Eine verlorene Generation? Interview mit Dennis Tamesberger, Arbeitsmarktexperte

Dennis Tamesberger, Arbeitsmarktexperte
Im Videointerview spricht Dennis Tamesberger, Arbeitsmarktexperte der Arbeiterkammer Oberösterreich, über die dramatische Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit in Österreich und Europa.

Im Juni waren 75.000 junge Menschen ohne Beschäftigung. Nicht nur in Österreich, in ganz Europa explodiert die Jugendarbeitslosigkeit. Um eine „verlorene Generation“ zu verhindern, darf jetzt nicht zögerlich reagiert werden, so wie es die EU nach der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 verabsäumt hat, schnell Maßnahmen zu setzen.

Herr Tamesberger, kurz zusammengefasst: Wenn wir heute einen Blick auf den österreichischen Arbeitsmarkt werfen, wo stehen wir da?

Wir stehen vor einer sehr dramatischen Entwicklung am Arbeitsmarkt. Wir haben jetzt die höchste Arbeitslosigkeit in der Zweiten Republik. Wir sind Zeitzeugen gewesen, im März nach dem Lockdown, wie innerhalb von zwei Wochen die Arbeitslosigkeit praktisch explodiert ist. Das ist eine sehr dramatische Entwicklung, die uns durchaus Sorge bereiten sollte.

Es sind fast eine halbe Million Menschen ohne Beschäftigung in Österreich, und es ist aufgrund der Konjunkturprognosen davon auszugehen, dass sich das im zweiten Halbjahr nicht verbessern wird.

In den darauffolgenden Monaten, im April und Mai, ist der Arbeitslosigkeitsanstieg nicht mehr so dramatisch gewesen wie im März, aber dennoch haben wir nach wie vor ein sehr hohes Niveau. Es sind fast eine halbe Million Menschen ohne Beschäftigung in Österreich, und es ist aufgrund der Konjunkturprognosen davon auszugehen, dass sich das im zweiten Halbjahr nicht verbessern wird (Anm.: das gilt auch für die Konjunkutrprognose 2023).

Und wie hat sich die Kurzarbeit entwickelt?

Bis zum Juni sind die Kurzarbeitsanträge stark angestiegen. Seit Juni gibt es einen Rückgang, einen deutlichen Rückgang. Das, was wir beobachtet haben, ist, dass die Kurzarbeit vor allem eine psychologische Signalwirkung gehabt hat. Das heißt, man hat ja am Beginn nicht gewusst, wie sich die Corona-Krise auswirken wird, und mit der Kurzarbeit ist den Betrieben und auch den Beschäftigten das Signal gegeben worden: Es kann kommen, was will. Wir kümmern uns um euch, und ihr habt stabile Beschäftigungs- und Einkommensverhältnisse.

Die meisten Betriebe haben die maximalen Ausfallsstunden beim AMS angemeldet. Und jetzt zeigt sich bei den Abrechnungen, dass das nicht notwendig war. Das heißt, es hat es vor allem eine Signalwirkung und eine stabilisierende Wirkung gegeben.

Wenn wir jetzt in die absehbare Zukunft schauen, also in den Herbst: Da wird von einer Insolvenzwelle gesprochen, die uns droht. Ist diese Entwicklung irgendwie abzuschätzen?

Nein, das ist ganz schwierig abzuschätzen. Das Einzige, was Sorge bereitet und was man jetzt schon sagen kann, ist, dass im internationalen Vergleich die Eigenkapitalquote, im Speziellen in der Gastronomie, relativ schlecht ist in Österreich. Das heißt, wenn der Sommertourismus schlecht verläuft, kann es sein, dass sehr viele Hotels und Gastronomiebetriebe in die Insolvenz schlittern, und das würde dann zu einer zweiten Kündigungswelle im Herbst führen.

Wenn der Sommertourismus schlecht verläuft, kann es sein, dass sehr viele Hotels und Gastronomiebetriebe in die Insolvenz schlittern, und das würde dann zu einer zweiten Kündigungswelle im Herbst führen. 

Was Sie auch schon thematisiert haben und wovor Sie gewarnt haben, das ist der starke Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit. Warum trifft diese Krise eigentlich besonders die Jungen so hart?

Das ist nicht nur bei dieser Krise so, sondern generell. Wir wissen das von früheren Wirtschaftskrisen, von früheren Rezessionen, dass junge Menschen die ersten Betroffenen, die Hauptbetroffenen sind, sobald die Konjunktur einbricht. Das hat mehrere Gründe. Betriebe haben natürlich in junge Arbeitnehmer*innen weniger investiert, weniger in Weiterbildung investiert. Vielleicht haben die jungen Arbeitnehmer*innen auch noch nicht die betriebsspezifischen Kompetenzen aufgebaut. Das heißt, sie sind die Ersten, die gehen müssen. Das ist der eine Punkt.

Wir wissen das von früheren Wirtschaftskrisen, von früheren Rezessionen, dass junge Menschen die ersten Betroffenen, die Hauptbetroffenen sind, sobald die Konjunktur einbricht. 

Der zweite Punkt ist, dass junge Menschen auch oft in prekären Beschäftigungsverhältnissen angestellt sind. Der erste Job ist oft ein Praktikum oder befristeter Vertrag, der dann gelöst wird, wenn die Aufträge zurückgehen. Wenn die Auftragslage schlecht ist, dann sind sie die Ersten, die gehen müssen.

Und das Dritte ist, dass junge Menschen, die mit der Schule fertig werden, plötzlich weniger offene Stellen zur Verfügung haben, wo sie sich bewerben können. Das heißt, sie haben weniger Perspektiven und weniger Chancen am Arbeitsmarkt. Und das kommt alles zusammen in einer Rezession, wie sie derzeit ist, und derzeit ist sie sehr tiefgreifend. Wenn man von einem BIP-Einbruch von 7 bis 8 Prozent in Österreich ausgeht, dann wirkt sich das dramatisch am Jugendarbeitsmarkt aus.

Man muss aber schon sagen, dass das in einer gewissen Weise sehr kurzsichtig ist von den Unternehmen, weil diese jungen Leute ja die Fachkräfte von morgen sind. Was kann es da für eine Perspektive geben?

Ja, stimmt! Das ist zum Teil sehr kurzsichtig, vor allem von größeren Betrieben, die es sich vielleicht trotz Krise oder trotz Auftragsrückgang leisten könnten, Lehrlinge auszubilden. Für kleine Betriebe, die jetzt wirklich Insolvenzängste haben, ist es ja fast fair, dass man keine Lehrlinge einstellt, weil es – angenommen, in zwei Jahren sind die Betriebe nicht mehr existent – nicht gut wäre, wenn man dort eine Lehre begonnen hat.

Können wir noch kurz auf das Mengengerüst eingehen. Wie viele arbeitslose junge Menschen gibt es derzeit in Österreich?

Wenn wir von Jugendarbeitslosigkeit sprechen, müssen wir immer drei Kategorien zusammenzählen. Das eine sind die klassisch arbeitslosen Jugendlichen, die zweite Kategorie sind die Schulungsteilnehmer*innen, und die dritte Kategorie sind die Lehrstellensuchenden. Wenn man alle drei Kategorien zusammenzählt, waren im Juni rund 75.000 junge Menschen unter 25 Jahren ohne Beschäftigung. Das sind die offiziellen Zahlen vom AMS nach der nationalen Berechnungsmethode. In der öffentlichen Debatte fokussiert man oft nur auf die Arbeitslosen oder nur auf die Lehrstellensuchenden. Aber in Wahrheit müsste man alle drei Kategorien zusammenzählen.

Das ist ein Problem, das nicht nur Österreich betrifft, sondern das es in der EU insgesamt gibt. Verliert die ganze EU momentan eine Generation an jungen, nicht ausgebildeten Menschen?

Das ist zumindest die Befürchtung. Es ist die Frage, wie schnell die Nationalstaaten, aber auch die Europäische Union darauf reagiert. In der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 hat zum Beispiel Österreich meiner Meinung nach sehr gut und sehr schnell reagiert. Wir haben damals zwei Konjunkturpakete gehabt. Das Budget vom AMS ist deutlich aufgestockt worden, und es ist damals eine Ausbildungsgarantie entwickelt worden, indem man gesagt hat: Wenn der Lehrstellenmarkt zusammenbricht, dann ist der Staat da. Das war damals ein erfolgreiches Modell in Österreich, das dann auch eine Vorbildwirkung international gehabt hat.

In der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 hat zum Beispiel Österreich meiner Meinung nach sehr gut und sehr schnell reagiert.

Auf europäischer Ebene ist sehr zögerlich und sehr spät reagiert worden. Erst im Jahr 2013 wurde die europäische Jugendgarantie eingeführt. Das heißt: eigentlich fünf Jahre nach Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise. Das war viel, viel zu spät. Wenn wir uns erinnern: Damals sind Millionen von Menschen auf die Straße gegangen, vor allem junge Menschen in Südeuropa, und haben vor allem für eine Sache demonstriert, nämlich für mehr Jobs. Es ist damals einfach um Arbeitsplätze gegangen. Viele Menschen in Südeuropa haben es sich nicht leisten können, von zu Hause auszuziehen oder eine Familie zu gründen, weil die Jobperspektiven so prekär waren. Viele sind auch ausgewandert. Paradoxerweise sind Jugendliche aus Spanien nach Lateinamerika ausgewandert, weil dort die Arbeitsmarktperspektiven besser waren als in Europa.

Das heißt, jetzt müssen wir wesentlich schneller reagieren, damit wir nicht wieder so eine Entwicklung wie damals haben und dass man vor allem verhindert, dass es eine verlorene Generation wird. Dieser Begriff ist jetzt nicht nur ein politisches Framing, sondern er ist durchaus begründet, weil wir ja wissen, dass Jugendarbeitslosigkeit sehr, sehr weitreichende negative Folgen bei den Jugendlichen hat. Jugendarbeitslosigkeit haftet den Jugendlichen wie Narben an. Es führt zu einer geringeren Arbeits- und Lebenszufriedenheit, einem schlechteren Gesundheitszustand, zu einem höheren Arbeitslosigkeitsrisiko und einer schlechteren Einkommensentwicklung. Das gilt es zu verhindern, und deswegen wären wir gut beraten, jetzt schnell zu reagieren.

Wenn wir uns – sagen wir mal – drei Maßnahmen wünschen könnten, die jetzt wirklich umgesetzt werden. Welche wären das?

Die wichtigste Maßnahme in Österreich ist der Ausbau der überbetrieblichen Lehrausbildung. Die Lehrstellensituation wird sich im Herbst nicht verbessern, auch der Lehrlingsbonus wird daran nichts ändern. Man braucht etwas Überbetriebliches, das wäre die erste Maßnahme.

Die wichtigste Maßnahme in Österreich ist der Ausbau der überbetrieblichen Lehrausbildung. Die Lehrstellensituation wird sich im Herbst nicht verbessern. 

Die zweite Maßnahme ist, dass wir mehr Jobs schaffen müssen. Zwei Drittel der arbeitslosen Jugendlichen sind im Alter zwischen 19 und 24 Jahren. Das heißt, wir brauchen Jobangebote für junge Erwachsene, die jetzt gerade mit der Schule fertig geworden sind. Und wenn es in der Privatwirtschaft diese Jobs nicht gibt, dann braucht es kurzfristig im öffentlichen und gemeinnützigen Sektor einfach mehr Jobangebote. Ich glaube, dass Kommunen, aber auch andere öffentliche Körperschaften hier viele, viele Möglichkeiten hätten, Jobs zu schaffen.

Und das Dritte: Ich glaube, wenn es um Perspektiven geht und darum, wie man mit Zukunftsängsten fertig wird, dass junge Menschen auch Ansprechpersonen brauchen, und hier leistet die offene Jugend- und Sozialarbeit sehr gute Arbeit.

Wenn wir kurz ein bisschen darüber nachdenken, was denn nach dieser Krise besser gemacht werden könnte … Der Chefökonom der deutschen ver.di, Dierk Hirschel, ist einer von jenen, die vorgeschlagen haben, dass man so etwas wie eine Umlage für Unternehmen einführt, die eben keine Lehrlinge ausbilden. Was ist von so einem Modell zu halten?

Sehr schlau. Es gibt auch Forderungen in Österreich in diese Richtung. Die betriebliche Lehrstellenförderung hat überhaupt keinen Lenkungseffekt in Österreich. Sie wird mehr oder weniger mit der Gießkanne an die Betriebe ausgeschüttet. Ich glaube, über 60, 70 Prozent sind Pauschalförderungen, also Basisförderungen. Das heißt, jeder Betrieb bekommt eine betriebliche Lehrstellenförderung. Das sollte zielgerichteter gemacht werden, so wie es der Kollege aus Deutschland oder auch die ÖGJ fordern. Damit man einen Ausbildungsfonds hat, wo alle Betriebe einzahlen müssen, aber nur jene etwas bekommen, die ausbilden. Oder wenn besonders benachteiligte Jugendliche gefördert werden, mit Migrationshintergrund, beziehungsweise in speziellen, zukunftsträchtigen Lehrberufen. Dann ist so eine neue kriteriengeleitete, betriebliche Lehrstellenförderung bestimmt sinnvoll.

Abschließend noch eine Frage: Wenn wir jetzt junge Menschen treffen, die gerade ihren Job verloren haben – wie kann man denen wieder Hoffnung machen oder eine Perspektive geben? Was kann man denen mitgeben?

Ich glaube, das Wichtigste, was man jetzt vermitteln muss, ist, dass sie nicht selbst schuld sind an der tristen Arbeitsmarktlage. Das ist heute anders als in anderen Krisen. Früher war es oft so, dass speziell benachteiligte Jugendliche mit schlechten Zeugnissen keine Jobs bekommen haben. Jetzt kann es aber sehr viele treffen, die alles richtig gemacht haben, die lauter Einser im Zeugnis haben und trotzdem keinen Job finden. Die sind vermutlich total motiviert, dass sie was Sinnvolles beitragen für unser Wirtschaftssystem in unserer Gesellschaft, aber haben einfach das Pech, dass sie im Corona-Jahr mit der Schule fertig geworden sind.

Jetzt kann es sehr viele treffen, die alles richtig gemacht haben, die lauter Einser im Zeugnis haben und trotzdem keinen Job finden.

Da ist es wichtig zu vermitteln: Ihr seid nicht schuld daran. Es ist eine Wirtschaftskrise, es ist einfach Pech. Und dann, dass man vermittelt: Ihr braucht einen langen Atem. Es kann mehrere Monate dauern. Vielleicht gibt es im nächsten Jahr wieder Jobs und Möglichkeiten. Und man muss auch vermitteln, dass es natürlich Anlaufstellen gibt – ich habe es schon angesprochen: die offene Jugend- und Sozialarbeit. Schaut, dass ihr in Kontakt bleibt, schaut, dass ihr mit dem AMS redet! Es gibt auch psychologische Anlaufstellen. Einfach schauen, dass die Jugendlichen Ansprechpersonen haben und dass sie mit ihrer Situation nicht allein gelassen werden. Das ist, glaub ich, wichtig, um sie stabil zu halten.

Über den/die Autor:in

Michael Mazohl

Michael Mazohl studierte Digitale Kunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Im ÖGB-Verlag entwickelte er Kampagnen für die Arbeiterkammer, den ÖGB, die Gewerkschaften und andere Institutionen. Zudem arbeitete er als Journalist und Pressefotograf. Drei Jahre zeichnete er als Chefredakteur für das Magazin „Arbeit&Wirtschaft“ verantwortlich und führte das Medium in seine digitale Zukunft. Gemeinsam mit der Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl erschien ihr Buch „Klassenkampf von oben“ im November 2022 im ÖGB-Verlag.

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