen (FmB). Gegründet wurde die FmB am 8. März 2023, dem internationalen Frauentag. Ihre Gründerinnen Heidemarie Egger, Julia Moser und Eva Maria Fink sind drei Frauen mit Behinderungen und Expertise in inklusiver Arbeit. Ihnen war wichtig, Frauen mit Behinderungen zu vernetzen und sich als Gemeinschaft zu verstehen. „So unterschiedlich wie die Lebensrealitäten sind schließlich auch die Benachteiligungen“, betont Egger. Sie lebt mit einer auf den ersten Blick nicht sichtbaren Behinderung, dem Marfan-Syndrom, einer seltenen Bindegewerbserkrankung. Andere haben eine sichtbare Behinderung und nutzen etwa einen Rollstuhl.

Menschen mit Behinderungen können auch mehrfach diskriminiert werden, etwa wegen ihres Geschlechts, der Herkunft oder der sexuellen Orientierung. Vorurteile und Stereotype zum Thema Behinderung fallen unter Ableismus. „Ich liebe diesen Begriff, denn er beschreibt strukturelle Missstände“, sagt Egger. Ableismus ist mehr als „Behindertenfeindlichkeit“, er umfasst auch Bemerkungen, die positiv gemeint sein können – etwa, wenn man Frauen mit Behinderungen überschwänglich dafür lobt, dass sie „trotz“ ihrer Behinderungen einkaufen oder arbeiten gehen.

Portrait von Heidemarie Egger von der Interessenvertretung Frauen* mit Behinderungen (FmB) im Gespräch über Frauen mit Behinderung in der Arbeitswelt.
Heidemarie Egger will Frauen mit Behinderungen auch in der Arbeitswelt sichtbarer machen. Daher hat sie 2023 die Interessenvertretung Frauen* mit Behinderungen (FmB) mitgegründet. | © Markus Zahradnik

Stille Reserve

Rund 80 Prozent der Frauen mit Behinderungen in Österreich arbeiteten laut European Disability Forum 2022 in Teilzeit. Bei Frauen ohne Behinderungen waren es 52 Prozent. „Die große goldene Vollzeit ist für viele Frauen unrealistisch. Sie müssen zusätzlich zur Arbeit die Behinderung managen und tragen meist – wie Frauen generell – den Großteil der Care-Arbeit“, sagt Heidemarie Egger. Mit einem Teilzeitgehalt lässt sich aber gerade in Niedriglohnbranchen kaum der Lebensunterhalt finanzieren, geschweige denn für die Pension vorsorgen. Egger plädiert daher für ein existenzsicherndes Teilzeitmodell.

Dieser Wunsch wurde auch in Studien der L&R Sozialforschung deutlich: „Viele Frauen betonten, wie wichtig ein höheres Einkommen wäre“, sagt Claudia Sorger. Seit 2023 veranstaltet sie mit Heidemarie Egger die Reihe „WIR – Wienerinnen mit Behinderungen“ im Auftrag des Frauenservice der Stadt Wien (MA 57). Dabei geht es um Themen wie „Gemeinsam gegen Gewalt“, „Barrierefreie Gesundheit“ oder „Gute Arbeit“. Heidemarie Egger wünscht sich, dass Frauen mit Behinderungen in Medien als Expertinnen sichtbarer werden, und verweist auf die Expertinnenliste des Österreichischen Behindertenrats.

Auf Dutzende Bewerbungen folgen keine Antworten oder Absagen. Das führt dazu, dass sich viele Menschen, auch Frauen mit Behinderungen, zurückziehen. Sie zählen zur „stillen Reserve“, sind also Teil jener Gruppe, die gerne arbeiten würde, aber wegen schlechter Erfahrungen nicht aktiv nach Arbeit sucht. „Diese Menschen verschwinden aus dem Blick der Arbeitsmarktpolitik“, sagt Gerlinde Hauer von der Abteilung Frauen und Familie der Arbeiterkammer Wien. Das sei eine gefährliche Entwicklung, denn Erwerbsarbeit ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe. Auch für Hauer ist das Bildungssystem Teil des Problems. „Wir haben zu wenig Integration ins Regelschulsystem.“ Dadurch komme es zu wenigen Begegnungen von Menschen mit und ohne Behinderungen, was sich auf dem Arbeitsmarkt fortsetze. Außerdem werde Behinderung noch immer zu stark defizitorientiert gesehen. „Stattdessen sollte erhoben werden, worin die Fähigkeiten eines Menschen bestehen und was es zur inklusiven Beschäftigung braucht“, betont Hauer.

https://twitter.com/AundWMagazin/status/1782732616648552622

Barrieren abbauen

2023 prüfte ein Fachausschuss der Vereinten Nationen, inwieweit Österreich die sogenannte Behindertenrechtskonvention umgesetzt hat. Dabei kritisierte er die mangelnde Gleichstellung von Frauen mit Behinderungen und forderte Österreich auf, mehr spezifische Angebote für Mädchen und Frauen zu schaffen. Auch die Bekämpfung von Mehrfachdiskriminierungen und der Einsatz für Gewaltschutz müssten stärker in den Fokus geraten. Außerdem, so ein Ergebnis der Staatenprüfung, fehlen Daten zur Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen, insbesondere von Frauen.

Die Regierung kündigte daraufhin in ihrem Nationalen Aktionsplan Behinderung 2022–2030 an, dass sich die Datenlage verbessern werde und es mehr inklusive Beratungs- und Weiterbildungsangebote für Frauen und Aufklärungskampagnen über das Potenzial von Frauen mit Behinderungen geben soll. Alle befragten Expertinnen fordern ein inklusives Kindergarten- und Schulsystem. Zudem brauche es einen bedarfsgerechten Zugang zu Unterstützungsleistungen, wie persönlicher Assistenz, sowie mehr Barrierefreiheit im Gesundheitsbereich. Denn nur in einer inklusiven Arbeitswelt steigen die Jobchancen von Menschen mit Behinderungen. Das zeigt auch das Beispiel von Bernadette Sacluti. Bei Fortbildungen und Besprechungen benötigt die 39-Jährige Unterstützung in Form von Dolmetschstunden, die vom Sozialministeriumservice bezahlt werden. Wenn neue Mitarbeiter:innen in der Universitätsbibliothek beginnen, organisiert ihre Chefin eine Sensibilisierungsschulung mit einer gehörlosen Mitarbeiterin von WITAF, um Berührungsängste abzubauen. Auch im Privaten hat sich die Wienerin einen Wunsch erfüllt, der lange undenkbar schien: Sie verreist allein.

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Über den/die Autor:in

Sandra Knopp und Udo Seelhofer

Sandra Knopp ist freie Journalistin für verschiedene Radio und Printmedien, und hat die Themen Arbeitsmarkt, Soziales und Gesellschaftspolitik als Schwerpunkte. Udo Seelhofer war früher Lehrer und arbeitet seit 2012 als freier Journalist. Seine Schwerpunkte sind Gesellschaft, soziale Themen und Religion. Im Team wurden sie beim Journalismuspreis „Von unten“ 2017 für ihre Arbeit&Wirtschaft Reportage „Im Schatten der Armut“ ausgezeichnet.

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