Interview mit Linus Westheuser: Die „Fleißigen“ und die „Faulen“

Porträt Linus Westheuser
Leistung = Lohnarbeit? Der Soziologe Linus Westheuser plädiert für einen erweiterten Leistungsbegriff. | © Kimi Palme
„Rechtsradikale Parteien schaffen keine realen Verbesserungen für Arbeitnehmer:innen, bieten ihnen aber die symbolische Aufwertung des Nach-Unten-Tretens“: Der Soziologe Linus Westheuser über gefährliche Schlagseiten des Arbeitsbegriffs und Sozialstaatsdebatten.
Ohne Fleiß, kein Preis? Ein Mantra, das tief in unserer Leistungsgesellschaft verankert ist. Doch genau das kritisiert der Soziologe Linus Westheuser. Im Interview erklärt er, wie arme Menschen unter Generalverdacht gestellt werden und warum Bitcoin-Trading in Großbritannien als Leistung durchgeht.

Zur Person

Linus Westheuser, geboren 1989, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin und forscht zu politischen Konfliktstrukturen, Klassen und Moral.

Gemeinsam mit Steffen Mau und Thomas Lux veröffentlichte er 2023 die viel gefeierte Studie „Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ (Suhrkamp-Verlag), für die er von der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Preis „Das politische Buch des Jahres“ ausgezeichnet wurde.

Sie kommen gerade aus dem Urlaub zurück. Hatten Sie ein schlechtes Gewissen, nicht fleißig genug gewesen zu sein?

Westheuser: Ach Gott nein, das wäre ja eine traurige Haltung zum Leben (lacht). Außerdem ist der Urlaub ja ein wohlverdienter Teil des Arbeitens. Selbst für jemanden wie mich, der keine Balken schleppt, sondern den Großteil des Tages in den Computer schaut.

Dass man „fleißig“ sein und Leistung erbringen muss, das ist ein beherrschender Geist in unserer Gesellschaft, prägt unser Selbstverständnis und setzt sich sogar in unserem Über-Ich fest.

Westheuser: Ja, es ist durchaus beängstigend, wie tief der Gedanke eingesickert ist, wir müssten uns unsere Wertigkeit als Mensch durch Leistung verdienen. Das ist Teil dessen, was Max Weber das moderne „Berufsmenschentum“ nennt. Leistung wird dabei oft auf Erfolg oder passive Pflichterfüllung reduziert oder so gewendet, dass man auf die herabblickt, die vermeintlich weniger leisten als man selbst. Zudem wird als Leistung oft nur Lohnarbeit verstanden, nicht aber unbezahlte Sorgearbeit, die Pflege von Beziehungen, politische Arbeit oder lokales Engagement. Das ist eine Verengung gesellschaftlicher Anerkennungsquellen.

Es ist ja auch durchaus umstritten, was Begriffe wie „Fleiß“ und „Leistung“ überhaupt bedeuten.

Ja. In unserer Studie argumentierte etwa eine Befragte, dass eine Frau, die arbeitet und zudem alleine Kinder großzieht, mehr leistet als ihr Kollege, der die gleiche Arbeit macht, aber abends zu Hause entspannen kann.

Als Leistung wird oft nur Lohnarbeit verstanden, nicht aber unbezahlte Sorgearbeit, die Pflege von Beziehungen, politische Arbeit oder lokales Engagement.

Linus Westheuser

Leistungsvorstellungen, so zeigen Studien, unterscheiden sich auch zwischen verschiedenen Ländern. In Deutschland und vielleicht auch in Österreich wird Leistung vor allem mit „ackern“, mit harter körperlicher Arbeit verbunden. In Skandinavien wird vor allem das als Leistung geschätzt, was zum Gemeinwohl beiträgt. Die Briten dagegen leben eher in einer Erfolgs- als in einer Leistungsgesellschaft. Als Leistung gilt dort letztlich, was immer am Markt Ertrag bringt. Auch Bitcoin-Trading würde dort vielleicht als Leistung durchgehen, solange man damit Geld macht.

All das hat auch politische Implikationen. Heute werden politische Konflikte oft auch als Auseinandersetzungen zwischen „Fleißigen“ und „Faulen“ beschrieben. „Fleiß“ und „Leistung“ sind dann keine unschuldigen Begriffe mehr.

Absolut. Die Vorstellung, wir lebten in einer leistungsgerechten Gesellschaft, ist eine der wichtigsten Legitimationsstützen sozialer Ungleichheit. Man sieht das, wenn Arme verdächtigt werden, nur arm zu sein, weil es ihnen an Motivation mangelt. Obwohl sie es oft sind, die sich am meisten abstrampeln. Reiche dagegen können sich als Leistungsträger präsentieren, obwohl wir aus unzähligen Studien wissen, dass Reichtum heute in erster Linie vererbt wird, sei es in Form von Eigentumstiteln, Bildungsinvestitionen oder Papas Adressbuch.

Wir sehen in unseren Daten, dass die aufklappende Schere zwischen Arm und Reich durchaus von vielen kritisiert wird. Politisch sind die klassischen Oben-Unten-Konflikte heute aber stark demobilisiert. Institutionen wie Gewerkschaften oder linke Parteien verkörpern nicht mehr so stark wie einst die Hoffnung auf eine Veränderung ungerechter Verhältnisse.

Und in dieses Vakuum stoßen heute Parteien am rechten Rand?

Rechtsradikale Parteien wie die FPÖ oder die AfD schaffen keine realen Verbesserungen für Arbeitnehmer, bieten ihnen aber die symbolische Aufwertung des Nach-Unten-Tretens. Sie spalten die Arbeitenden in einen wohlintegrierten Kern und Außenseitergruppen wie Migrant:innen oder Transferempfänger:innen. Für den Kern fordern sie Schutz, für die anderen Sanktionen, Drangsal und Ausschluss.

Reiche können sich als Leistungsträger präsentieren, obwohl wir aus unzähligen Studien wissen, dass Reichtum heute in erster Linie vererbt wird, sei es in Form von Eigentumstiteln, Bildungsinvestitionen oder Papas Adressbuch.

Linus Westheuser

De facto schaden sie damit den Arbeitenden, weil die Spaltung zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen, Einheimischen und Migrant:innen die gemeinsame Handlungsfähigkeit der Arbeitenden schwächt. Es ist auch zum Nachteil der gesamten arbeitenden Bevölkerung, wenn durch Schikanen gegen Transferempfänger:innen oder die Illegalisierung von Migrant:innen eine Gruppe Schutzloser entsteht, die Arbeit zu jedem Preis annehmen müssen und so die Löhne und Standards drückt.

Nicht nur Rechtsradikale spielen auf dieser Klaviatur. Auch rechte Konservative tun es. Sebastian Kurz sagte gern: „Der Arbeitende darf nicht der Dumme sein.“

Ja, das Gleiche sehen wir auch in Deutschland. Akteure der rechten Mitte spielen etwa die beitragsfinanzierten Teile des Sozialstaats, die einer Versicherungslogik folgen, gegen die steuerfinanzierten Sicherungssysteme aus, bei denen es keine Rolle spielt, was man vorher eingezahlt hat. Will man dieser Instrumentalisierung des Leistungsversprechens entgegentreten, wäre es auch hier wichtig, immer wieder zu betonen, dass auch Grundsicherungen, die das existenzielle Minimum garantieren, im Interesse aller Arbeitenden sind, weil sich sonst die Konkurrenz nach unten verschärft und die Standards erodieren.

Die allermeisten Transferempfänger sind Leute, die Solidarität verdient haben. Warum sprechen wir derzeit zum Beispiel in Deutschland monatelang über eine winzige Zahl von Arbeitsverweigerer:innen und nicht über Rentner:innen, deren Rente so mickrig ist, dass sie Bürgergeld erhalten, über Niedrigverdiener:innen, die aufstocken müssen, über Kinder und Alleinerziehende oder über Leute, die es in den Arbeitsmarkt nicht mehr hineinschaffen, weil sie zu alt oder krank sind? Die konservativen und extremen Rechten haben schon immer versucht, den Wohlfahrtsstaat mit den am wenigsten angesehenen gesellschaftlichen Gruppen zu assoziieren und so zu delegitimieren. Der Erfolg der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften bestand historisch auch darin, mehr und mehr Aspekte des Lebens in Form von universalen Rechten zu organisieren und damit von der Größe des eigenen Geldbeutels abzukoppeln. Das ist eine große zivilisatorische Errungenschaft.

Zugleich spielt Leistung ja auch in der Rhetorik linker Bewegungen eine Rolle. Etwa wenn man sich zur Anwältin derer erklärt, die hart arbeiten, die morgens aufstehen, die sich für nichts zu schade sind. Läuft man mit dieser Rhetorik nicht in eine Falle, weil man argumentative Muster verbreitet, die die Rechten dann zur Spaltung nutzen?

Das ist sicherlich ein gewisses Dilemma. Zugleich glaube ich aber, dass man die spaltenden und abschätzigen Seiten des Leistungsdenkens von den positiven Seiten des Arbeitsstolzes trennen kann. Weil die arbeitenden Klassen eben nicht über riesiges Vermögen oder Unternehmensbeteiligungen verfügen, sind Arbeitskraft und Leistungsfähigkeit eben das, was den persönlichen Wohlstand sichert.

In einem zweiten Schritt ist die Arbeit aber auch der wichtigste Anker für Identität, Selbstwert und Anerkennung in unserer Gesellschaft. Alle Umfragen zeigen, dass die meisten Menschen stolz auf ihre Arbeit sind, auch wenn sie unter bestimmten Aspekten ihrer Arbeitsbedingungen leiden. In diesem Kontext kann das Versprechen von Leistungsgerechtigkeit ein mächtiges Argument für Kritik und Veränderung sein. In unserer Studie sagte zum Beispiel ein Befragter in einer Gruppendiskussion: ‚Mir kann niemand erzählen, dass ein Konzernchef, der hundertmal so viel verdient wie ein einfacher Beschäftiger hundertmal mehr geleistet hat‘. Hier wird die Idee von Leistung und Verdientheit kritisch gewendet.

Sie brauchen einen Perspektivenwechsel?

Dann melden Sie sich hier an und erhalten einmal wöchentlich aktuelle Beiträge zu Politik und Wirtschaft aus Sicht der Arbeitnehmer:innen.

Mit dem Absenden dieses Formulars stimme ich der Verarbeitung meiner eingegebenen personenbezogenen Daten gemäß den Datenschutzbestimmungen zu.

Über den/die Autor:in

Robert Misik

Robert Misik ist Journalist, Ausstellungsmacher und Buchautor. Jüngste Buchveröffentlichung: "Die falschen Freunde der einfachen Leute" (Suhrkamp-Verlag, 2020). Er kuratierte die Ausstellung "Arbeit ist unsichtbar" am Museum Arbeitswelt in Steyr. Für seine publizistische Tätigkeit ist er mit dem Staatspreis für Kulturpublizistik ausgezeichnet, 2019 erhielt er den Preis für Wirtschaftspublizistik der John Maynard Keynes Gesellschaft.

Sie brauchen einen Perspektivenwechsel?

Dann melden Sie sich hier an und erhalten einmal wöchentlich aktuelle Beiträge zu Politik und Wirtschaft aus Sicht der Arbeitnehmer:innen.

Mit dem Absenden dieses Formulars stimme ich der Verarbeitung meiner eingegebenen personenbezogenen Daten gemäß den Datenschutzbestimmungen zu.