Roman Hebenstreit im Interview: Verteilungskampf wird härter

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  1. Seite 1 - Existenzsicherung in Krisenzeiten
  2. Seite 2 - Es geht nicht nur um Geld
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Roman Hebenstreit ist Vorsitzender bei der Gewerkschaft vida. Er hat eine mühsame Herbstlohnrunde hinter sich. Ein Interview über KV-Verhandlungen in Krisenzeiten.

Roman Hebenstreit im Interview

Roman Hebenstreit sitzt in einem Sessel und führt ein Interview.
„Wenn ich also über den Wert der Arbeit diskutiere, muss ich mir die grundsätzliche Frage stellen, was ist ihr Mindestwert.“ | © Markus Zahradnik
Im Sommer haben sie das in der Frage „Was ist der Unterschied zwischen Sklaverei und einem Arbeitsvertrag?“ etwas radikaler formuliert.

In der Sklaverei hat man darauf geachtet, dass Sklaven genügend zu essen hatten, um arbeiten zu können, ein Dach über dem Kopf haben, um nicht krank und damit arbeitsunfähig zu werden, und sich fortpflanzen können, um wieder neue Arbeitskräfte zu bekommen. Die dadurch entstehenden sogenannten Reproduktionskosten mussten auch in der Sklaverei gedeckt werden.

Der Unterschied zu einem Arbeitsvertrag sollte wohl darin liegen, dass das Spektrum weit darüber hinaus geht. Wir haben aber mehr und mehr Vollzeitjobs, mit denen man eben das nicht mehr garantieren kann. Wir haben Vollzeitjobs, die einen Nettolohn abbilden, mit dem nicht sicher ist, ob man damit noch wohnen, essen und leben kann. Und zwar weder während des Arbeitslebens, geschweige denn im Ruhestand.

Entspricht das tatsächlich der Realität?

Unser Sozialsystem ist darauf abgestellt, die großen Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter auszugleichen und abzudecken. Heute müssen wir sehen, dass es mehr und mehr Bereiche gibt, wo das nicht mehr stattfindet. Wenn ich also über den Wert der Arbeit diskutiere, muss ich mir die grundsätzliche Frage stellen, was ist ihr Mindestwert.  Ist es tatsächlich so, dass es reicht, dass ich 40 Stunden meiner Lebenszeit für jemanden aufwende und ich gerade einmal so viel verdiene, um über der Armutsschwelle zu leben? Das kann es nicht sein.

Nicht umsonst sagen wir als Gewerkschaften, dass ein gutes gelungenes Leben möglich sein muss. Und das ist erheblich mehr als das nackte Überleben, sonst wäre es ja nahe an besagter Sklaverei. Dazu kommt noch, wie gewisse Leistungen in der Gesellschaft bewertet werden. Aktuell werden Dienstleistungsbereiche, wie etwa die Care-Arbeit, ganz anders bewertet als beispielsweise Tätigkeiten in der klassischen Produktion oder Industrie.

Spielt das eine Rolle beim großen Thema Arbeitskräftemangel und der damit verbundenen großen Unruhe unter Arbeitgebern?

Ja, es wird jetzt besonders sichtbar, unter welchen Rahmenbedingungen jemand bereit ist, seinen Job auszuüben. Es sind meist jene Branche, die auch am lautesten nach einer Öffnung des Arbeitsmarktes rufen, um Arbeitskräfte aus Drittstaaten zu bekommen, die um wenig bis gar nichts bereit sind alles zu machen, weil sie genau wissen, dass sie nichts mehr zu verlieren haben. Diese logische Kette hat in den betreffenden Branchen sehr lange gut funktioniert. Jetzt wo es nicht mehr in diesem Ausmaß funktioniert, bricht vielerorts Panik aus.

Wie sehen Lösungsansätze aus, um aus dieser logischen Kette herauszukommen?

Es gibt eine Menge Ansätze. Die bittere Erkenntnis ist wahrscheinlich die, dass man in den letzten zwei Jahrzehnten viel verschlafen hat. Nehmen wir meine Lieblingsbranche, den Tourismus. Wenn ich etwa über Jahrzehnte hinweg kein eigenes Arbeitskräftepotenzial ausbilde, dann darf ich mich nicht wundern, wenn ich dann keine Arbeitskräfte mehr habe. Das hat noch gar nichts mit den Rahmenbedingungen zu tun.

Es muss etwa ganz gezielt und intensiv in Aus- und Weiterbildung investiert werden. Funktionierende Lehrwerkstätten etwa im staatsnahen Bereich dürfen nicht, wie in der Vergangenheit, geschlossen werden. Es braucht gezielte Fördersysteme, aber nicht im Sinne eines Gießkannensystems oder im Sinne jener, die näher an den politischen Entscheidungsträgern sind. Also nicht im Sinne jener, die kleine Münzen einwerfen, um dann das zu bekommen was sie für ihre Unternehmen, Aktionäre oder Eigentümer brauchen. Damit meine ich etwa ein Motorsport-Museum in Oberösterreich – da stellt sich die Frage, wie nachhaltig solche Förderungen sind.

Reichen Investitionen allein?

Nein, es geht nicht nur um das Geld, sondern ebenso um die politischen Rahmenbedingungen, also etwa das Arbeitskräftepotenzial bei Frauen. Dieses wird noch nicht in vollem Umfang genutzt, da die Rahmenbedingungen dafür nicht geschaffen werden. Wie wir wissen, ist Betreuungsarbeit noch immer überwiegend weiblich. Viele Frauen gehen dann, etwa in den Branchen, welche die vida vertritt, einer Arbeit nach, mit der sie irgendwie Geld verdienen können, gleichzeitig aber nie die Chance haben, sich im Berufsleben zu etablieren und ein Einkommen zu verdienen, von dem sich ein gutes Leben ausgeht. Geschweige denn sie im Alter eine Pension haben, von der sie tatsächlich leben können. Die Folge davon ist, dass wir aus heutiger Sicht eine Generation von Frauen haben, denen Altersarmut droht. Das wird dramatisch.

Ist das nicht auch das Problem mit Einmalzahlungen, sei es als Linderung der Inflationsauswirkungen, wie auch bei Gehaltserhöhungen. Denn etwa bei den Gehältern, sind diese langfristig nicht relevant für die Pension?

Vielleicht beginnen wir etwas grundsätzlicher, und zwar damit, was sich in der Wirtschaftswelt in den letzten Jahren verändert hat und zu einem Riesenproblem der Gestaltung der Arbeitswelt geworden ist. Es gab bisher die logische Teilung: Was ist ein Arbeitgeber und was ist der Arbeitnehmer? Der Arbeitgeber war jener, der das Risiko des Geschäfts trug, das der Investition und jenes der Auslastung. Er trug das Risiko für die Investition in Produktionsmittel und auch dafür, Aufträge heranzukarren, um die Menschen, die er anstellt, zu beschäftigen.  Und der Arbeitnehmer?  Der Arbeitnehmer sollte dieses Risiko nicht tragen. Das ist nicht die Idee dieses Systems und war es nie. Wie heißt es so schön im Arbeitsrecht: „Arbeitswillig und bereit zu definierten Zeiten zur Verfügung zu stehen und dafür eine Entschädigung zu bekommen“, also für jene Lebenszeit, die ein Arbeitnehmer dem Arbeitgeber verkauft.

In den letzten Jahren und Jahrzehnten wurde jedoch unter dem Stichwort der vermeintlichen Flexibilisierung, das Auslastungsrisiko zunehmend auf die Arbeitnehmer:innen abgewälzt. Was gleichzeitig nicht passiert ist, ist, dass die Gewinne, die dadurch entstanden sind, in gleichem Maße wie das Risiko übertragen wurden. Eine ähnliche Tendenz gibt es bei der Entlohnung. Man versucht den Bedarf immer wieder mit Einmalzahlungen abzudecken. Dadurch geht jedoch die Einkommensschere immer weiter auf: die Reallöhne und Lebenseinkommen sinken und das Kapitalvermögen wird immer größer.

Was sind die Auswirkungen?

Die gesellschaftspolitischen Auswirkungen beschleunigen sich durch die Teuerung. Alle gehen davon aus, dass die Preistreiberei, die jetzt in vielen Bereichen passiert, anhalten wird. Dass also die Preise auch im nächsten Jahr nicht sinken werden. Daher sehe ich diese Einmalzahlungen auch mehr als die sprichwörtliche vorgehaltene Karotte, ja als Almosen-Politik, bei der gesagt wird: „Zähne zusammenbeißen“. Gleichzeitig fördern Milliardäre gönnerhaft Sozialprojekte und argumentieren so, geringere Steuerbeiträge leisten zu müssen.

Dieses dauernde Hinhalten, also einmal bekommt man was, um zu überleben, einmal bekommt man nichts, schürt jedoch Verunsicherung und raubt Lebensperspektiven und damit Zuversicht. Es war und ist die Grundidee der Arbeiter:innenbewegung, das vermeintliche Risiko zu vermindern bis hin zu seiner gänzlichen Abschaffung. Denn Verunsicherung schränkt auch den Grad der Selbstbestimmung ein. Ohne Sicherheit ist meine Existenz bedroht, bei Krankheit, bei Arbeitslosigkeit, im Alter. Das untergräbt das Selbstbewusstsein. Doch letztendlich ist dieses Selbstbewusstsein das Fundament moderner Demokratien. Das Wesen moderner Demokratien liegt ja auch darin, selbstbewusst und ungestraft widersprechen zu können!

Danke für das Gespräch!

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