Interview: Warum Mümtaz Karakurt die Republik verklagte

Portrait von Mümtaz Karakurt im Interview über die Rechte von Migrant:innen im Betriebsrat.
In den 1980ern wurde klar: Die sogenannten „Gastarbeiter:innen“ würden bleiben und Unterstützung brauchen. So entstand 1985 der „Verein zur Betreuung der Ausländer in Oberösterreich“, heute „migrare“. Mümtaz Karakurt ist von Beginn an dabei. | © Markus Zahradnik
Zwölf Jahre hat es gedauert, bis Mümtaz Karakurt gemeinsam mit der GPA im Jahr 2006 das passive Wahlrecht für Nicht-Österreicher:innen zu Betriebsratswahlen erkämpfte. Sein Anliegen damals wie heute: bessere Chancen von Migrant:innen in der Arbeitswelt.
Im Jahr 1994 kandidieren der Türke Mümtaz Karakurt und der aus Kroatien stammende Vladimir Polak zum Betriebsrat. Polak hatte bereits die österreichische Staatsbürgerschaft und damit das passive Wahlrecht, Karakurt nicht. Die beiden schmieden einen Plan. Mümtaz Karakurt wird in den Betriebsrat gewählt, und Vladimir Polak soll ihn daraufhin klagen, weil er als Nicht-Österreicher gar nicht kandidieren darf. Das Ziel der beiden: Das Gericht soll das Kandidaturverbot für Nicht-Österreicher:innen aufheben. Migrant:innen im Betriebsrat waren damals ein rechtlich umkämpftes Gebiet. Karakurt und Polak fechten sich durch viele Instanzen und werden abgelehnt. Sie versuchen ihr Glück beim Obersten Gerichtshof, werden abgelehnt. Sie klagen mit Unterstützung der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA) die Republik beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die Klage wird abgewiesen.

Für mehr Diversität: Migrant:innen im Betriebsrat

Erst der Ausschuss für Menschenrechte der Vereinten Nationen stellt schließlich eine Diskriminierung und eine Verletzung von internationalem Recht durch Österreich fest. Allerdings ist diese Entscheidung rechtlich nicht bindend und bleibt somit folgenlos. Zehn Jahre vergehen seit der Kandidatur Karakurts, bis 2004 das entscheidende Urteil folgt. Die Europäische Kommission klagt Österreich vor dem Europäischen Gerichtshof und bekommt Recht. Ausgerechnet die schwarz-blaue Regierung ist es, die 2005 das passive Wahlrecht für alle Arbeitnehmer:innen bei Arbeiterkammer- und Betriebsratswahlen im Parlament beschließen muss. Seit 2006 dürfen Nicht-Österreicher:innen bei Betriebsrats- und AK-Wahlen kandidieren – ein Meilenstein für die hochgepriesene Diversität im Betriebsrat. Im Interview erzählt Mümtaz Karakurt, wie es heute um die Mitbestimmung und das Arbeitsleben von Migrant:innen in Österreich steht.

Portrait von Mümtaz Karakurt im Interview über die Rechte von Migrant:innen im Betriebsrat.
Ein inklusives Wahlrecht und ein zeitgemäßes Staatsbürgerschaftsrecht würden die Demokratie im Land stärken, ist Karakurt überzeugt. Immerhin kommen in Österreich täglich 47 Kinder als „Fremde“ zur Welt. | © Markus Zahradnik

Arbeit&Wirtschaft: Sie wurden im Jahr 1994 in den Betriebsrat des Linzer „Vereins zur Betreuung der Ausländer in Oberösterreich“, heute migrare, gewählt. Aber dann haben Sie Ihr Mandat verloren. Was ist damals passiert?

Mümtaz Karakurt: Ich bin seit 1989 beim Verein angestellt. Damals waren wir insgesamt fünf Personen. Mein Kollege Vladimir Polak, der leider kürzlich verstorben ist, ist in der Österreichischen Gewerkschaftsjugend und dem Österreichischen Gewerkschaftsbund sozialisiert worden und war in seiner vorherigen Arbeit im Jugendvertrauensrat. Wir hatten zwar keine Probleme im Verein, aber wir meinten, dass Mitbestimmung wichtig ist, daher gründeten wir einen Betriebsrat. Das war im Juni 1990. Gemeinsam haben wir eine Periode lang dafür gekämpft, dass Migrant:innen nicht nur das aktive, sondern auch das passive Wahlrecht erhalten. Damals hatten wir allerdings nicht die notwendige politische Unterstützung für das Vorhaben und mussten akzeptieren, dass dieses Anliegen politisch nicht durchsetzbar war. Nach der nächsten Betriebsratswahl 1994, die ich gewonnen habe, beschlossen Kollege Polak und ich, dass er die Wahl anficht, und somit begann ein über zehn Jahre andauernder Prozess, bis im Jahr 2006 das Arbeiterkammergesetz und das Arbeitsverfassungsgesetz novelliert werden mussten.

Seit 2003 leiten Sie den Verein migrare. Was genau macht der Verein?

Ende der 1970er-Jahre erkannte die Republik Österreich, dass die sogenannten Gastarbeiter:innen keine Gäste waren, sondern bleiben würden. Unter Sozialminister Alfred Dallinger wurde Anfang der 1980er-Jahre beschlossen, dass es eine Verantwortung gegenüber diesen Personen geben sollte und es in allen Bundesländern Einrichtungen brauchte, da diese Menschen in der Arbeitswelt, aber auch darüber hinaus, spezielle Anliegen hatten und Unterstützung benötigten. So wurde der Verein 1985 gegründet.

Wie hat sich die Arbeit von migrare über die Zeit verändert?

Es hat sich sehr viel getan. Anfang der 1990er-Jahre hatten wir mit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien extreme Herausforderungen. Kriege sind brutal, man kann alles verlieren. Wenn Geflüchtete in einem neuen Land keine Unterstützung bekommen, dann kommen sie aus dieser Kriegsspirale nicht heraus und bleiben traumatisiert. Wir haben die Geflüchteten dabei unterstützt, in ihren ursprünglichen Berufen auch in Österreich wieder Fuß zu fassen, eine neue Existenz aufzubauen und ihre Familien nachzuholen. Beratungen zu Gesundheitsvorsorge, zur Bewältigung von Kriegstraumata oder zum Spracherwerb waren weitere Aspekte, die folgten. Aktuell sind wir mehr mit dem Mangel an Facharbeitskräften konfrontiert. Wir helfen Personen dabei, zu erreichen, dass ihre im Ausland erworbenen Qualifikationen in Österreich anerkannt werden, damit sie bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Wir bieten aber auch eine spezielle Frauen- und Bildungsberatung an. Mittlerweile sind wir eine mittelgroße Sozialorganisation, die Dienstleistungen im Bereich Migration, Integration, Arbeit, Bildung, Soziales und Gesundheit anbietet.

Bei migrare bekommen wir Anfragen von Menschen, die wissen wollen, ob sie in Österreich aufgrund ihrer Hautfarbe gut oder schlecht behandelt werden, falls sie als Fachkraft hierherkommen. 

Mümtaz Karakurt, Geschäftsführer von migrare

Hat sich die Situation für Migrant:innen auf dem österreichischen Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahrzehnten verändert?

Leider ist in Österreich die Dequalifizierung sehr hoch. Das bedeutet: Menschen arbeiten unter ihren Kompetenzen und Qualifikationen. Auf dem Arbeitsmarkt sind Diskriminierung und Rassismus außerdem weiterhin verbreitet. Hier fehlt ein wirkungsvoller Schutz für diese Personen. Untersuchungen weisen nach, dass ein „falscher“ Name ausreicht, um zu Vorstellungsgesprächen nicht eingeladen zu werden. Bei migrare bekommen wir Anfragen von Menschen, die wissen wollen, ob sie in Österreich aufgrund ihrer Hautfarbe gut oder schlecht behandelt werden, falls sie als Fachkraft hierherkommen.

Portrait von Mümtaz Karakurt im Interview über die Rechte von Migrant:innen im Betriebsrat.
Ein inklusives Wahlrecht und ein zeitgemäßes Staatsbürgerschaftsrecht würden die Demokratie im Land stärken, ist Karakurt überzeugt. Immerhin kommen in Österreich täglich 47 Kinder als „Fremde“ zur Welt. | © Markus Zahradnik

Österreich braucht in vielen Bereichen Fachkräfte aus dem Ausland, um weiterhin diverse Leistungen anbieten zu können. Sind wir hier auf dem richtigen Weg?

Spät, aber doch hat Österreich die Notwendigkeit erkannt, dass es mit anderen Ländern Vereinbarungen abschließen muss. Anfang Dezember 2023 wurde außerdem die Fachkräftestrategie der Bundesregierung beschlossen. Entscheidungen und Umsetzungen dauern bei uns lange. Wenn ein Restaurant dringend Personal benötigt, dann werden diese Personen jetzt gebraucht und nicht kommende Saison. Die ganze Bürokratie muss modernisiert und digitalisiert werden. Da haben wir starken Aufholbedarf. Neben der technischen Seite gibt es aber noch die politische: Manche Politiker:innen signalisieren, dass Arbeitskräfte aus dem Ausland nicht willkommen sind. Wird diese Politik fortgeführt, bekommt Österreich in Zukunft keine klugen Köpfe aus dem Ausland mehr. Solange Menschen aufgrund ihrer Sprache oder ihres Aussehens negative Behandlung erfahren, entwickelt sich nur schwer ein Gefühl des Willkommenseins.

Wie beurteilen Sie die Kriterien zur Vergabe der Rot-Weiß-Rot-Karte für Drittstaatsangehörige?

Die Rot-Weiß-Rot-Karte ist zweimal novelliert worden, da die Rechnung nicht aufgegangen ist. Aber es gehört nach wie vor einiges geändert. Wir haben in Österreich beispielsweise standardisierte Strukturen: Ein:e Tischler:in braucht eine dreijährige duale Berufsausbildung. Das funktioniert zwar gut, aber eine solche Ausbildungsform ist weltweit nicht überall verbreitet. Die Qualifikationen werden oft anders erlangt, und wir müssen hier durchlässiger werden. Ich bin nicht dafür, dass man den hohen österreichischen Standard aufgibt, aber trotzdem müssen wir uns breiter aufstellen, denn es entspricht nicht der Wahrheit, dass nur die duale Ausbildung etwas wert ist.

Braucht es mehr Kooperationen mit Staaten, aus denen man Arbeitskräfte anwerben möchte?

Im akademischen Bereich innerhalb der Europäischen Union ist diese Annäherung bereits vollzogen. Es braucht jedoch auch bei anderen Berufsfeldern mehr Austausch und Verhandlungen. Gefragt ist mehr gegenseitiger Überblick: Wie läuft es dort ab, wie bei uns? Welche Angebote an den Schnittstellen kann man machen? Das verlangt Flexibilität, die aber aufgrund unserer Strukturen nicht leicht herzustellen ist.

In Oberösterreich und Vorarlberg sollen Asylwerbende zu Hilfstätigkeiten verpflichtet werden. Wie stehen Sie zu diesem Vorhaben?

Asylwerber:innen bekommen nur unter sehr erschwerten Bedingungen eine Beschäftigungsbewilligung. Sie sind zum Nichtstun verurteilt. Dann zu sagen: „Ich werde euch zwingen, Hilfstätigkeiten auszuüben“, ist einfach nicht korrekt. Uns kontaktieren viele Asylwerber:innen, weil sie arbeiten möchten. Deutschland geht hier einen anderen Weg: Dort können im Rahmen des neuen Fachkräftegesetzes seit 1. Jänner 2024 Asylwerber:innen den „Spurwechsel“ machen, wenn sie als Fachkraft eine Arbeit finden. Damit können sie unabhängig vom Ausgang ihres Asylverfahrens ihren rechtlichen Status absichern. Hier könnte man sich auf jeden Fall etwas abschauen. Bei erzwungenen Hilfstätigkeiten, die zu niedrig entlohnt sind, müsste man auch kritisch prüfen, wie sich das auf die Entlohnung anderer Beschäftigter auswirkt.

Portrait von Mümtaz Karakurt im Interview über die Rechte von Migrant:innen im Betriebsrat.
Mümtaz Karakurt wirbt für die AK-Wahl. „In Österreich ist Sudern und Jammern weitverbreitet, aber bei diesen Wahlen hat man die Möglichkeit, schlechte Politik zu bestrafen und gute Politik zu belohnen.“ | © Markus Zahradnik

Das Demokratiedefizit in Österreich steigt weiter. In Wien hat sich die Anzahl jener Menschen, die weder bei Gemeinderats- noch bei Landtags- oder Nationalratswahlen wählen dürfen, seit dem Jahr 2002 auf 33,4 Prozent verdoppelt. Was muss hier geschehen?

Grundsätzlich muss man sagen, dass sich die repräsentative Demokratie selbst abschafft. Wenn wir Menschen keine Möglichkeit geben, sich mit dem Staat oder einer Gemeinde zu identifizieren, um die Zukunft mitzugestalten, dann wenden sich diese von der Demokratie ab. Neben dem Ausschluss vom Wahlrecht werden gleichzeitig die Hürden für die österreichische Staatsbürgerschaft immer höher. Hier ist eine gesetzliche Änderung hin zu einem inklusiven Wahlrecht und einem praktikablen, zeitgemäßen Staatsbürgerschaftsrecht nötig.

Beispielsweise könnte man es Menschen nach einer gewissen Aufenthaltsdauer ermöglichen, bei Gemeinderats- und Landtagswahlen zu wählen. Diese Möglichkeit gibt es in unterschiedlichen Ländern. Wenn man das im Parlament aufgrund fehlender Mehrheiten nicht umsetzen kann, dann müsste man das Staatsbürgerschaftsgesetz radikal ändern. Bei den Einbürgerungen liegt Österreich in der Europäischen Union weit hinten. Von 1.000 Nicht-Österreicher:innen bekommen nur sieben die österreichische Staatsbürgerschaft. Wir wissen, dass jeden Tag in Österreich 47 Kinder als „Fremde“ auf die Welt kommen. Das sind jährlich 17.000 Kinder, die zukünftig von der Mitbestimmung ausgeschlossen werden. Wir schaffen damit eine Zweiklassengesellschaft.

Heuer finden die AK-Wahlen statt – für Drittstaatsangehörige die einzige Möglichkeit, wählen zu gehen. Wie wichtig sind solche Wahlen?

Sehr! In Österreich ist Sudern und Jammern weitverbreitet, aber bei diesen Wahlen hat man die Möglichkeit, schlechte Politik zu bestrafen und gute Politik zu belohnen. Ich denke, dass es den Menschen bewusst gemacht werden muss, dass sie wählen gehen dürfen, damit sie sich im Vorfeld auch mit der Wahl beschäftigen und herausfinden können, wer welche Positionen vertritt. migrare hat sich deshalb auch für die AK-Wahl in Oberösterreich als Wahllokal angeboten, und unser Betriebsrat versucht, die Menschen für die Teilnahme an den Wahlen zu mobilisieren.

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Über den/die Autor:in

Stefan Mayer

Stefan Mayer arbeitete viele Jahre in der Privatwirtschaft, ehe er mit Anfang 30 Geschichte und Politikwissenschaft zu studieren begann. Er schreibt für unterschiedliche Publikationen in den Bereichen Wirtschaft, Politik und Sport.

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