Überstunden: WKO verunglimpft eindeutige Daten als „Negativkampagne“

Ein Angestellter registriert seine Arbeitszeit und Überstunden mit einer Stechuhr.
Arbeitgeber:innen haben jede vierte Überstunde in Österreich nicht abgegolten. | © Adobestock/Mint Images
Jede vierte Überstunde in Österreich wird nicht mit Geld oder Zeitausgleich abgegolten, rechnet Statistik Austria vor. Die Wirtschaftskammer hält die Zahlen der Bundesanstalt für eine „Negativkampagne“.
Die Zahlen zeichnen ein verheerendes Bild. Jede vierte Überstunde wird in Österreich nicht abgegolten – weder durch Geld noch durch Zeitausgleich. Es geht um insgesamt 47 Millionen Überstunden. Zu diesem Schluss kommt Statistik Austria. Die selbstständige Bundesanstalt steht wie kaum eine zweite Einrichtung in Österreich für unabhängige Daten. Dennoch wittert die Wirtschaftskammer (WKO) in den Zahlen eine „Negativkampagne“ und fordert ihrerseits Steuererleichterungen.

Jede vierte Überstunde unbezahlt

Die Zahl der unbezahlten Überstunden ist in Österreich im vergangenen Jahr sprunghaft gestiegen. Sind es üblicherweise etwa 40 Millionen, waren es im Jahr 2022 plötzlich 47 Millionen Stunden. In Zeiten massiver Inflation sind den Beschäftigten auf diese Art 1,2 Milliarden Euro entgangen. Das Geld blieb so bei den Unternehmen und erhöhte die ohnehin rekordverdächtigen Gewinne noch weiter.

Portrait von Ines Stilling, Bereichsleiterin Soziales der AK Wien. Sie gab eine Pressekonferenz zum Thema krank in die Arbeit. Symbolbild für Überstunden in Österreich.
„Auf der anderen Seite werden viele Arbeitnehmer:innen aber nicht bezahlt, wenn sie mehr arbeiten. Das passt doch vorn und hinten nicht zusammen“, sagt Ines Stilling von der Arbeiterkammer.

Zwischen Männern und Frauen gibt es dabei signifikante Unterschiede. Bei Männern werden lediglich 23 Prozent der Überstunden nicht abgegolten. Bei Frauen – die vermehrt in Teilzeit arbeiten – sind es dagegen 28 Prozent. Ines Stilling ist Sozialbereichsleiterin bei der Arbeiterkammer Wien und findet deutliche Worte. „Das ist ein systematischer Lohnbetrug, der die Arbeitnehmer:innen im letzten Jahr insgesamt 1,2 Milliarden Euro gekostet hat. Frauen sind noch stärker betroffen als Männer. Angesichts dieser Zahlen befremdet die Klage über den angeblichen Arbeitskräftemangel und das Teilzeit-Bashing sehr.“

Überstunden und Leistungsdruck: Österreicher:innen wollen weniger arbeiten

Die Zahlen stammen aus einer Sonderauswertung der Statistik Austria für die AK Wien und passen ins Gesamtbild der Arbeitswelt in Österreich. Längst zeigt die Kurve der Arbeitszufriedenheit nach unten. Der Arbeitsklimaindex der AK Oberösterreich weist für das vergangene Jahr deutlich schlechtere Werte aus als noch vor der Coronapandemie.

Wenn sowohl die Arbeitsbedingungen unzumutbar sind als auch das Entgelt nicht passt, braucht sich niemand zu wundern, wenn die Menschen ihre Arbeitszeit verringern wollen. 

Ines Stilling, Sozialbereichsleiterin Arbeiterkammer Wien

Kein Wunder, dass Österreicher:innen weniger arbeiten wollen. Erstmals überhaupt möchte mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer:innen weniger arbeiten. Psychischer Stress, Überstunden, mangelnde Unterstützung durch das Management und überlange Arbeitszeiten sind dafür die Hauptgründe. „Die durchschnittliche Wunscharbeitszeit der Männer ist 37,2 Stunden, jene der Frauen 32,2 Stunden“, heißt es im Arbeitsklimaindex.

Unbezahlte Überstunden: Wirtschaftskammer sieht „Negativkampagne“

Auf die Daten der Statistik Austria hat die Wirtschaftskammer einen ganz eigenen Blick. Diese seien „nicht nachvollziehbar“. Aus eigenen Umfragen wisse man, „dass heimische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Überstunden aktiv nachfragen und die Steuerbefreiung von Überstunden als geeignetes Mittel gegen den Arbeitskräftemangel ansehen“, wie sich Julia Moreno-Hasenöhrl in einer Aussendung zitieren lässt. Sie ist stellvertretende Leiterin der Abteilung für Sozialpolitik in der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ).

Die WKÖ sieht „Negativkampagnen“, wie sie die Erhebung der Statistik Austria nennt, fehl am Platz und fordert „die Anzahl der steuerfreien Überstundenzuschläge – derzeit 10 pro Monat – zu verdoppeln.“ Von den Problemen in der Teilzeit, dem Arbeitsklimaindex, der Gierflation und einer eher zynischen Kampagne namens ‚Leistung muss sich (wieder) lohnen‘ ist nicht die Rede. In letzterer fordert die Industriellenvereinigung längere Phasen mit sehr langen Arbeitszeiten (60-Stunden-Woche) und eine Erhöhung der Plus- sowie Minusstundenkontingente.

Das kommentierten Rainer Wimmer und Karl Dürtscher, die Verhandler auf der Arbeitnehmer:innenseite, schon während der Herbstlohnrunde eindeutig: „Das bedeutet im Klartext, arbeiten bis zum Umfallen und gleichzeitig weniger Lohn und Gehalt durch den Wegfall von Überstundenzuschlägen. Das werden wir nicht zulassen!“

Überstunden verhindern, Teilzeit verbessern

Angesichts des immer schlechter werdenden Arbeitsklimaindex und der Inflation, die von immer höheren Renditen getrieben wird, sieht die Arbeiterkammer bei der Verbesserung der Situation vor allem die Arbeitgeber:innen in der Pflicht. Dafür hat sie fünf Vorschläge erarbeitet, um die Situation der Beschäftigten zu verbessern und unbezahlte Überstunden zu vermeiden:

  • Teilzeitbeschäftigten muss der Mehrarbeitszuschlag ab der ersten Stunde zustehen. Der Zeitausgleichszeitraum von drei Monaten muss wegfallen und der Zuschlag auf 50 Prozent angehoben werden.
  • Pro geleisteter Überstunde sollen Arbeitgeber:innen einen Überstunden-Euro abführen müssen, der zweckgewidmet für Aufgaben der Arbeitsmarktpolitik und des Gesundheitsschutzes eingesetzt werden soll.
  • Wer Entgelt für Mehr- und Überstundenentgelt muss sanktioniert werden können.
  • Verbot von All-In-Verträgen.
  • Es darf keinen Verfall von Mehr- und Überstunden im aufrechten Arbeitsverhältnis geben.

In Sachen Arbeitszeit ist Österreich im europäischen Spitzenfeld. Lediglich in Griechenland arbeiten die Menschen mehr. Gleichzeitig ist Österreich eines der produktivsten Länder der Welt. Das ausgerechnet hierzulande die Beschäftigten von dieser Leistung nicht profitieren sollen, ist nicht zu rechtfertigen. Eine Arbeitszeitverkürzung ist längt überfällig.

Über den/die Autor:in

Christian Domke Seidel

Christian Domke Seidel hat als Tageszeitungsjournalist in Bayern und Hessen begonnen, besuchte dann die bayerische Presseakademie und wurde Redakteur. In dieser Position arbeitete er in Österreich lange Zeit für die Autorevue, bevor er als freier Journalist und Chef vom Dienst für eine ganze Reihe von Publikationen in Österreich und Deutschland tätig wurde.

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