Selbstverwaltung: Was Menschen wirklich brauchen

Eine Frau sitzt in einem Rollstuhl. Sie sitzt in einem Schlafzimmer, neben ihr ist ein Kuscheltier zu sehen sowie ein gelber Ohrensessel. Symbolbild für die Verschlechterungen in der Selbstverwaltung.
Leistungensausschüsse sorgten dafür, dass hunderten Menschen ihr Leid erleichtert wurde. Dann wurden sie unter Schwarz-Blau eingestellt. | © Adobe Stock/Rawpixel.com
Unter dem Deckmantel der Ersparnis und Effizienz entzog die Regierung der Selbstverwaltung bestimmte Aufgaben. De facto wurden aber wichtige Instrumente wie die Leistungsausschüsse der Pensionsversicherung abgeschafft und die Rechte der Werktätigen eingeschränkt. Einsparungen gibt es bis heute nicht.
Am Anfang standen große Versprechungen, als die Regierung unter dem sperrigen Begriff Sozialversicherungs-Organisationsgesetz (SV-OG) 2018 die „Reform“ der Sozialversicherung auf den Weg brachte. Dazu fiel unter anderem die wohlbekannte Phrase „mehr Effizienz“. Zwei Worte, die Menschen oftmals ihre Arbeitsplätze kosten. Was die Neuregelung jedoch zunichtemachte: Sie entriss den Arbeitnehmer:innen die Entscheidungsbefugnisse in der Selbstverwaltung. Darüber, was eine funktionierende Selbstverwaltung benötigt, unterhalten sich auch Ingrid Reischl und Tom Schmid.

Selbstverwaltung: Was wir verloren haben

Erika Helscher war mehr als zehn Jahre in einem nun abgeschafften Wiener Leistungsausschuss der PVA tätig. Die ehemalige Büroangestellte arbeitete 37 Jahre in der Wiener Sozialwirtschaft und verfügt über viel Erfahrung in der Durchführung der sozialen Dienste. Zudem war sie Betriebs- und Bezirksrätin, Vorsitzende der GPA-Frauen und sitzt heute im Vorstand des Seniorenrats. „Für den Einspruch gegen einen PVA-Bescheid hat der:die Betroffene einen Antrag ausgefüllt, und wir haben uns so bald wie möglich mit dem Fall auseinandergesetzt“, erinnert sich die 72-jährige gebürtige Favoritenerin an die „Vor-Effizienz-Zeiten“.

Portrait Erika Helscher in blauer Jacke beim Interview zum Thema Selbstverwaltung und erfahrungen in der Pflege.
Erika Helscher war mehr als zehn Jahre in einem Wiener Leistungsausschuss der PVA tätig. Hunderten
Menschen hat sie dadurch ihr Leid erleichtert, etwa durch eine bessere Einstufung des Pflegebedarfs. | © Markus Zahradnik

Zwar können Ärzt:innen abschätzen, wie sich eine Krankengeschichte medizinisch auswirkt, aber oft fehlt es ihnen an der Erfahrung, wie sie den Alltag zur täglichen Hürde macht. Für Arbeit&Wirtschaft skizziert Helscher mit Kugelschreiber auf A4-Papier, wie sie seinerzeit im Gremium an den jeweiligen Einspruch heranging. Nach einem vorgegebenen Schema notiert sie mithilfe der Krankengeschichte die Werte eines Klienten, des 82-jährigen Herrn Z. Der benötigte monatliche Pflegebedarf wird in Stunden gerechnet. Das reicht vom An- und Auskleiden über die Motivationsgespräche bis hin zur Hilfe bei der Verrichtung der Notdurft, von Körperpflege über Mobilitätshilfe bis zur Einnahme der Mahlzeiten und Medikamente.

Für Herrn Z. wurde die Pflegestufe 4 beantragt, da sich sein körperlicher Zustand verschlechtert hat und er auch nicht mehr selbstständig die Toilette aufsuchen kann. Bei einer höheren Pflegestufe gibt es nicht nur mehr Pflegegeld. Damit wächst auch der Anspruch auf Dienstleistungen – erst Patient:innen ab Pflegestufe 4 bekommen etwa einen Platz im Pflegeheim. Ab Pflegestufe 3 können Patient:innen vermehrt die Dienste einer Hauskrankenpflege in Anspruch nehmen. Wohlgemerkt: Pflegegeld ist kein Bonus für den Sparstrumpf. Die zuvor auf Herz und Nieren geprüften Patient:innen kaufen mit diesem Geld auch soziale Dienstleistungen, beispielsweise die Heimhilfe der Wiener Sozialdienste (Aufrechterhaltung des Haushalts von Reinigung bis Einkäufe) oder Essen auf Rädern zu.

Möglichst effizient und schnell

Bis zu seiner Abschaffung im Jahr 2019 setzte sich das Gremium eines Leistungsausschusses wie folgt zusammen. Ein:e Beschäftigte:r der Pensionsversicherung (zuständig, den jeweiligen Fall vorzutragen), ein:e Arbeitnehmervertreter:in (wie eben Erika Helscher) und ein:e Arbeitgebervertreter:in. Ein Beirat aus Gewerkschafter:innen hörte zu und konnte sich bei einer Diskussion einbringen. Stimmberechtigt waren hingegen nur die Arbeitnehmervertreter:innen und die Arbeitgebervertreter:innen – das Ergebnis musste einstimmig ausfallen. Eine Hürde, die sich meistern ließ, wie sich Erika Helscher gerne erinnert.

Der Ausschuss trat an allen fünf Werktagen zusammen und tagte in der Regel von 9 bis 13 Uhr im PVA-Gebäude in Wien-Leopoldstadt. Die Fälle wurden möglichst effizient und schnell bearbeitet. „Bei schwierigen Themen haben wir uns nach langen Verhandlungen immer gefunden“, weiß die ehemalige Arbeitnehmervertreterin. Als Aufwandsentschädigung bekam Helscher 38 Euro pro Vormittag, damit waren auch die Fahrtspesen mit abgegolten. „Für mich war jeder einzelne Fall dramatisch. Vielen Menschen, die eine Berufsunfähigkeits- oder Invaliditätspension benötigen, schlägt ihre Beeinträchtigung auf die Psyche. Viele Menschen fühlen sich nicht mehr gebraucht, wenn sie den Beruf nicht mehr ausüben können.“

Was Patient:innen wirklich brauchen

Darüber, dass das selbstständige An- und Auskleiden einem Menschen nicht mehr möglich war oder etwa die Zubereitung einer Mahlzeit bei der Beurteilung eines Antrages und der Berechnung der benötigten Pflegestunden einfach nicht bedacht wurde, kann sich Erika Helscher noch heute ärgern. „Wenn jemand inkontinent ist, dann braucht dieser Mensch selbstverständlich tägliche Körperpflege und nicht eine einzige Dusche pro Woche.“

1977 hat Helscher den Kontaktbesuchsdienst der Stadt Wien initiiert: Senior:innen aus Wien, die über 75 Jahre alt sind, können Besuche von Ehrenamtlichen anfordern. „Wir haben den Kontaktbesuchsdienst auch deshalb gegründet, weil wir über die Bedürfnisse der älteren Menschen genau Bescheid wissen wollten“, erinnert sie sich. Auf die Idee hat sie die Wohnsituation ihrer eigenen Großmutter gebracht. „Sie wohnte in einem Altbau und konnte die Oberlichter nicht mehr alleine putzen, doch den Heimhelfer:innen waren solche Dienstleistungen untersagt. Es wurde aufgrund dieser Erfahrungen ein Reinigungsdienst ins Leben gerufen.“

Problem der Selbstüberschätzung

Für Helscher und ihre Kolleg:innen war es spannend, an der Einführung dieses Dienstes mitzuarbeiten – sich einfach zu überlegen, wie viel eine Stunde Fensterputzen kosten darf und wie eine soziale Staffelung nach dem Einkommen der Pensionist:innen und Rentner:innen ausschauen könnte. „Durch die Bedarfserhebung unter den älteren Mitbürger:innen haben wir eben auch feststellen können, was die Klient:innen wirklich brauchen und wo es hakt“, erklärt Helscher. „Deshalb wurden auch die Wochenend-Dienste ins Leben gerufen, denn davor kamen die Heimhelfer:innen in Wien nur unter der Woche.“ Samstag und Sonntag waren die Klient:innen auf sich alleine gestellt – sich dieses Szenario vor Augen zu führen, das fällt heute schwer.

Insbesondere Ältere neigen dazu, sich selbst zu überschätzen, schlicht aus der Erinnerung an mobilere und agilere Zeiten heraus. „Das ist aber auch gut so, weil sie sich dann mehr bemühen, etwas zu tun. Doch dabei sind sie eben nicht auf sich allein gestellt.“

Vors Gericht ziehen

Freilich, nicht jeder Einspruch gegen eine abgelehnte Berufsunfähigkeits- oder Invaliditätspension konnte im Leistungsausschuss bewilligt werden. Besonders für Frauen verliefen die Einsprüche enttäuschend: Viele hatten einfach nicht genug Versicherungszeiten und damit keinen Anspruch auf eine Leistung. Um überhaupt Anspruch auf eine Pension zu haben, muss zumindest 15 Jahre nachweislich gearbeitet worden sein – und bekanntermaßen fallen Hausarbeit und Kindererziehung nicht darunter. Diesen Frauen blieb und bleibt einzig die Sozialhilfe übrig. Zumindest gibt es für pflegende Angehörige endlich einen sogenannten „Angehörigenbonus“ und die Möglichkeit, Pensionsversicherungszeiten zu erwerben.

Wer heute einen abgelehnten Antrag beeinspruchen will, dem bleibt nur der Weg zum Arbeits- und Sozialgericht. Aufgrund ihrer Erschöpfungszustände sind aktuell viele an Long COVID erkrankte Menschen nicht mehr arbeitsfähig oder können ihre ehemalige Leistung nicht mehr erbringen. Der Antrag auf eine Berufsunfähigkeitspension beim Sozialversicherungsträger wird allerdings zu 90 Prozent abgelehnt. Bis es beim Arbeits- und Sozialgericht zu einer Entscheidung kommt, vergeht ein halbes bis ganzes Jahr. Ein Leistungsausschuss würde schneller zu einem Ergebnis kommen.

Von wegen Einsparungen

Dabei hat die Regierung Kurz bei der „Reform“ des Gesetzes noch von Vereinfachungen und Einsparungen gesprochen. Konkret sollte der Personal- und Sachaufwand in der Verwaltung der Sozialversicherungsträger verringert und so eine Milliarde Euro eingespart werden. Diese etwas populistisch bezeichnete „Patient:innen-Milliarde“ sollte den Anspruchsberechtigten zugutekommen. „Doch diese Milliarde war laut Bericht des Rechnungshofes nicht auffindbar. Im Gegenteil, der Rechnungshof spricht sogar davon, dass über 200 Millionen Euro mehr ausgegeben wurden“, sagt Peter Schleinbach. Eines hat aber der Umbau der Sozialversicherung bewirkt: „Er hat die Machtverhältnisse zugunsten der Arbeitgeber:innen verändert“, erklärt Schleinbach. Vor der Reform hatten die Vertreter:innen der Arbeitnehmer:innen immer eine Mehrheit. Die Arbeitgebervertreter:innen hatten in wichtigen Fragen ein Blockade- oder Vetorecht.

Auch Erika Helscher kann der „Reform“ nichts abgewinnen. „Momentan ist es für mich keine Selbstverwaltung.“ Zwar gibt es zweimal jährlich eine Generalversammlung, wo allgemein berichtet wird, „aber das sagt leider nichts aus. Im Endeffekt kann die Arbeitnehmer:innenseite da nicht mitreden.“ Mehr dazu in unserer aktuellen Ausgabe zum Thema Selbstverwaltung.

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