Ich meine, also bin ich

Eine Frau schreit während einer Demonstration in ein Megafon.
Das Recht auf die eigene Meinung ist einer Demokratie notwendig, doch keinesfalls selbstverständlich. | © Adobestock/Drazen
Denkwürdig: Walter Hämmerle, Chefredakteur der „Wiener Zeitung“, über das Recht auf eine eigene Meinung und andere Notwendigkeiten in einer zusehends unübersichtlichen Welt.
Keine Meinung zu haben ist ein Makel geworden in einer Welt, in der praktisch jede:r zu fast allem eine Meinung hat und haben will – jedenfalls so ungefähr und aus dem Bauch heraus.

Daran ist nichts falsch. Meinungsfreiheit ist ein hohes, sehr hohes Gut. Der Kampf darum, die eigene Meinung und Gedanken frei und laut sagen zu können, war lang und mitunter blutig. Als „un des droits les plus précieux de l’homme“ – auf Deutsch „eines der kostbarsten Rechte des Menschen“ – wird das Recht, die eigene Meinung und Gedanken frei zu äußern, in Artikel 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Revolution von 1789 bezeichnet. Noch heute gilt dieses Recht als ein wichtiger Maßstab für den Zustand eines liberalen demokratischen Rechtsstaates. Dieses Recht ist nie selbstverständlich, sondern muss immer wieder aufs Neue verteidigt und erkämpft werden. Es gibt schließlich tausendundeinen Grund, warum es irgendwem nicht passt, dass Menschen frei heraussagen können, was sie sich eigentlich denken.

Recht auf Meinung vs. Bauchgefühl

Mit Wahrheit, das ist mittlerweile ebenfalls wichtig festzuhalten, hat das Recht auf freie Meinungsäußerung nichts zu tun. Niemand soll jemandem den Mund verbieten dürfen, seine Gedanken und Überzeugungen öffentlich zu verkünden, weil diese irrig sind (außer, wenn diese Meinung gegen das Freiheitsrecht anderer verstößt). Wenn jemand unbedingt glauben möchte, dass die Erde eine Scheibe oder die Evolution eine Erfindung ist, soll er:sie das laut sagen können. Der:diejenige muss allerdings damit rechnen, dass falschen Behauptungen bzw. auch Unsinnigkeiten mit Widerspruch, mitunter auch heftigem, begegnet wird.

Trotzdem haben die allermeisten Menschen ein gesundes und intaktes Bauchgefühl dafür, was eher richtig und was eher falsch ist, was in ihrem Interesse ist und welche Maßnahmen sich gegen dieses richtet. Und dann gibt es da ja auch noch eine institutionalisierte Öffentlichkeit, zu denen neben den Wissenschaften unter anderem auch die Medien zählen. Deren Konflikte und Debatten sind dazu da, dass sich ein wissenschaftlicher wie gesellschaftlicher Konsens darüber entwickelt, was sich mit empirischen Tatsachen belegen lässt und was, nach dem jeweiligen Wissensstand als weitgehend durchgeknallt gelten darf.

Ein Stapel Zeitung.
Wirklichkeit oder Nonsens? In Medien entwickelt sich der gesellschaftliche Konsens. | © Adobestock/Orlando Bellini

Irrungen und Verwirrungen

An dieser Stelle ist ein kurzer Einschub in Sachen Mensch, Wissenschaft und Demut angebracht. Die jüngere Vergangenheit, insbesondere der Umgang mit der Pandemie, hat hier für einige Verwirrung gesorgt. Wissenschaftlichkeit, das wird oft vergessen oder verdrängt, ist ein strukturiertes Verfahren, das auf Wissenserwerb ausgerichtet ist. Erkenntnisse gelten dabei so lange als „wahr“, solange sie nicht empirisch widerlegt sind. Das ist ein recht junges Verfahren, keine 300 Jahre alt, weshalb die Geschichte der Menschheit eine der großen Irrungen und Verwirrungen ist. Die Menschheit hat, wie wir heute wissen, in den vergangenen Jahrtausenden schon den größten Unsinn unbedingt als richtig glauben wollen. Es gibt keine Sicherheit, dass wir nicht auch jetzt noch gravierenden Irrtümern aufsitzen. Einfach, weil wir es (noch?) nicht besser wissen (können oder wollen).

Wahrheiten auf Zeit

Wir reden also von Wahrheiten auf Zeit, von denen sehr viele sehr, sehr gut belegt sind, etwa was die Form der Erde und die Rolle der Evolution angeht. Andere dagegen sind noch weitgehend spekulativ, weil diesbezüglich noch wenig konkretes Wissen existiert. Die Folgen und die weitere Entwicklung eines neuen Virus sind ein Beispiel für Letzteres. Entscheidungen müssen trotzdem getroffen werden, so oder so, und in Zeiten großer Unsicherheit ist große Vorsicht nicht unbedingt der schlechteste Rat. Es war schließlich zu Beginn eine offene Frage, wie tödlich dieses neue Virus tatsächlich sein würde.

Etwas Gutes hatte die Pandemie trotzdem. Nämlich die Erkenntnis, dass es nicht „die“ Wissenschaft geben kann, sondern viele Perspektiven auf ein Problem und dass von unterschiedlichen Standpunkten aus betrachtet auch unterschiedliche beste Lösungen herauskommen können, die oft auch noch miteinander in Widerspruch stehen. Das war keine leichte Lektion, und Menschen, Politik, Wissenschaft und Medien mussten damit erst umgehen lernen. Und dies vor den Augen aller Bürger:innen. Das hat, so ehrlich müssen wir sein, für Störungen im Verhältnis zwischen manchen Regierten und ihren Regierenden und Eliten gesorgt, die bis heute nachhallen. Dass Menschen ihr Recht auf eine eigene Meinung nicht nur einfordern, sondern auch ausleben, ist eine historische Errungenschaft. Eine Gesellschaft zu organisieren wird dadurch zwar nicht einfacher, aber das ist ja auch nicht der Sinn der Sache. Demokratie hat nicht zum Ziel, den Politiker:innen das Regieren zu erleichtern. Es bringt aber auch wenig, allfällige Herausforderungen zu verschweigen.

Gebildet und schwierig

Ivan Krastev, der bulgarischstämmige und hellsichtige Europa-Deuter, und der britische Journalist und Autor David Goodhart haben die originelle These aufgestellt, dass Gesellschaften umso schwieriger zu regieren seien, je gebildeter ihre Bürger:innen sind. Weil gebildete Menschen ihre einmal geformten Überzeugungen, in die sie viel Zeit und Aufwand investiert haben, nicht einfach wieder aufgeben. Zudem sind sie eben felsenfest davon überzeugt, ein Recht auf ihre mit viel Mühe erworbene Meinung zu haben.

Das gilt wohl vor allem für weltanschauliche Fragen. Insbesondere vor dem Hintergrund eines grassierenden Vertrauensverlusts der Menschen in die Politik und etablierte Institutionen. Wer überzeugt ist, dass er:sie selbst recht und sein:ihr Gegenüber Unrecht hat, reagiert nicht unbedingt mit Toleranz für Andersdenkende und Andersseiende. Das führt zu einem Paradoxon. So sind es nicht selten die Bildungsschichten, die sich in gesellschaftspolitischen Fragen, die weniger von Tatsachen als von Werthaltungen geprägt sind, besonders intolerant verhalten.

Kompliziertes Menschenrecht

Es ist, Sie sehen es, alles sehr kompliziert. Eine eigene Meinung zu haben und laut sagen zu können, ist ein Menschenrecht. Umgekehrt muss sich keine:r an diese Meinung anderer halten. Jede:r kann dagegen argumentieren, selbst wenn das zu einem Schreien ausartet, sodass am Ende niemand mehr etwas verstehen kann (rein akustisch und mitunter auch inhaltlich). Das Wichtigste ist deshalb, dass in einer Gesellschaft die Menschen trotz aller Auffassungsunterschiede miteinander im Gespräch bleiben. Das gilt im Kleinen, in der Familie und im Dorf, wie im Großen, einem Staat oder Staatenbund, und auch im Globalen. Es existieren genug Herausforderungen, für die sich gemeinsame Lösungen finden müssen. Insbesondere, weil nicht irgendwelche Lösungen einer Seite gegen ihren Willen übergestülpt werden können.

An dieser Stelle kommen Medien ins Spiel. Die Autorität der ehemaligen Autoritäten wirkt nicht mehr, was im Übrigen nicht nur für Parteien und Regierungen negative Folgen hat, sondern auch für die sogenannten etablierten Medien. Keine:r verfügt mehr über die Macht, einfach zu behaupten: „Mir nach!“, und die große Mehrheit aller anderen trottet folgsam hinterher. Stattdessen muss der Konsens in jeder Gemeinschaft, sei sie nun sehr klein oder sehr groß, mühsam erarbeitet werden. Dies auch noch immer wieder aufs Neue.

Konsens gegen Kakophonie

Klassische Medien erfüllen in diesem Prozess die Rolle von Organisatoren und Mediatoren. Selbst dann, wenn sie über eine konkrete inhaltliche und/oder weltanschauliche Redaktionslinie verfügen. Indem sie Fragen aller Art aufgreifen, dabei möglichst viele repräsentative und relevante Perspektiven miteinbeziehen, deren Argumente präsentieren, selbst einordnen und mögliche Folgeabschätzungen skizzieren, schaffen sie überhaupt erst die Voraussetzung. Die Voraussetzung, dass möglichst viele Menschen zur gleichen Zeit über die gleichen Themen mit einem vergleichbaren Wissensstand sich austauschen. Ohne diese grundlegende Dienstleistung sind demokratische Entscheidungen in einer Massengesellschaft unmöglich. Die Alternative hieße eine Kakophonie der Meinungen und Überzeugungen ohne Aussicht auf Konsens.

Diese dienende und organisierende Aufgabe klassischer Medien ist in unserer unübersichtlichen Gegenwart mindestens so wichtig wie ihre Aufgabe als inhaltliche Orientierungsgeber. Eine Meinung hat schließlich jede:r schnell einmal. Aber das allein bringt uns als Gesellschaft noch nicht weiter.

Walter Hämmerle, geboren 1971, ist Chefredakteur der „Wiener Zeitung“.

Über den/die Autor:in

Walter Haemmerle

Walter Hämmerle leitet seit 2023 die innenpolitische Redaktion der Kleinen Zeitung und war zuvor Chefredakteur der Wiener Zeitung. Er ist außerdem Buchautor und schrieb beispielsweise "Der neue Kampf um Österreich" (2018) und "Die unreife Republik" (2023).

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