„Ich liebe die Monotonie“

Inhalt

  1. Seite 1 - „Ich versuche, möglichst offen zu kommunizieren“
  2. Seite 2 - „Wissen macht die Welt lebendig“
  3. Seite 3 - „Behandelt uns wie normale Menschen“
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Menschen mit Autismus finden nur schwer Jobs oder Praktikumsplätze. Kapsch TrafficCom initiierte ein Pilotprojekt, das unter anderem genau sie sucht. Eine Reportage über ein Leitprojekt für einen diverseren Arbeitsmarkt.

Entdeckung der Inselbegabung

„Heute bin ich in Wien. Ich bin meinem Plan gefolgt und habe mich nicht unterkriegen lassen“, erzählt er, und wir wechseln in den Nebenraum, um das Team nicht weiter zu stören. Dort sei früher einmal das Raucherkammerl gewesen, heute ist es ein Pausenraum. Nach der Schule versuchte es Angelo mit einer Lehre in einem Lager. Eine Katastrophe sei das gewesen. Dort stresste ihn alles, vor allem, wie kommuniziert wurde.

Durch die Arbeitsassistenz des WUK, des Werkstätten- und Kulturhauses, das auf die Beratung von jungen Menschen mit einer psychischen Erkrankung, einer Lern- bzw. Mehrfachbehinderung oder einer Störung aus dem Autismus-Spektrum spezialisiert ist, kam Angelo zum Pilotprojekt bei Kapsch TrafficCom. Hier entdeckte er, dass es etwas gibt, in dem er besser ist als viele andere Menschen: genaues Hinsehen und die Identifikation von Fehlern. Schon als Kind liebte er Suchbilder. Er fand jeden Fehler nach kurzer Zeit. Manche Menschen im Autismus-Spektrum haben eine derartige Inselbegabung, sprich, sie sind in einem bestimmten Bereich außergewöhnlich gut.

Eine Diagnose wie ein Stempel

Nach der einjährigen Anstellung bei Kapsch TrafficCom sei sein Vertrag nun entfristet worden, erzählt er stolz. „Das war ein Jahr solide Arbeit mit hoher Konzentration.“ Wenn Angelo von seiner Arbeit berichtet, wird schnell klar, wie gerne er sie macht. „Ich habe tatsächlich einen Job gefunden, der meiner Begabung entspricht und der nur mir gehört.“ Fragt man Angelo, ob er schneller sei als andere, zieht er die Augenbrauen zusammen und verneint. Nein, schneller nicht, höchstens genauer.

Angelo spricht mit der Autorin.
Angelo hört beim Arbeiten am liebsten Musik aus Computerspielen. Je nach Laune und Projekt wechselt er zu ruhiger Musik. | © Markus Zahradnik

Und da sind wir auch schon an dem Punkt angelangt, der ihn am Umgang mit Autismus nervt: die Verallgemeinerungen. „Autisten und Menschen mit Asperger sind nicht alle gleich, wir sind nicht alle schneller oder intelligenter. Wir haben genauso unsere Fehler und Eigenheiten wie alle anderen Menschen.“ Manche Leute mit Asperger würden in der Gaming-Szene wie Genies dargestellt, das nerve ihn genauso wie dass Menschen mit Autismus so wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätten. Bei jeder Bewerbung sei seine Diagnose wie ein Stempel, der ihn bereits im Vorhinein disqualifiziere.

Digitale Revolution für mehr Chancen

Das Annotation-Pilotprojekt ist einzigartig und könnte Vorbildwirkung für den gesamten Arbeitsmarkt haben. Hartl stellt aber klar, dass dies kein Allheilmittel für einen diversen Arbeitsmarkt sei. „Nicht jeder wird in Österreich annotieren. Aber Menschen mit Beeinträchtigungen bringen oft hervorragende Fähigkeiten mit, die fürs Annotieren besonders wertvoll sind, wie beispielsweise eine hohe Aufmerksamkeit für Details. Sie sind keine Zielgruppe für uns, sondern eine besondere Kompetenzgruppe.“ In anderen Ländern würde ein Großteil dieser Arbeit außerdem in Billiglohnländer ausgelagert.

Unser Ziel ist es, die Chancen der digitalen Revolution zu nutzen,
um Menschen eine Chance zu geben,
für die der Arbeitsmarkt sonst nur sehr schwer zugänglich ist.

Martin Hartl, Leiter von Responsible Annotation

Seit 2019 gehen sie bei Kapsch TrafficCom neue Wege und arbeiten auch mit dem AMS zusammen. Bei dem sogenannten Arbeitstraining können Menschen den Beruf des Annotierens ausprobieren. Hartl betont, wie unterschiedlich die Bewerber:innen seien. „Manche kommen zu uns und sind total unterfordert, weil sie programmieren möchten. Andere sind von der ersten Sekunde an von der Arbeit überfordert.“ Es gelte wie in jedem anderen Job auch, die passenden Menschen zu finden. „Unser Ziel ist es, die Chancen der digitalen Revolution zu nutzen, um Menschen eine Chance zu geben, für die der Arbeitsmarkt sonst nur sehr schwer zugänglich ist. Wir hoffen, dass unsere Initiative auch dazu beiträgt, das Bewusstsein für die Bedeutung von Inklusion zu schaffen und Perspektiven zu erweitern“, sagt Hartl.

Angelo sagt am Ende unseres Gesprächs etwas Ähnliches, wenn auch in anderen Worten: „Ja, ich habe einen höheren IQ. Aber ganz ehrlich: Sch… drauf! Es sagt nichts darüber aus, wie gut du tatsächlich lernst oder wie gut du dich in einer sozialen Welt schlägst.“ Was würde ihm also helfen? „Behandelt uns wie normale Menschen, das wäre alles, was ich brauche.“

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Über den/die Autor:in

Eva Reisinger

Freie Journalistin und Autorin in Wien. Sie schrieb für den ZEIT-Verlag über Österreich, Feminismus & Hass. War Korrespondentin und lebt halb in Berlin und halb in Wien und erzählte euch, was ihr jeden Monat über Österreich mitbekommen müsst, worüber das Land streitet oder was typisch österreichisch ist.

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