Spannungsfeld Krankenhaus + Podcast

Harald Stefan, Leiter der Psychiatrie des Klinikums Landstraße, im Interview.
© Markus Zahradnik

Inhalt

  1. Seite 1 - Spannungsfeld Psychiatrie
  2. Seite 2 - Konflikte auf der Covid-Station
  3. Seite 3 - Personalnot in der Pflege
  4. Seite 4 - Präventivarbeit
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Wo Menschen in Krisensituationen aufeinandertreffen, kann die Lage rasch eskalieren. Das ist auch im Bereich Pflege so. Womit sind hier Patient:innen und Pflegekräfte konfrontiert? Arbeit&Wirtschaft sprach dazu mit dem Experten Harald Stefan.
Harald Stefan, geb. 1962 in Linz, ab 1982 Ausbildung zum Krankenpfleger, danach berufsbegleitend Studium bis zum Doktorat in Pflegewissenschaft 2009. Stefan leitet den Bereich Pflege an der psychiatrischen Abteilung des Klinikums Landstraße in Wien.

Harald Stefan leitet den Bereich Pflege einer psychiatrischen Station in einem Krankenhaus. Ein Bereich, der in der Öffentlichkeit oft Kritik erfährt. So vermisst Volksanwalt Bernhard Achitz in vielen Pflegeheimen und psychiatrischen Einrichtungen die Möglichkeit, dass Patient:innen selbstbestimmt leben können. Er bemängelt, dass Patient:innen zum Beispiel keine Privatkleidung und nur Pyjama tragen, dass die Pfleger:innen Abendessen bereits um 16.30 Uhr servieren und schon am frühen Abend das Licht abdrehen oder Aufzüge so programmiert sind, dass das Haus nur mit einem Code verlassen werden kann.

Die Situation im Krankenhaus kann daher sehr schnell emotional belastend sein. Für Patient:innen genauso wie für das Pflegepersonal oder die Angehörigen. Stefan kennt die Problematik von beiden Seiten und gibt Arbeit&Wirtschaft im Interview einen Einblick in den Berufsalltag.

Harald Stefan im Interview über Arbeitsbedingungen in der Pflege

Arbeit&Wirtschaft: Welche Menschenrechtsverletzungen beziehungsweise Grenzüberschreitungen sehen Sie derzeit in der Pflege gegenüber Patient:innen?

Harald Stefan: Etwa 40 Prozent der Patient:innen sind gegen ihren Willen bei uns auf der Station. Das heißt, es gibt eine Absprache mit dem Gericht, mit der Patientenanwaltschaft und natürlich mit den behandelnden Ärzten und das bedeutet, dass wir auch die Möglichkeit haben, hier in ihre Autonomie einzugreifen, weil eine gewisse Selbst- oder Fremdgefährlichkeit vorhanden ist. Nichtsdestotrotz ist es da für uns sehr wichtig, dass wir den Menschen eine große Autonomie gewähren.

Harald Stefan, Leiter der Psychiatrie des Klinikums Landstraße, im Interview.
© Markus Zahradnik

Das heißt für uns auch, dass wir offen geführte Stationen haben, dabei geht es auch sehr viel um Beziehungsarbeit. Es gibt natürlich Menschen, die wollen weg. Aber sie wollen oft nicht flüchten, sondern sie wollen in eine andere Situation, in der es ihnen besser geht. Und jetzt müssen wir eine Situation schaffen, in der sie sich angenommen fühlen, wo sie Respekt und Wertschätzung erfahren, und dann wird ihr Drang wegzuwollen nicht so stark sein, sondern sie werden uns vertrauen. Es geht um Sicherheit für alle Beteiligten. Und da ist es wichtig, dass wir Sicherheit für das Personal, aber auch die Patient:innen herstellen.

Wenn Sie aber ansprechen, dass keine Privatkleidung gegeben wird, dann sind das für mich so fragliche Dinge, nämlich, was soll da an Sicherheit erhöht werden? Ich denke mir, dass man sich das genauer anschauen muss, weil auch das ist ein Freiheitsentzug. Und das Abendessen um 16.30 Uhr zu richten, da muss man dahinterschauen, warum wird das gemacht? Weil vielleicht das Personal fehlt, weil einfach die Zeitsequenzen vom Personal, das verfügbar ist, nicht so gelagert sind, dass man gesichert ein Abendessen bereiten kann? Dann gehört das aber vom Organisatorischen her umorientiert, und ich denke mir, das ist nicht den Bedürfnissen der Menschen entsprechend.

Weil Sie auch sagen: Wo gibt es Verletzungen, nämlich der Freiheit oder der Menschenrechte? Die Menschenrechte sind ja sehr breit, das reicht von Sklaverei über Folter bis zu Autonomiesicherheit. Die Menschenrechte sollen für alle, die in einem Bereich arbeiten, eingehalten werden – sowohl für die Mitarbeiter:innen wie auch für die Bewohner:innen und Patient:innen. Das bedeutet aus meiner Sicht, dass auch die Führung und das Management ganz besonders gefordert sind, dort hinzuschauen. Gerade in der westlichen Welt und in Österreich, wo wir ein Gesundheitssystem haben, das sehr ausgeprägt ist, müssen wir uns damit auseinandersetzen und das nicht ständig als Kritik sehen, wo ich etwas abwehren muss, sondern wo ich überlege, wie kann ich Situationen verändern.

Aus Patient:innensicht sind wir diejenigen, die Gewalt ausüben, und aus unserer Sicht wehrt sich der Patient gegen eine Behandlung, die er nicht will.  

Harald Stefan, Leiter des Bereichs Pflege
der psychiatrischen Abteilung des Klinikums Landstraße

Sie haben nun das Spannungsfeld gerade auf einer psychiatrischen Station angesprochen, wo auch Leute betreut werden, die gegen ihren Willen dort sind. Kommt es da dann auch häufiger zu Übergriffen seitens der Patient:innen gegenüber den Pflegekräften?

Aus Patient:innensicht sind wir diejenigen, die Gewalt ausüben, und aus unserer Sicht wehrt sich der Patient gegen eine Behandlung, die er nicht will. Das ist immer ein sehr schwieriger Spagat. Darum ist es für mich besonders wichtig, wie man mit diesen Situationen umgeht. Welche Kenntnisse habe ich, um etwas zu deeskalieren statt es zu eskalieren?

Ich habe 1982 begonnen, in der Psychiatrie zu arbeiten. Damals hat es auch Aggression und Gewalt durch Patient:innen gegeben – es wurde aber nicht darüber geredet. Das war Teil des Jobs. Nach bestem Wissen und Gewissen hat man versucht, damit umzugehen, sodass man selbst nicht verletzt worden ist und dass Patient:innen nicht verletzt worden sind. Es war nicht Teil der Ausbildung, mit solchen Situationen umzugehen. Die Ausbildung war sehr medizinisch orientiert, es ging um Pflege, die Aktivitäten des täglichen Lebens, ums Waschen, Kleiden, Sauber-Halten, aber Dinge wie Aggression, Gewalt, Angst, Sicherheit wurden nicht thematisiert.

2003 war ich auf einem Kongress in Berlin, es ging um Pflegediagnostik. Dort habe ich Nico Oud kennengelernt, er hat Konzepte zum Umgang mit Gewalt in Psychiatrien von Großbritannien nach Holland gebracht. Er hat mich gefragt: Wie ist eure Haltung zu Aggression und Gewalt? Und ich habe nicht einmal das Wort Haltung verstanden, sondern ich habe verstanden, wie halten wir, wenn jemand aggressiv wird. Ich habe geantwortet, wir schauen, dass wir bestmöglich niemanden verletzen. Und dann hat er zu mir gesagt, er meine nicht das Halten, er meint unsere Haltung.

Das war für mich ein ganz neuer Aspekt. Oud bildete damals schon Trainer:innen in der Schweiz, Deutschland und Holland aus, es ging ihm darum, in der Organisation Trainer:innen zu etablieren, die dann das Programm so adaptieren, dass sie ihre eigenen Mitarbeiter:innen schulen können. Und da geht es sehr stark um Geisteshaltung, um die Herangehensweise. Das war für mich ein totaler Paradigmenwechsel, nämlich darüber nachzudenken, warum entsteht die Aggression, woher kommt das und welchen Anteil haben wir selbst auch dran.

Gewalt gegen Pflegekräfte

Wie können solche schwierigen Situationen aussehen? Welche Art von Verletzungen gibt es auf der Seite der Pflegekräfte?

Das können Schläge sein, das kann An-den-Haaren-Reißen sein, Kratzer, ein blauer Fleck, schwere Wunden, ein Knochenbruch, ein Kieferbruch – da ist die Palette eigentlich sehr breit. Die Menschen haben Angst, sie fühlen sich in die Enge getrieben, und sie werden alles versuchen, um aus dieser Situation herauszukommen, auch mit körperlicher Gewalt. Da ist es wichtig, dass man entsprechend vorbereitet ist und dass man im Team auftritt und nicht alleine.

Übertretungen gibt es überall dort,
wo viel Stress ist und wo Krisen aufeinandertreffen.

Harald Stefan, Leiter des Bereichs Pflege
der psychiatrischen Abteilung des Klinikums Landstraße

Es gibt ja nicht nur die Psychiatrie, sondern auch ganz viele andere Abteilungen in einem Krankenhaus und Pflegeeinrichtungen. Gibt es dort auch solche Übergriffe durch Patient:innen?

Das ist mit einem klaren Ja zu beantworten. 2006 haben wir dazu erste Datenerhebungen gemacht. Der Fokus unserer Trainings war am Beginn immer sehr stark auf der Psychiatrie, weil es dort offenkundig ist. Wir haben dann aber mehr und mehr Mitarbeiter:innen von den Geriatrien und auch von Notfallbereichen in unseren Seminaren sitzen gehabt, und die haben uns Dinge berichtet, die viel schlimmer waren als unsere Erfahrungen in der Psychiatrie. In der Erstversorgung oder im Notfallbereich kommen oftmals Menschen in absoluten Krisen. Aber es kommen auch Menschen, die sind intoxikiert, die haben viel Alkohol getrunken oder Drogen konsumiert, und da ist das Kontrollzentrum vollkommen ausgeschaltet. Diese Menschen haben nicht das Gefühl, es wird ihnen jetzt geholfen, sondern sie sind in einer Krisensituation und wehren sich. Da kommt es auch zu schweren Körperverletzungen wie Knochenbrüchen, Kieferbrüchen, aber auch Stichverletzungen.

Inwieweit spielen hier auch Phänomene wie Fremdenfeindlichkeit mit hinein?

Ich denke, dass das auf beiden Seiten mit hineinspielt. Und gerade in der Pflege arbeitet eine sehr große Anzahl an Menschen, die aus anderen Ländern und anderen Kulturkreisen kommt. Wir sind sehr froh, dass wir so einen großen Mix haben, das erleichtert in manchen Bereichen auch den Zugang zu Patient:innen, wenn ich die gleiche Sprache spreche, aber es erschwert auch manchmal. Das führt in verbalen Auseinandersetzungen zu Kränkungen, die sind sehr emotional. Da muss man wirklich gut lernen, damit umzugehen. Ich muss emotional auf den Balkon gehen, dass ich dann wirklich sachlich bleiben kann.

Sprachbarriere birgt Konfliktpotenzial

Wie sehr befördern andere Erstsprachen sowohl aufseiten der Patient:innen als auch der Pflegekräfte Missverständnisse und Grenzüberschreitungen?

Gerade die Sprache und Verständlichkeit ist ein wesentlicher Punkt, auch in der Prävention. Man muss sich vorstellen: Ich bin in einer Krise, ich komme in ein Krankenhaus, weil ich ein Problem habe. Und jetzt kann ich mich dann in dieser Situation nicht richtig ausdrücken und verwende vielleicht Wörter, die nicht so gut verständlich sind. Dann probiere ich das ein zweites Mal, ein drittes Mal, und wenn ich nicht verstanden werde, dann werde ich laut. Ich möchte meinen Worten Nachdruck geben. Diese Lautstärke wird dann auf der anderen Seite verstanden als Aggression. Das macht natürlich riesige Probleme, weil wir nicht draufkommen, was wirklich das Bedürfnis dahinter ist, die Sorge ums Kind oder die Sorge um sich selbst, weil man einen Druck auf der Brust spürt.

Darum sind die Sprachkenntnisse ein ganz wesentlicher Punkt. Da muss man auch schauen, inwieweit die Organisation unterstützend sein kann, dass man vielleicht auch fremdsprachiges Personal hat. In den letzten Jahren wurde beim Wiener Gesundheitsverbund das Videodolmetschen eingeführt, das zu immensen Erleichterungen geführt hat. Da kommt man drauf, diese Vehemenz an Aggression, die da war, hat man ganz leicht beseitigen können, da standen Missverständnisse dahinter.

Harald Stefan, Leiter der Psychiatrie des Klinikums Landstraße, im Interview.
© Markus Zahradnik

Sie sprechen nun über den Spitalsalltag. Es gibt aber auch den Alltag in Pflegeeinrichtungen, wo ältere Leute, die sehr gut Deutsch sprechen, teilweise von Menschen gepflegt werden, die zugewandert sind und die nicht alle perfekt Deutsch sprechen. Kommt es da auch zu Konfliktsituationen?

Auch ältere Menschen können sich dann natürlich nicht angenommen fühlen oder haben in Erinnerung, dass sie vielleicht irgendwann einmal nicht gut behandelt worden sind, und können durchaus dann auch ausländerfeindlich auftreten. Diese Erfahrung machen wir immer wieder. Da ist dann natürlich auch wichtig, dass man schaut, wie man sich im Team abwechseln kann, dass man auch dementsprechend die Menschen betreut und dass es keine Konfliktsituationen gibt, nur das ist nicht immer vermeidbar, denn wenn ich einen Nachtdienst habe oder einen Sonntags- oder Samstagsdienst und ich nur eine gewisse Anzahl an Mitarbeiter:innen habe, dann muss es da eine gewisse Akzeptanz geben. Da ist es wichtig, dass man einerseits den Bewohner:innen gegenüber in die Erklärung geht und dass die das annehmen und dass man auch die Mitarbeiter:innen gut schult, dass sie mit diesen Situationen umgehen können.

In welchen Bereichen der Pflege sind solche Übertretungen besonders häufig oder ergeben sich aus dem Setting heraus?

Übertretungen gibt es überall dort, wo viel Stress ist und wo Krisen aufeinandertreffen. Von den Zahlen her wissen wir ganz klar, dass es zu verbalen und körperlichen Übergriffen einerseits in der Psychiatrie, in den Erstversorgungs- und Notfallbereichen und in den geriatrischen Bereichen kommt, aber auch in Kinderbereichen. In den Kinderambulanzen sind es nicht die Kinder, die aggressiv sind, sondern da sehen wir die Übergriffe eher von den Eltern. Auch wieder verständlich: Die Eltern machen sich Sorgen, es ist Angst dahinter, es ist ein Bedürfnis dahinter, und wenn ich mir Sorgen mache, werde ich versuchen, meine Interessen und Bedürfnisse durchzubekommen. Es gibt natürlich auch Übergriffe in Intermediärbereichen und Intensivstationen, dort, wo es Durchgangssyndrome bei Patient:innen gibt, zum Beispiel nach einer Operation, wo die Leute aus der Narkose aufwachen, nicht wissen, wo sie sind, und es dann ein sehr wehrhaftes Verhalten gibt.

Worüber medial immer wieder berichtet wird, sind Konflikte auf COVID-Stationen. Da wird von unpassendem Verhalten, teils aber auch von Angriffen auf das Pflegepersonal berichtet, sowohl von dort Gepflegten als auch von Angehörigen. Was können Sie dazu erzählen?

Wir sind jetzt seit zwei Jahren in einer Pandemiesituation. Das Nervenkostüm von uns allen ist sehr dünn geworden. Wir können nicht so leben, wie wir es gewohnt gewesen sind. Das war ein ganz massiver Einschnitt in unsere Freiheitsgewohnheiten. Und wir dürfen nicht vergessen, im Krankenhaus arbeiten Menschen jetzt seit zwei Jahren in einer Hochanspannung, das heißt, Dienstpläne halten nicht, man wird immer wieder zu Hause angerufen in der Freizeit, um einen Dienst zu machen, weil jemand ausgefallen ist, und es gibt für Pflegepersonen und generell fürs Gesundheitspersonal keine Kurzarbeit, kein Homeoffice. Die sind seit zwei Jahren tagtäglich an ihre Arbeitsstelle gefahren, um dort zu arbeiten und Menschen zu versorgen, denen es wirklich sehr schlecht geht.

COVID führt zu Problemen mit der Atmung, und wenn ein Mensch Luft- und Atemprobleme hat, sehen Sie die Angst in seinen Augen. Da ist Überlebensangst vorhanden. Das muss man aushalten. Die Mitarbeiter:innen auf COVID-Stationen müssen außerdem in der vollen Schutzmontur arbeiten. Und sie leisten schwere körperliche Arbeit. Dass es da natürlich zu Sensibilitäten kommt vonseiten der Betreuungspersonen, wenn etwas nicht so läuft, wie es vielleicht laufen soll, oder wenn Dinge nicht angenommen werden, wie sie angenommen werden sollen, weil sie notwendig sind, dann kann ich mir vorstellen, dass es da zu großer Verzweiflung kommt.

Patient:innen und Angehörige sind wiederum in einer Situation, die neu für sie ist. Und Sie müssen sich vorstellen, das sind Angehörige, die nicht wissen, wie oft sie ihren Partner, ihre Mutter, ihren Vater, ihr Kind noch sehen. Da sind alle hypernervös und sensibel, und da kommt es zu verbalen Übergriffen. Es ist aber nicht nur das Pflegepersonal, das hier betroffen ist. Sie müssen nur einmal reden mit den Portieren, mit den Eingangsbereichen, mit den Triage-Bereichen, wo fünf, zehn Personen auftreten, die jetzt zu ihren Verwandten wollen und teilweise Morddrohungen aussprechen. Es ist aus meiner Sicht eine höchst sensible Situation.

Das sind Angehörige, die nicht wissen, wie oft sie ihren Partner, ihre Mutter, ihren Vater, ihr Kind noch sehen. Da sind alle hypernervös und sensibel, und da kommt es zu verbalen Übergriffen.

Harald Stefan, Leiter des Bereichs Pflege
der psychiatrischen Abteilung des Klinikums Landstraße

Unverständnis von meiner Seite gibt es, wenn es heißt, das ist alles nicht so schlimm. Die, die das sagen, sehen eben nicht, was sich da teilweise in den Spitälern abspielt und wie COVID-Patient:innen um ihr Leben kämpfen. Da hat sich auch die Situation auf den Intensivstationen fürs Personal verändert, weil früher sind Patient:innen auf die Intensivstationen gekommen zum Beispiel nach einer Operation, nach einem Unfall, da hat es Erfolgsaussichten gegeben, die wurden dort wiederhergestellt, sodass sie auf eine normale Station transferiert werden konnten. Diese Erfolgsnachrichten und -aussichten sind in der Zeit von COVID massiv minimiert worden. Es gibt mehr Sterbende dort als früher. Und das zermürbt.

Nun hat sich hier die Gesamtsituation auch insofern verändert, als im ersten Jahr Leute schwer erkrankt sind und dann gehofft haben, dass man sie heilen kann. Seitdem es die Impfung gibt, liegen zunehmend Leute auf den Intensivstationen, die nicht geimpft sind, die sich gegen alle präventiven Maßnahmen ausgesprochen haben. Wie verhalten die sich gegenüber dem Pflegepersonal?

Es gibt natürlich Menschen, die nicht geimpft sind, die auf der Intensivstation landen oder stationär aufgenommen werden auf den Normalstationen. Das ist eine schwierige Situation. Zu einem gewissen Anteil ist es das Recht von jedem, seine Meinung zu haben. Schwierig für das Personal natürlich, wenn man eine überwiegende Anzahl nicht Geimpfter betreuen muss. Aber da muss ich sagen: Hut ab vor den Pflegepersonen, die dort arbeiten, die machen da keine Unterschiede. Ich denke, man darf auch die Ungeimpften nicht alle in eine Lade werfen. Es wird immer so dargestellt, dass die Ungeimpften auf die Straße gehen und demonstrieren.

Es gibt aber auch viele Menschen, die keine rechts- oder linksradikale Einstellung haben, sondern die sich Sorgen machen in verschiedene Richtungen. Sorgen vielleicht um ihre Kinder, Sorgen, dass sie Schäden davontragen von der Impfung, es sind Menschen, die vielleicht eine Begleiterkrankung haben und sich Sorgen machen, wie sich das auf ihre Erkrankung auswirkt, und diese Angst ist für sie real. Da nützt es nichts, dass man da die Türen zumacht, sondern wir müssen weiter kommunizieren. Da ist es wichtig, dass wir, die vielleicht ein bisschen mehr Einblick haben in das Medizinische, auch aufklärend wirken und dass wir die wissenschaftlichen Daten, die vorhanden sind, so erklären, dass diese Menschen das verstehen können und dass man vor allen Dingen aufzeigt, man kann sich selbst schützen, mit der Impfung, mit dem richtigen Tragen der FFP2-Maske.

Das Nervenkostüm sei während der Pandemie bei allen dünn geworden, sagt Harald Stefan. Beim Spitalspersonal komme dazu, dass die Aussicht auf Verbesserung nicht gerade zugenommen habe. | © Markus Zahradnik

Gründe für Gewalt im Krankenhaus

Worin sehen Sie wiederum die Hauptursachen für Grenzüberschreitungen oder sogar Gewalt gegenüber Patient:innen?

Ich habe in den letzten 25 Jahren sehr viele Schulungen gemacht für Pflegepersonen, Ärzt:innen, Psycholog:innen, und ich konnte noch nie eine Person kennenlernen, die ins Gesundheitssystem gegangen ist, um gewalttätig gegenüber jemand anderem zu sein. Sie alle sind in diesen Beruf gegangen, um Menschen zu helfen. Dennoch schreiben die Medien immer wieder über Fälle, wo jemand umgebracht wurde, wo Gewalttaten verübt oder Videos gedreht worden sind, wo es Übergriffe gab. Das kennen wir aus der Schweiz, aus Österreich, aus Deutschland und auch aus anderen Ländern. Das heißt, das System hat mit diesen Menschen etwas gemacht. Und ich sehe die Verantwortung für diese Taten nicht nur allein bei den Täter:innen.

Solche Gewaltakte sind abzulehnen, und da müssen die Gerichte ihr Urteil sprechen. Ich sehe aber auch eine Mitverantwortung im Management. Das bedeutet, wenn Aggression und Gewalt vorhanden sind, dann müssen wir relativ bald darauf reagieren. Gewalt beginnt mit verbaler Aggression. Ich darf daher nicht erst tätig werden, wenn etwas passiert ist, sondern ich muss eigentlich schon wesentlich früher reagieren, mir anschauen, wie ist denn die Situation bei uns. Wenn es zu solchen kriminellen Handlungen gekommen ist, ist es wichtig, dass man sich anschaut, wie ist das System, wie schaut es mit der Personalsituation aus und wie gehen wir damit um. Das Management kann sich aus meiner Sicht nicht ganz herausnehmen, weil oftmals Personalknappheit und -engpässe zu Überforderung führen und Überforderung dann zu Übergriffen führt.

Personalnotstand ist allerdings etwas, worüber im Pflegebereich seit Jahren geklagt wird. Vor allem im Geriatrie- und Langzeitpflegebereich haben die Leitungen massive Probleme, Personal zu finden. Wie kommt man denn da heraus?

Herauskommen kann man nur, indem man auch wirklich analysiert, unter welchen Bedingungen diese Menschen arbeiten. Aus dem Management gehören für mich alle Etagen dazu. Wenn ich eine Mutter bin, die alleinerziehend ist, und ich arbeite in einem ländlichen Bereich in einem Pflegeheim und ich sehe, dass es da Missstände gibt, und ich spreche die Missstände an und es wird mir gesagt, sei froh, dass du einen Job hast und du kannst ja auch woanders hingehen, und wir wissen, diese Mutter mit zwei Kindern kann nicht so leicht woanders hingehen, weil der nächste Arbeitsort vielleicht 100 Kilometer weit weg wäre, dann hat sie zwei Möglichkeiten: entweder zu kündigen oder es hinzunehmen.

Wenn wir aber diese Situation, dass wir so arbeiten, wie wir es nicht gelernt haben, viele Jahre hinnehmen, dann kann es vorkommen, dass Fehlleistungen passieren, dass die Qualität nachlässt, und das gehört aufgehoben. Es gehört genauer hingeschaut, unter welchen Bedingungen die Menschen arbeiten, es gehören Bewohner:innen befragt, es gehören Angehörige befragt, und es gehört sicher der Personalschlüssel anders angesetzt. Wenn wir aber Situationen schaffen, wo nur Personal aus anderen Ländern engagiert wird, das vielleicht zu einem geringeren Einkommen arbeitet, werden wir aus dieser Lage nicht herauskommen.

Es gehört genauer hingeschaut, unter welchen Bedingungen die Menschen arbeiten, es gehören Bewohner:innen befragt, es gehören Angehörige befragt, und es gehört sicher der Personalschlüssel anders angesetzt.

Harald Stefan, Leiter des Bereichs Pflege
der psychiatrischen Abteilung des Klinikums Landstraße


Gewalt vermeiden: was sich ändern muss

Sie plädieren also für bessere Arbeitsbedingungen, sowohl was den Schlüssel von betreuten Patient:innen und Personal betrifft, aber auch Rahmenbedingungen wie Arbeitszeiten und Gehalt.

Ich plädiere für bessere Bedingungen für die Mitarbeiter:innen und auch für bessere Bedingungen für die betroffenen Patient:innen und Bewohner:innen und für die Angehörigen.

In der Pflege gehe es manchmal um einen schwierigen Spagat zwischen dem, was Patient:innen wollen und was sie brauchen, erklärt Pflegeleiter Harald Stefan. Wichtig seien generell Respekt und Wertschätzung. | © Markus Zahradnik

Was kann man präventiv machen, damit es erst gar nicht zu solchen Situationen kommt, damit sich Patient:innen gut behandelt und Pflegekräfte nicht überfordert fühlen?

Da gibt es eine Menge an Dingen, die man angehen kann. Wir haben schon kurz das Deeskalationsmanagement angesprochen. Ich kann mich erinnern, als wir begonnen haben, haben wir zunächst stark auf Sekundärprävention gesetzt. Sekundärprävention bedeutet: Wenn Aggression vorkommt, wie geht man auf beiden Seiten am besten damit um. Wenn jemand angegriffen wird, wie komme ich aus der Situation heraus. Wenn jemand randaliert, wie kann ich denjenigen am besten im Team festhalten, sodass dieser Mensch keinen Schmerz hat und niemand zu Schaden kommt.

Je mehr wir Sekundärprävention betrieben haben, desto mehr sind wir draufgekommen, dass es auch um Tertiärprävention geht. Das ist die Analyse, was danach passiert. Was macht das mit den betroffenen Patient:innen, was macht das mit den betroffenen Mitarbeiter:innen? Diese Nachbetreuung und Nachsorge muss man immens ausbauen. Wo können sich die Patient:innen hinwenden, wo können sich die Mitarbeiter:innen hinwenden, wenn sie traumatisierende Ereignisse miterlebt haben, wenn sie einen Schaden gehabt haben.

Was wir auch sehr ausbauen müssen, ist die primäre Prävention. Die primäre Prävention bedeutet, dass es erst gar nicht so weit kommt, dass jemand aggressiv werden muss. Gerade in der primären Prävention ist das Deeskalationsmanagement immens wichtig, da geht es wirklich um Ausbildung, Weiterbildung. Da geht es darum, die Mitarbeiter:innen zu schulen in Kommunikation, in Rhetorik, dass sie ihr eigenes Auftreten reflektieren. Das beginnt schon, wenn ich bei einem Schalter sitze und jemand dort steht und eine Notlage hat, und ich telefoniere und erzähle über meine Erlebnisse am Wochenende, dann wird der mir gegenüber viel nervöser.

Primäre Prävention bedeutet aber auch, dass wir die Mitarbeiter:innen fragen, welche Rahmenbedingungen sie brauchen? Einerseits geht es da um die Personalsituation, aber auch um die Architektur. Es reicht nicht, dass ich ein schönes Gebäude hinstelle und die Nutzer:innen es dann das erste Mal sehen, wenn sie übersiedeln, sondern sie gehören in die Planung miteinbezogen, wie etwas gebaut und eingerichtet werden soll, weil sie wissen, was die Bewohner:innen und Patient:innen brauchen. Sie haben auch gefragt: Wie kommt man zu genügend Personal? Das Personal wird zukünftig dort hingehen, wo es Sicherheit erlebt. Das bedeutet, dass wir in den Organisationen ein sicheres Umfeld für die Arbeitnehmer:innen gewährleisten müssen.

Weiterführende Artikel:

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Die „wahren Leistungsträger:innen“ in der Corona-Krise: Was hat sich seither verändert?

Geschäftsmodell Pflegeheim

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  1. Seite 1 - Spannungsfeld Psychiatrie
  2. Seite 2 - Konflikte auf der Covid-Station
  3. Seite 3 - Personalnot in der Pflege
  4. Seite 4 - Präventivarbeit
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Über den/die Autor:in

Alexia Weiss

Alexia Weiss, geboren 1971 in Wien, Journalistin und Autorin. Germanistikstudium und Journalismusausbildung an der Universität Wien. Seit 1993 journalistisch tätig, u.a. als Redakteurin der Austria Presse Agentur. Ab 2007 freie Journalistin. Aktuell schreibt sie für das jüdische Magazin WINA sowie für gewerkschaftliche Medien wie die KOMPETENZ der GPA-djp oder die Gesunde Arbeit. 2022 erschien ihr bisher letztes Buch "Zerschlagt das Schulsystem ... und baut es neu!" (Verlag Kremayr & Scheriau).

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