Ingrid Reischl und Tom Schmid im Interview: Was uns gehört!

Inhalt

  1. Seite 1 - Wenn Arbeitgeber:innen blocken
  2. Seite 2 - Warum Leistungen verlorengehen
  3. Seite 3 - Wie zum Schaden der Versicherten abgebaut wird
  4. Seite 4 - Warum Versicherte vors Arbeits- und Sozialgericht ziehen
  5. Seite 5 - Wie Menschen bei Schicksalsschlägen geholfen wird
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Was braucht eine gut funktionierende Selbstverwaltung, und wie nützt sie Arbeitnehmer:innen und Versicherten? ÖGB-Bundesgeschäftsführerin Ingrid Reischl und Sozialpolitikexperte Tom Schmid verdeutlichen, wie die Sozialversicherung wieder näher zu den Menschen rücken kann.

Arbeitet die Selbstverwaltung oft unbemerkt im Hintergrund?

Schmid: Ja! Das hat bis zur Abschaffung der Leistungsausschüsse gut funktioniert, weil die Versicherten über die Betriebe und dank ihrer Betriebsrät:innen mit ihren Anliegen immer rasch zu den zuständigen Versichertenvertreter:innen gefunden haben. Diese konkreten Fälle und leistungsrechtlichen Anliegen wurden in den Ausschüssen abgearbeitet. Von der Selbstverwaltung und den Beiräten haben die Betriebsrät:innen auch immer wichtige und aktuelle Informationen zu sozialpolitischen Entwicklungen bekommen.

Funktionär:innen sind eben jene Kräfte,
die ein System zum Funktionieren bringen.

Tom Schmid, Sozialwissenschafter

Selbstverwaltung ist Bürger:innenbeteiligung auf einem sehr hohen Niveau. Da geht es um soziale Daseinsvorsorge! Es müssen jene bestimmen, die nahe an den Bürger:innen sind und die Notwendigkeiten der Versorgung und guten Betreuung kennen. Nicht allein Mitarbeiter:innen aus Ministerien, die sich nur an Zahlen und Optimierungen orientieren können. Im Sozialbereich funktioniert das betriebswirtschaftliche Denken anders als auf dem Markt. Hier geht es um langfristige Investitionen in die Menschen, die sich dadurch bezahlt machen, dass beispielsweise Verunfallte durch eine aufwendige Rehabilitation wieder fit für eine geregelte Arbeit werden und ihr Leben besser bewältigen können oder Schwerkranke durch eine Invaliditätspension ihren Lebensstandard halten können und nicht in die Armut oder Obdachlosigkeit rutschen.

Genau dafür haben Generationen engagierter Gewerkschafter:innen dieses gute System der sozialen Absicherung aufgebaut und oft auch erkämpft. Das bedeutet, Einzelne nicht im Regen stehen zu lassen, wenn Schicksalsschläge sie aus der Bahn werfen, sondern sie durch gezielte und verlässliche Unterstützung wieder auf den Weg zu bringen – hin zu einem eigenständigen Leben. Diese gemeinsamen Solidarkassen sind der Gewerkschaftsbewegung seit ihren Anfängen im 17. Jahrhundert tief in ihre DNA eingeschrieben.

Ingrid Reischl im Porträt. Sie spricht über das Thema Selbstverwaltung.
Investitionen ins menschliche Kapital machen sich immer bezahlbar, sagt Ingrid Reischl. | © Markus Zahradnik

Reischl: Soziale Investitionen sind Investitionen in die Zukunft der Menschen, in ihre Unabhängigkeit und in ihre Teilhabe am Leben. Das kann man oft kurzfristig nicht in Geld messen, langfristig erhält man aber wieder aktive Mitglieder der Gesellschaft, die ins System einzahlen, anstatt Beiträge herauszunehmen.

Da hat die Politik in den letzten Jahrzehnten zu kurzsichtig gedacht und wahlkampftaugliche Kürzungen im Sozialbereich durchgeboxt. Die Vertreter:innen der Selbstverwaltung wissen, dass sich Investitionen in das menschliche Kapital immer bezahlt machen. Das geht durch gesündere Lebenszeit, durch zufriedenere Arbeitskräfte, durch ausgeglichene Beschäftigte.

Viele Versicherte wissen nicht, wer in der Kranken- und Pensionsversicherung über die Selbstverwaltung ihre Interessen vertritt. Braucht es hier mehr Transparenz?

Reischl: Es ist jedenfalls mehr Information über die Funktionsweise der Selbstverwaltung nötig. Menschen, die das System kennen und verstehen, wissen es auch zu schätzen.

Schmid: Die Versichertenvertreter:innen werden nach den jeweiligen Wahlergebnissen von den Arbeiterkammern, Wirtschaftskammern, Gewerkschaften und Landwirtschaftskammern in die Selbstverwaltungsgremien der Sozialversicherung entsandt. Wir alle wählen unsere Interessenvertreter:innen der sozialen Sicherheit also indirekt über die Arbeiterkammer-Wahlen. Die nächsten finden österreichweit ab Jänner 2024 statt.

Reischl: Das Wahlergebnis der gesetzlichen Interessenvertretungen entscheidet darüber, welche Fraktionen die Vertretung der Versicherten im Bereich soziale Sicherheit übernehmen. Daher ist es wichtig, bei der AK-Wahl mitzustimmen. Wir entscheiden damit demokratisch über die politische Ausrichtung der Selbstverwaltungskörperschaften im System der sozialen Sicherheit, das uns alle begleitet und schützt. Die Selbstverwaltung ist ein wichtiger Baustein einer lebendigen Demokratie und ermöglicht den Betroffenen eine eigenverantwortliche Mitgestaltung.

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Über den/die Autor:in

Andrea Rogy

Andrea Rogy schreibt unter anderem für die NÖN und arbeitet als Lektorin
im Studiengang Soziale Arbeit an der Fachhochschule St. Pölten.

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