Renate Anderl im Interview über den besten Sozialstaat

Portrait von Renate Anderl, Präsidentin der Arbeiterkammer, während des Interviews mit Arbeit&Wirtschaft.
Die Arbeiterkammer hat sich eineinhalb Jahre intensiv mit der Verbesserung unseres Sozialstaats auseinander- gesetzt. Dringenden Handlungsbedarf sieht Renate Anderl unter anderem in einer Erhöhung des Arbeitslosengeldes und einer gerechteren Finanzierung durch Vermögende. | © Markus Zahradnik
Arbeiterkammer-Präsidentin Renate Anderl will den besten Sozialstaat der Welt für alle Menschen, die hier leben. Dafür seien zwei Dinge nötig: ausreichende Finanzierung und politischer Wille, erzählt sie im Interview mit Arbeit&Wirtschaft.

Der Sozialstaat ist der feste Boden, auf dem wir alle stehen – er reicht von Bildungseinrichtungen über das Arbeitsleben bis zur Pension. Arbeiterkammer-Präsidentin Renate Anderl betont, dass der Sozialstaat nicht nur Gerechtigkeit schafft, sondern auch untrennbar mit Demokratie verknüpft ist. Im Interview gibt Anderl einen Einblick, warum der Sozialstaat allen zugutekommt – von den Armen bis zu den Reichen. Und warum politischer Wille entscheidend ist, damit Wohlhabende mehr zur Finanzierung beitragen. Obwohl der Sozialstaat derzeit stabil erscheint, warnt sie vor Finanzierungsproblemen. Außerdem präsentiert sie Ideen der Arbeiterkammer zum Gelingen des Sozialstaats bis zum Jahr 2030.

Renate Anderl im Interview

Arbeit&Wirtschaft: Frau Anderl, die Arbeiterkammer will bis 2030 den besten Sozialstaat der Welt für alle, die in Österreich leben. Wie soll das gehen?

Renate Anderl: Wir haben derzeit einen gut funktionierenden Sozialstaat, der viele Menschen absichert und dazu beiträgt, die Ungleichheit im Land zu verringern. Aber er hat auch Lücken. Ich möchte, dass wir unseren Sozialstaat stärken und ausbauen, damit auch in Zukunft alle Menschen, die hier leben, ein gutes und sicheres Leben führen können.

Was zeichnet unseren Sozialstaat aus?

Der österreichische Sozialstaat ist für uns alle da. Er hilft uns, wenn wir Hilfe und Unterstützung in schwierigen oder herausfordernden Lebenslagen benötigen, beispielsweise wenn wir arbeitslos sind oder einen Unfall hatten. Aber unser Sozialstaat ist noch viel mehr, er begleitet uns sozusagen von Geburt an: von der kostenfreien Versorgung von Mutter und Kind bei der Geburt über den Schulbesuch und das Erwerbsleben bis in die Pension. Der Sozialstaat ist uns ein treuer Begleiter durch unser gesamtes Leben.

Warum glauben manche Leute, dass sie den Sozialstaat nicht brauchen?

Viele Menschen merken erst, wie wichtig ein gut ausgebauter Sozialstaat ist, wenn sie mit einer unerwarteten Krise oder einem Problem konfrontiert sind – etwa wenn man plötzlich arbeitslos wird. Der Sozialstaat unterstützt hier ganz direkt in Form von Geldleistungen die Menschen. Aber unser Sozialstaat besteht nicht nur aus Geldleistungen, sondern er stellt auch Infrastruktur zur Verfügung – Kindergärten und Schulen, Krankenhäuser, öffentliche Verkehrsmittel. Alle Menschen profitieren davon, und ich bin davon überzeugt, dass alle Menschen unseren Sozialstaat schon einmal gebraucht haben bzw. noch brauchen werden. Wir müssen daher auch ein Bewusstsein dafür schaffen, was unser Sozialstaat ist, und bei verschiedensten Gelegenheiten erklären, wo die Menschen überall mit der Unterstützung durch den Sozialstaat rechnen können.

Portrait von Renate Anderl, Präsidentin der Arbeiterkammer, während des Interviews mit Arbeit&Wirtschaft.
„Vom Sozialstaat profitieren alle Menschen“, sagt Renate Anderl. Denn neben Geldleistungen stellt er jede Menge Infrastruktur zur Verfügung: Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, öffentliche Verkehrsmittel, Parks, Wasserversorgung, Müllabfuhr oder Rettung. | © Markus Zahradnik
Beschäftigung ist eng mit sozialer Absicherung verknüpft – warum?

Unsere Beschäftigung sichert unser Leben ab – schon während der Erwerbstätigkeit, aber auch in der Arbeitslosigkeit und in der Pension. Wer während des Erwerbslebens in Teilzeit arbeitet, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit, in Altersarmut zu landen. Das trifft vor allem Frauen. Hier muss die Politik aktiv gegensteuern – etwa mit einem Ausbau der Kinderbildungseinrichtungen. Wir brauchen flächendeckende und ganztägige, kostenlose Kinderbildungseinrichtungen – damit Frauen echte Wahlfreiheit haben. Auch auf dem Arbeitsmarkt läuft derzeit vieles schief. Es ist schrecklich, im Job nicht mehr gebraucht zu werden, weil man zu alt ist. Dem müssen wir entschieden entgegentreten – mit Schulungen und Beschäftigungsinitiativen für Ältere. Da muss das AMS noch mehr investieren und noch bessere Möglichkeiten zur Umschulung anbieten bzw. Arbeitsuchende rascher vermitteln. Dafür braucht das AMS auch dringend mehr Personal.

Wie hängen Sozialstaat und Demokratie zusammen?

Mitbestimmung und Mitgestaltung sind zentrale Elemente unseres Sozialstaats. Nur wer seine Stimme abgeben kann, kann Politik mitbestimmen und damit die Elemente unseres Sozialstaats mitgestalten. Leider dürfen in Österreich nicht alle Menschen, die hier leben, arbeiten und Steuern zahlen, bei Nationalrats- und Landtagswahlen ihre Stimme abgeben. Warum? Weil sie keine österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Sie können damit nicht über die Ausgestaltung unseres Sozialstaats mitbestimmen. Das ist ein großes demokratiepolitisches Defizit.

Bei der AK-Wahl dürfen alle wählen, die in Österreich arbeiten – ungeachtet der Staatsbürgerschaft. „Nur wer seine Stimme abgeben kann“, so Renate Anderl, „kann Politik mitbestimmen und unseren Sozialstaat mitgestalten.“ | © Markus Zahradnik

Anders handhaben wir das in der Arbeiterkammer, denn bei den Arbeiterkammer-Wahlen dürfen alle Arbeitnehmer:innen ihre Stimme abgeben, ungeachtet der Staatsbürgerschaft. Die nächsten AK-Wahlen finden 2024 statt. Es ist wichtig, bei jeder Gelegenheit seine Stimme abzugeben, um mitzubestimmen, welchen politischen Weg eine Institution künftig einschlagen soll, aber auch welche politische Richtung in dem Land, in dem sie arbeiten und leben, gestärkt werden soll. Ich trommle dieses Credo tagaus, tagein, wenn ich mit den Menschen spreche, denn ich möchte, dass die Wahlbeteiligung bei der nächsten AK-Wahl im kommenden Jahr kräftig ausfällt.

Wie hängen Sozialstaat und Klimaschutz zusammen?

Die Klimakrise ist längst auch in Österreich angekommen, wir hatten den heißesten September seit Beginn der Aufzeichnungen. Sie ist eine zutiefst soziale Frage. Zum einen, weil gerade reiche Menschen um ein Vielfaches mehr an Emissionen verursachen, weil sie beispielsweise mit dem Privatjet von A nach B fliegen, zum anderen sind aber arme Menschen die Leidtragenden der Klimakrise, denn sie leben zum Beispiel häufig in Mietwohnungen ohne Balkon und ohne Klimaanlage oder arbeiten in Produktionshallen, die im Sommer sehr, sehr heiß werden. Die Klimakrise wirkt sich also massiv auf die Arbeitsplätze und die Lebensrealitäten der Arbeitnehmer:innen aus. Um die Klimakrise zu bekämpfen, müssen wir unsere Wirtschaft umbauen – das kann uns nur mit einer sozial-ökologischen Transformation gelingen.

Was haben die Reichen vom Sozialstaat?

Der Sozialstaat ist für uns alle da, er sichert den gesellschaftlichen Zusammenhalt ab. Vom Sozialstaat profitieren alle Bevölkerungsgruppen – ob Arme oder Reiche, Arbeitnehmer:innen genauso wie Landwirt:innen, Selbstständige und Unternehmen. Ein gut ausgebauter Sozialstaat ist der Garant für soziale Sicherheit und für sozialen Frieden und zielt auf die Verringerung sozialer Unterschiede ab. Unser Sozialstaat trägt beispielsweise auch dazu bei, dass es bei uns eine funktionierende Infrastruktur gibt, dass der Müll von der Straße geräumt wird und es öffentliche Erholungsflächen sowie kostenlose und frei zugängliche Bildungseinrichtungen gibt. Auch die Kollektivvertragsverhandlungen sind Teil des Sozialstaats, weil Gewerkschaften jedes Jahr dafür kämpfen, dass die Lohnerhöhungen die Teuerungen des abgelaufenen Jahres ausgleichen.

„In Österreich ist viel Geld vorhanden, wir sind eines der reichsten Länder der Welt. Wir müssen dieses Vermögen gerechter verteilen, dann ist auch die Finanzierung des besten Sozialstaats der Welt gesichert“, erklärt Renate Anderl. | © Markus Zahradnik
Wie soll der beste Sozialstaat der Welt finanziert werden?

In Österreich ist viel Geld vorhanden, wir sind eines der reichsten Länder der Welt. Wir müssen dieses Vermögen gerechter verteilen, dann ist auch die Finanzierung des besten Sozialstaats der Welt gesichert. Auch jene, die mehr besitzen, profitieren vom Sozialstaat und sollten mehr zu seiner Finanzierung beitragen. Dafür braucht es den politischen Willen.

Ist unser Sozialstaat in Gefahr?

Ich sehe den Sozialstaat aktuell nicht bedroht, aber es gibt durchaus Grund zur Sorge. Das betrifft vor allem die Finanzierung. Denn unser Sozialstaat wird in erster Linie von den Arbeitnehmer:innen und Konsument:innen finanziert, während Vermögende relativ wenig zur Finanzierung des Sozialstaats beitragen. Wir brauchen eine gerechte Finanzierung, damit wir unseren Sozialstaat auch für die Zukunft gut absichern und vor allem ausbauen können. Wir haben leider auch gesehen, dass in den vergangenen Jahren die Leistungen des Sozialstaats, von denen vor allem gewisse Gruppen profitieren – Arbeitslose, Alleinerziehende, Menschen mit Migrationsgeschichte –, immer weiter beschnitten wurden. Das führt dazu, dass immer mehr Menschen in Armut abrutschen. Da müssen wir gegensteuern, etwa mit einer höheren Nettoersatzrate beim Arbeitslosengeld.

In welchen Bereichen müssen wir den Sozialstaat weiter ausbauen?

Wir haben einen guten Sozialstaat. Wir wissen aber, dass es international viele Beispiele dafür gibt, wie es besser gehen könnte. Die Arbeiterkammer hat sich eineinhalb Jahre intensiv mit der Verbesserung unseres Sozialstaats auseinandergesetzt. Wir haben viele Ideen und Vorschläge, wie wir unseren Sozialstaat verbessern können. Aktuell ganz dringend brauchen wir ein höheres Arbeitslosengeld, auch die Notstandshilfe und die Mindestsicherung müssen angehoben werden. Es geht darum, Armut zu verhindern. Ein gutes Leben muss auch in Phasen möglich sein, in denen man arbeitslos ist oder nur eingeschränkt einer Beschäftigung nachgehen kann.

Portrait von Renate Anderl, Präsidentin der Arbeiterkammer, während des Interviews mit Arbeit&Wirtschaft.
„Ein gutes Leben muss auch in Phasen möglich sein, in denen man arbeitslos ist oder nur eingeschränkt einer Beschäftigung nachgehen kann“, so Anderl. | © Markus Zahradnik
Was muss noch verbessert werden?

In Österreich sind rund 1,3 Millionen Menschen von Armut betroffen, 312.000 davon sind Kinder. Wir wollen nicht, dass Pensionist:innen von ihrem Einkommen nicht leben können und Alleinerzieher:innen ausgegrenzt werden. Derartige soziale Ungleichheiten gefährden die soziale Sicherheit. Wir sehen auch großen Verbesserungsbedarf im Bildungsbereich. Bildung wird in Österreich vererbt: Kinder aus Arbeiter:innenfamilien sind an Universitäten noch immer stark unterrepräsentiert. Auch die Teuerung hat Auswirkungen auf die Bildung, etwa weil sich viele Eltern keine Nachhilfestunden mehr leisten können. Ich möchte, dass alle Kinder in diesem Land die gleichen Bildungschancen haben – unabhängig vom Geldbörsel der Eltern.

Sehen Sie auch Handlungsbedarf im Gesundheitssystem?

Wir haben ein gutes Gesundheitssystem, aber es muss weiter ausgebaut und gestärkt werden. Wir brauchen viel mehr Kassenärzt:innen und mehr Pflegepersonal, um allen Menschen die beste Gesundheitsversorgung garantieren zu können. Und es geht dabei auch ganz stark um die Arbeitsbedingungen im Gesundheits- und Pflegebereich: Während der COVID-19-Pandemie haben wir die Kolleg:innen beklatscht. Jetzt ist es höchste Zeit, die Arbeitsbedingungen zu verbessern.

An welchen Schrauben müsste noch gedreht werden?

Ein Thema, das uns auch in Zukunft noch weiter stark beschäftigen wird, ist das Thema gute Arbeit. 1,5 Millionen Arbeitnehmer:innen können sich nicht vorstellen, bis zur Pension in ihrem Job zu bleiben. Das liegt auch daran, dass die Arbeitsbedingungen in manchen Branchen sehr schlecht sind. Der Arbeitsdruck steigt, immer mehr Arbeitnehmer:innen müssen Überstunden machen – und das zum Teil unbezahlt. Die 40-Stunden-Woche ist fast 50 Jahre alt, das ist nicht mehr zeitgemäß. Wir müssen endlich ernsthaft über eine Arbeitszeitverkürzung diskutieren.

Auch Weiterbildungsmaßnahmen sind ein großes Thema. Immer weniger Arbeitgeber:innen investieren in die Aus- und Weiterbildung ihrer Mitarbeiter:innen – und wundern sich dann, dass sie keine Arbeits- und Fachkräfte finden. Wir müssen hier die Unternehmen in die Pflicht nehmen. Die Arbeiterkammer wird auf jeden Fall weiter daran arbeiten, dass der beste Sozialstaat bis 2030 keine Utopie bleibt.

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Über den/die Autor:in

Andrea Rogy

Andrea Rogy schreibt unter anderem für die NÖN und arbeitet als Lektorin
im Studiengang Soziale Arbeit an der Fachhochschule St. Pölten.

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