Die „wahren Leistungsträger:innen“ in der Corona-Krise: Was hat sich seither verändert?

Collage aus drei Pflegekräften in der Coronakrise
© Markus Zahradnik
Mit Pandemiebeginn entdeckte die Politik in den Pflege- und Sozialberufen die „wahren Leistungsträger:innen“. Was hat sich an ihrer Situation seither verändert? Eine Bestandsaufnahme, die von einer zynischen Selbstironie begleitet wird.
Wenn nichts mehr ging, drehten Tanja Beghi und ihre Kolleg:innen „einfach mal den Wasserhahn auf“. Gemeinsam zu weinen, das half. Früher, vor Beginn der Pandemie, waren sie auf der Akutgeriatrie im St. Josef Spital in Braunau gerne zum Scherzen, zum Lachen aufgelegt. „Aber irgendwann war da nichts Schönes, nichts Lustiges mehr“, bedauert Beghi. Seit 16 Jahren arbeitet die 47-Jährige in dem Braunauer Krankenhaus, bis heute. Während viele ihrer Kolleg:innen bereits das Handtuch schmissen.

Pflegenotstand: 20 Prozent Personal zu wenig

Monate vor Ausbruch der Pandemie, im November 2019, lässt ihr Kollege und Betriebsratsvorsitzender Markus Simböck 300 Pappfiguren vor dem Spital aufstellen. 20 Prozent zu wenig Personal führt das Krankenhaus zu dieser Zeit, umgerechnet 300 Ärzt:innen, Pfleger, Hebammen und Reinigungskräfte fehlen. Die Kolleg:innen aus Pappe sollen versinnbildlichen, was ansonsten so lapidar als „Personalmangel“ abgetan wird. Die Lage hat sich seither noch einmal drastisch verschlechtert.

Pflegenotstand in Österreich: Tanja Beghi
„Breiter Buckel“: Während viele ihrer Kolleg:innen das Handtuch schmissen, arbeitet Tanja Beghi noch heute im St. Josef Spital in Braunau. | © Markus Zahradnik

Dass es an Gesundheits- und Pflegepersonal mangelt, ist kein Braunauer, sondern ein gesamtösterreichisches Phänomen. Und es ist keines, das mit dem Virus kam, keines, das plötzlich und unerwartet auftauchte. Bis zum Jahr 2030 müssen hierzulande 42.000 Stellen nachbesetzt werden, prognostiziert das Sozialministerium im Jahr 2019. Denn zu dieser Zeit sind von den rund 127.000 Pflege- und Betreuungspersonen mehr als 30 Prozent 50 Jahre oder älter, das heißt, in absehbarer Zukunft steht eine Pensionierungswelle bevor. Außerdem wird der Pflegebedarf in den kommenden Jahren und Jahrzehnten – analog zur Lebenserwartung der Bevölkerung – ansteigen, heißt es in der Pflegebedarfsprognose des Sozialministeriums. Insgesamt gehen Expert:innen im Jahr 2019 von 76.000 zusätzlichen Pflegekräften aus, die Österreich bis 2030 braucht. So weit die Diagnose.

Sehenden Auges in die Krise

Dass in den Reihen der Angestellten Unmut herrscht, auch das ist lange bekannt. So zeigt eine Studie der Arbeiterkammer Wien aus dem Jahr 2019: Die Mehrheit der Beschäftigten im Gesundheitsbereich ist mit ihrem erlernten Beruf grundsätzlich zufrieden. Aber die Rahmenbedingungen passen nicht. Die meisten der Befragten halten die Bezahlung für unangemessen. Besonders stört sie, dass sie regelmäßig über das vereinbarte Stundenmaß hinaus arbeiten müssen. Ein Viertel dachte 2019 regelmäßig über einen Jobwechsel nach, viele Stellen können mangels Bewerber:innen nicht nachbesetzt werden. Dass Österreich unter diesen Umständen sehenden Auges in eine Pflege- und Versorgungskrise schlittern wird, war auch in vorpandemischen Zeiten kein Geheimnis.

Aus falschen Gründen sollten Pflege- und Gesundheitsberufe im Frühjahr 2020 ins Licht der Öffentlichkeit rücken. Mit Ausbruch der Corona-Pandemie geraten viele politische, wirtschaftliche und soziale Überzeugungen ins Wanken, unter anderem besinnt sich die österreichische Politik ihrer „wahren Leistungsträger:innen“ und entdeckt die „eigentlichen Systemerhalter:innen“ für sich. Die, so wird von nun an eifrig referiert, sitzen nämlich an den Supermarktkassen, fahren die Busse, säubern die Gebäude oder pflegen die Alten und die Kranken. Täglich um 18 Uhr wird applaudiert. Alles soll nun besser werden.

„Wir hatten noch relativ viel Glück“,
beschwichtigt Sozialarbeiter Steffen Jonas.
Trotzdem sei in der WG vieles schwieriger geworden.

In der Engerthstraße in Wien-Leopoldstadt herrscht helle Aufregung. Hans zieht heute aus. 25 Jahre lebte er in der Wohngemeinschaft für Menschen mit leichter bis mittlerer geistiger Beeinträchtigung. In der von Jugend am Werk betriebenen Einrichtung war Hans eines der „Gründungsmitglieder“. Die Kisten sind bereits gepackt, der FC-Bayern-Schal hängt griffbereit über einem Desinfektionsständer neben der Eingangstür. Deshalb laufe heute alles etwas „chaotisch“ ab, sagt Sozialarbeiter Steffen Jonas, der Hans nach unserem Gespräch in seine neue WG fahren wird.

Sieben Personen wohnen in der WG hinter der Tür Nummer 28, vier weitere nebenan in sogenannten „Trainingswohnungen“. Die Einzelzimmer sind jenen vorbehalten, die sich in der WG bewährt haben. Alle elf Bewohner:innen sind zwischen 19 und 65 Jahre alt, ein bunter Haufen. An den Zimmertüren hängen Poster von Autos und Filmhelden, im Gemeinschaftsraum läuft gerade die „ZiB“. In den Gängen und an den Türen ist mit Symbolen und kurzen Sätzen erklärt, was seit Pandemiebeginn gilt: Ins Dienstzimmer der Sozialarbeiter:innen darf nur noch einzeln eingetreten werden, nach Betreten der Wohnung bitte Hände desinfizieren!

Mit der Zeit wurde es trist in der WG

Im Dienstzimmer ist kein Platz für ein Gespräch mit Jonas. In dem Raum, der ohnehin nur ein paar Quadratmeter groß ist, stehen ein Sessel, ein Schreibtisch, Computer, Ordner und ein Bett. Gerne könnten wir seine Trainingswohnung für ein Gespräch nutzen, sagt Marcel am Telefon. „Aber bitte nicht rumstierln.“

Jonas’ Aufgabe ist es, Struktur in den Alltag der Bewohner:innen zu bringen. Er erledigt Behördengänge mit ihnen, organisiert Arzttermine, hilft beim Wäschewaschen und beim Kochen. „Leben eben“, sagt der 31-Jährige trocken. Jonas trägt ein Bob-Dylan-Shirt, eine Oversize-Brille, hat beide Arme tätowiert und vermittelt nicht das Gefühl, als könne ihn je irgendwas aus der Ruhe bringen. Außer Pandemien. „Seither hat sich hier vieles arg verändert“, beobachtet Jonas. Die schwierigste Aufgabe war von Anfang an, zu erklären, was überhaupt das Coronavirus, was überhaupt eine Pandemie ist.

Sicher, lacht Jonas, einige waren froh, dass sie morgens nicht mehr zur Arbeit mussten, aber verstanden, was los ist, haben im März 2020 die wenigsten. Maske tragen, Abstand halten, Hände desinfizieren – obwohl man doch gar nicht krank ist? Das verständlich zu machen: eine langwierige Prozedur. Mit der Zeit wurde es trister in der Engerthstraße. Statt gemeinsam zu kochen oder Filme zu schauen, zogen sich viele immer mehr in ihre Zimmer zurück. Die Struktur, die für die Bewohner:innen hier so wichtig wäre, der ganze „Unfug“, den Jonas mit ihnen so gerne unternimmt, fiel weg. Statt Ausflüge zu machen, basteln sie jetzt regelmäßiger, stellen ihren eigenen Holundersaft her und spielen Boccia.

Reportage Pflegenotstand Österreich: Steffen Jonas
| © Markus Zahradnik

Die herausforderndste Zeit war sicherlich, als die WG im Mai 2021 selbst zum Cluster wurde. Sieben Bewohner:innen sowie fünf der sieben Sozialarbeiter:innen hatten sich infiziert. Jonas, der zu diesem Zeitpunkt schon seine erste Impfdosis erhalten hatte, blieb verschont, eine andere Bewohnerin erkrankte schwer, musste kurzzeitig auf die Intensivstation.

Jonas beschwichtigt: „Wir hatten noch relativ viel Glück.“ Das seien harte, stressige Wochen gewesen, aber alles in allem hätten sie auch diese Phase gut überstanden. „Vieles hat sich mittlerweile eingependelt – nur an die Masken werde ich mich nie gewöhnen.“

Mimik ist in der Kommunikation mit den WG-Mitgliedern besonders wichtig, insbesondere mit jenen, die sich sprachlich nicht so klar ausdrücken können. Dazu kommen die Verordnungen, die – ohnehin schon schwierig zu vermitteln – sich „gefühlt alle drei Tage ändern“. Trotzdem, schätzt der 31-Jährige, seien sie hier in der Engerthstraße noch ganz gut davongekommen. Im Nachhinein ist er manchmal überrascht, wie gut die Bewohner:innen mit der Situation umgegangen sind.

Die geforderte Flexibilität und die Einsatzbereitschaft machen es oftmals schwieriger,
das eigene Privatleben zu planen.

Karoline Patterer, Einsatzleitung mobile Pflege

Der Eindruck von Steffen Jonas spiegelt sich auch in einer Befragung mehrerer Gewerkschaften, der Wiener Ärztekammer und der Wiener Arbeiterkammer wider. Die Online-Umfrage „Ich glaub’, ich krieg’ die Krise“ zu den psychischen Folgen der Pandemie, an der knapp 7.000 Beschäftigte aus Gesundheits- und Sozialberufen teilnahmen, zeigt: Auch wenn die Belastung der Beschäftigten im Sozialbereich hoch ist, ist es vor allem der Gesundheits- und Pflegebereich, der die meisten alarmierenden roten Balken aufweist.

Weder „bessere Putzfrauen“ noch „Schwestern“

Der Dienstplan in den Räumlichkeiten der mobilen Pflege des Roten Kreuzes in Graz ist beeindruckend groß, beunruhigend überdimensioniert. Zwei DIN-A3-Kalender hängen vor einem Besprechungsraum, handschriftlich mit diversen Pfeilen und Korrekturen versehen. Gegenüber sind an Wäscheklammern Porträts der Mitarbeiter:innen aufgehängt, alle lächeln freundlich.

Seit sechs Uhr ist Karoline Patterer heute im Büro. Die 41-Jährige ist diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin und arbeitet seit zwei Jahren als Einsatzleitung in der mobilen Pflege. Patterers Team besteht aus 25 mobilen Gesundheits- und Krankenpfleger:innen, Pflegeassistent:innen und Heimhilfen. Gemeinsam versorgen sie in einem Grazer Stadtbezirk rund 200 Klient:innen. Sie selbst war seit März 2020 nicht mehr im Außeneinsatz. Seit COVID kümmert sie sich ausschließlich ums Organisatorische. Sie erstellt Dienst- und Einsatzpläne, organisiert Corona-Tests, telefoniert mit Mitarbeiter:innen, Klient:innen, deren Angehörigen und Krankenanstalten.

Pflegenotstand in Österreich: Karoline Patterer
„Wir sind am Limit“, resümiert Einsatzleiterin Karoline Patterer nach zwei Jahren Corona-Krise – „aber uns braucht’s!“ | © Markus Zahradnik

Um 16 Uhr geht sie heute nach Hause. Wenn alles nach Plan läuft, nicht wieder jemand ausfällt, sie Personal anders einteilen und Klient:innen darüber informieren muss. Die geforderte Flexibilität und die Einsatzbereitschaft machen es oftmals schwieriger, das eigene Privatleben zu planen, erklärt Patterer. Denn Klient:innen müssen versorgt werden, auch wenn jemand kurzfristig ausfällt. Für Mitarbeiter:innen mit Kindern sei das besonders herausfordernd. Auch die müssen versorgt werden. Die 41-Jährige hat schon einige berufliche Stationen hinter sich, begann nach der HAK bei einer Versicherung („nie mein Traumberuf“), machte anschließend die Ausbildung zur Heimhilfe, danach zur Pflegehelferin, schließlich zur diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegerin. Seit elf Jahren arbeitet sie hier beim Roten Kreuz in Graz in der Pflege und der Betreuung, „und ich werde hier alt“, sagt sie selbstbewusst. Ob Zweckoptimismus oder nicht, ist es ein Optimismus, den viele ihrer Kolleg:innen so nicht teilen. Seit März 2020 habe sich die Stimmung in der Belegschaft verändert, analysiert Patterer nüchtern. Das Stimmungsbarometer bewege sich irgendwo zwischen „Wir müssen jetzt zusammenhalten!“ und „Ich kann nicht mehr!“

Nach Feierabend geht sie oft raus in die Natur, zum Laufen oder mit ihren beiden Hunden in die Berge. Wichtig sei, den Kopf freizubekommen – und sich selbst zu belohnen: zum Beispiel mit einem Backhendl, lacht sie.

Patterer strahlt etwas aus, das man bei vielen in der Branche wiederfindet, eine Art „Irgendwie-geht’s-immer-weil-es-muss“-Mentalität. „Wir sind am Limit“, resümiert sie nach zwei Jahren Pandemie. „Aber uns braucht’s.“ Wie sie und ihr Team das stemmen? „Wir ticken da einfach anders.“

Mit Schmerz und Pragmatismus

Was Patterer hier im Kleinen beschreibt, zeigt sich in der oben zitierten Studie „Ich glaub’, ich krieg’ die Krise“ im Großen: Rund die Hälfte des befragten Pflegepersonals weist mittlere bis schwere depressive Symptome auf, genauso viele denken mindestens einmal pro Monat über einen Berufswechsel nach.

In den vergangenen Monaten häuften sich Berichte über eine mögliche Kündigungswelle, die den ohnehin knappen Personalstand in der Branche noch weiter gefährden könnte. Ob das auch in Braunau im St. Josef Spital drohe? „Wir sind mittendrin“, platzt es aus Betriebsratschef Markus Simböck heraus. Manche Bereiche im Spital mussten sie bereits zusperren, weil das Personal fehlt.

Pflegenotstand in Österreich: Betriebsratschef Markus Simböck
Aufgrund des eklatanten Personalmangels lässt
Betriebsratschef Markus Simböck im November
2019 300 Pappfiguren aufstellen. Heute warnt er: „Ich kann für nichts mehr garantieren.“ | © Markus Zahradnik

Anstelle eines geregelten Ablaufs sei hier im Krankenhaus eine Strategie des „Verwurschtelns“ getreten, beschreibt Simböck die Situation. Angestellte arbeiten heute auf der einen, morgen auf der anderen Station, müssen spontan einspringen, Aufgaben erledigen, für die sich eigentlich nicht ausgebildet sind. Manche der Teilzeitkräfte hier hätten mehr als 400 Überstunden auf dem Stundenkonto. „Ich tu’ mein Bestes, aber ich kann unter diesen Umständen für nichts mehr garantieren“, warnt der Betriebsrat. Was den Laden hier noch zusammenhalte? Viel Improvisation und eine Belegschaft, die mit einem „g’sunden Vogel“ dennoch ihr Bestes gibt.

Aufgrund der seit Monaten andauernden Ausnahmesituation sammelte Simböck Rückmeldungen der Beschäftigten, um der Geschäftsführung ein Bild vermitteln zu können – um gemeinsam etwas zu verändern. Von „wenig Gehalt für viel Verantwortung“, „wenig Anerkennung“ und „Überarbeitung“ ist in dem Papier zu lesen. Eine der Beschäftigten schreibt: „Seit circa einem Jahr fühle ich mich psychisch überlastet, und jetzt ist der Punkt erreicht, wo ich merke: ‚Die Arbeit macht mich krank!‘“ Gebracht hat das wenig, sagt Simböck resignierend. Er würde sich mehr Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen wünschen, um gemeinsame Lösungen zu finden.

Verstummt ist das Klatschen

Die Akutgeriatrie im St. Josef Spital wurde mit Pandemiebeginn zur Corona-Station umfunktioniert. Die stationierten Patient:innen wurden auf andere Stationen verteilt oder entlassen. Statt Kasack trug Tanja Beghi nun einen Schutzmantel, zwei paar Handschuhe, eine FFP3-Maske und Schutzbrille. Bis zu fünf Stunden am Stück arbeitet sie in Vollschutzmontur, ohne Essen, Trinken und Toilette. Einmal ist Beghi vor Erschöpfung umgekippt. „Aber das war ganz am Anfang, man gewöhnt sich irgendwie an alles, komischerweise.“

Seit circa einem Jahr
fühle ich mich psychisch überlastet, und jetzt ist der Punkt erreicht,
wo ich merke: ‚Die Arbeit macht mich krank! 

Eine Beschäftigte, St. Josef Spital in Braunau

Während Simböck, Beghi und Kolleg:innen im Inneren versuchen, den Betrieb aufrechtzuerhalten, formiert sich um das Krankenhaus eine kleine, aber laute Minderheit. Die im Gesundheitspersonal Kollaborateur:innen einer angeblichen „Impfdiktatur“ vermutet. In Braunau häufen sich Fälle, bei denen Krankenhausmitarbeiter:innen auf offener Straße angefeindet werden, im Dezember vergangenen Jahres wurde eine Pflegerin mit einem Becher Kaffee überschüttet. Auch sie angeblich eine Kollaborateur:in. Mittlerweile kontrolliert Sicherheitspersonal l an den Eingängen des St. Josef Spitals. Sie schützen jene, die alles, auch ihre eigene Gesundheit, geben, um andere zu schützen.

Beghi ist eine, die vieles aushält, einen „breiten Buckel“ hat und „schon ein bisschen irre ist“, wie sie sagt. Aber auch ihr Körper kennt Grenzen. Innerhalb weniger Monate verstarben auf ihrer Station Dutzende Patient:innen. Getroffen habe sie vor allem, wie sie gestorben sind. Ohne Besuche, ohne ihre Angehörigen noch mal sehen zu können. Zu den psychischen kamen die physischen Schmerzen. In den Beinen, den Gelenken, der Nase, von den harten Masken und dem vielen Testen.

Die Frage „Wie war dein Tag heute?“ empfand sie irgendwann als Zumutung. Das war der Zeitpunkt, an dem sie zum Hörer griff. Und beim Arbeitsamt anrief. Aus dem Gefühl heraus, sie scheitere an ihren eigenen Ansprüchen, könne den Patient:innen nicht mehr das bieten, was sie verdienen. „Eine Verzweiflungstat war das.“ Weil der Mann am anderen Ende der Leitung sie aufgefangen, ihr gut zugeredet hat, arbeitet sie nach wie vor im Braunauer Krankenhaus. Viele von Beghis Kolleg:innen haben sich auf eine andere Station versetzen lassen oder haben gekündigt, wollten oder konnten von niemandem mehr aufgefangen werden.

Pflegenotstand in Österreich: Tanja Beghi
| © Markus Zahradnik

Nach zwei Jahren Pandemie ist das Klatschen verstummt. Die schon in vorpandemischen Zeiten diagnostizierte medizinische Versorgungskrise hat sich seither massiv verschärft. Hört man sich bei Beschäftigten um, sind Problemdiagnosen und Forderungen stets dieselben: Es mangelt an Personal, Geld, Planbarkeit und Anerkennung. 500 Euro Corona-Bonus hatte die Regierung den frisch entdeckten Systemerhalterinnen und Leistungsträgern versprochen. Bis zum Dezember 2021 mussten sie darauf warten. 100 Millionen Euro machte Türkis-Grün dafür locker. Für die Rettung der Lufthansa-Tochter AUA hatten ÖVP und Grüne zur selben Zeit 150 Millionen Euro übrig.

Das Nachwuchsproblem in der Branche wird sich so kaum lösen lassen. Dass Schulabsolvent:innen kaum mehr den Weg in die Pflege suchen – das wundert Branchenkenner:innen kaum. Für die Ausbildung brauchen Bewerber:innen meist Matura, diverse Praktika während der Ausbildung müssen unbezahlt absolviert werden – und am Ende wartet ein stressiger, anstrengender Beruf mit geringem Gehalt und unregelmäßigen Arbeitszeiten.

Auch das mediale Bild, das von Gesundheits- und Pflegeberufen gezeichnet werde, trage wenig dazu bei, die medizinische Versorgungskrise zu entschärfen, kritisiert Karoline Patterer vom Roten Kreuz in Graz. Patterer macht ihre Arbeit gerne. Sie schätzt das Zugehörigkeitsgefühl, den Austausch mit Klient:innen und Mitarbeiter:innen, die Vielfältigkeit des Berufs. Bei manchen Klient:innen fühle sie sich „wie ein Gast“. Mit Nachdruck streicht sie hervor, dass Pflege eben „nicht nur Windelwechseln“ ist. „Wir sind nicht einfach nur ‚bessere Putzfrauen‘ und auch keine ‚Schwestern‘.“ Das Personal hier, betont sie, ist hochqualifiziert, hat eine lange Ausbildung hinter sich und trägt viel Verantwortung. Der Beruf biete viele Weiterbildungsmöglichkeiten, sei abwechslungsreich, fordernd, menschlich – „einfach sehr erfüllend“.

Vor COVID war absehbar, dass sich ohnehin nur jene für diesen Beruf entscheiden, die es wirklich wollen. Diejenigen, bei denen die Begeisterung für dieses Berufsfeld alles andere überstrahlt: die langwierige und kostspielige Ausbildung, die geringe Bezahlung, die Verantwortung, die körperliche und psychische Belastung. Nach zwei Jahren Pandemie sind jene verblieben, die ihre eigene psychische und physische Gesundheit hintanstellen, um anderen zu helfen. Sie schmunzeln das irgendwie weg. Sie nennen das „anders ticken“, „einen g’sunden Vogel“ oder sind eben „ein bisschen irre“. Es ist eine eigenwillige, zynische Art von Selbstironie, vielleicht auch von Selbstschutz, die diese Recherche von Anfang bis zum Ende begleitete.

Viele ihrer Feierabende hat Tanja Beghi mit ihren Kolleg:innen vom Krankenhaus St. Josef verbracht, mit Telefongesprächen, mit Reden, Tränen. „In dieser Zeit musste jeder schauen, dass man das für sich selbst schafft, dass man in der Früh wieder aufsteht, nicht zusammenklappt.“ Mittlerweile, sagt Beghi, habe man sich daran gewöhnt, irgendwie.


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Über den/die Autor:in

Johannes Greß

Johannes Greß, geb. 1994, studierte Politikwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet als freier Journalist in Wien. Er schreibt für diverse deutschsprachige Medien über die Themen Umwelt, Arbeit und Demokratie.

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