Reportage: Keine klaren Linien

Fotos (C) Christian Fischer

Inhalt

  1. Seite 1 - Wieder selbstständig wohnen
  2. Seite 2 - Ruhe und Rückzug
  3. Seite 3 - Kurzinterview
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Ein Schlüssel, eine Adresse, ein Postkasten und die Möglichkeit, zum Arzt zu gehen: Im „neunerhaus“ Hagenmüllergasse leben ehemals Obdachlose, die teils jahrelang ohne all das auskommen mussten. Hier können sie in ihren eigenen vier Wänden zur Ruhe kommen, Kraft tanken und sich mit viel Unterstützung auf ein selbstbestimmtes Leben danach vorbereiten.

Vom Tellerwäscher zum Millionär.
Von der Königin der Herzen zur viel zu jung auf tragische und mysteriöse Weise Verunglückten, die zwei kleine Söhne hinterlässt.
Vom Vizekanzler, der durch die Veröffentlichung eines heimlich gedrehten Videos über Nacht eine Regierung zum Sturz bringt und selbst zum Verstoßenen wird, aber seine künftige Wiederkehr verkündet.

Das sind Geschichten, von denen gesagt wird, es seien „gute“ Geschichten, weil es darin eine große Fallhöhe gibt, wobei der Fall auch ein Aufstieg sein kann wie beim Phönix, der aus der Asche steigt, oder beim kleinen David, der den riesigen Goliath zu Fall bringt. JournalistInnen, SchriftstellerInnen und andere Storyteller wissen das nur zu gut und suchen ein Leben lang nach solchen Geschichten.

Doch manchmal gibt es Geschichten, die sind alles andere als gut. Sie handeln zwar von einem tiefen Sturz oder einer Art Wiedergeburt, aber trotzdem will sie niemand hören. Es geht darin zum Beispiel um Menschen, die ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen. Die dreckig und stinkend in der Gosse liegen. Die in eine Sucht abgeglitten, durch eine psychische Krankheit abgestürzt sind oder nie richtig Fuß fassen konnten. Die sich nur schwer und so gar nicht schillernd ein Leben in der Normalität erarbeiten. Kein David. Kein Phönix. Und schon gar kein Millionär.

Unterschiedliche Karrieren

Im „neunerhaus“ Hagenmüllergasse leben in 73 Wohnungen bis zu 79 Menschen. Alle waren obdachlos, bevor sie hierherkamen.
Solche Geschichten gibt es hier in der „Hamü“, wie das „neunerhaus“ Hagenmüllergasse, fünf Gehminuten von der U3-Station Kardinal-Nagl-Platz entfernt, von den BewohnerInnen und jenen, die hier arbeiten, genannt wird. In 73 Wohnungen leben bis zu 79 Menschen. Alle waren obdachlos, bevor sie hierherkamen. Sie haben auf der Straße, unter der Brücke, in Notquartieren, bestenfalls noch bei Familie und Freunden gelebt. Weil sie zum Beispiel delogiert wurden, zu viele Schulden angehäuft oder Süchte entwickelt haben, ihren Job, ihren Lebenspartner bzw. ihre Lebenspartnerin oder durch eine Krankheit den Halt verloren haben. Weil sie es nicht mehr geschafft haben, Termine und Mahnfristen einzuhalten.

Die BewohnerInnen in der „Hamü“ haben „ganz unterschiedliche Karrieren“, wie Robert Erlachner sagt, der seit rund drei Jahren als Sozialarbeiter im Haus arbeitet. Wie diese „Karrieren“ genau aussehen, ist unklar. Jene, die hier leben, wollen nicht mit sich reden lassen, jedenfalls nicht mit einer Journalistin, die einen Artikel über sie schreiben will. Auch nicht anonym. Die BewohnerInnen lassen ihre Türen lieber verschlossen. Immer wieder finden sich Einzelne, die bereit sind, aus ihrem Leben zu erzählen, und das, zum Beispiel in den „neuner News“, auch tun. Doch nicht dieses Mal.

Wieder selbstständig wohnen

Das Haus feiert 2021 sein zwanzigjähriges Bestehen.
Es gibt hier zwei mögliche Wohnformen: das sogenannte Zielgruppenwohnen, das auf zwei Jahre befristet ist, und sozial betreutes Wohnen, das meist wesentlich länger dauert. Ein Bewohner ist fast schon so lange hier, wie es das „neunerhaus“ Hagenmüllergasse gibt. Das Haus feiert 2021 sein zwanzigjähriges Bestehen. Diese Menschen haben eine Behinderung nach dem Chancengleichheitsgesetz Wien. Sie haben jeweils einen Betreuer oder eine Betreuerin, die mit ihnen unter anderem Freizeitaktivitäten unternimmt, sie ins Kaffeehaus, zu Arzt- und Amtsbesuchen begleitet, beim Kochen und Einkaufen hilft. Einige brauchen intensive Hilfe, weil sie mitunter aufgrund jahrelangen Konsums von Alkohol oder Drogen stark beeinträchtigt sind. Beim Zielgruppenwohnen geht es dagegen darum, die BewohnerInnen ins selbstständige Wohnen zu begleiten. Idealerweise halten sie am Ende der zwei Jahre – es kann auch schneller gehen oder in Ausnahmefällen etwas länger dauern – einen eigenen Mietvertrag in Händen. Wobei sie auch hier eine Miete bezahlen: in den Einzelwohnungen 300 Euro, in den Partnerwohnungen 345 Euro. Wasser, Strom und WLAN sind inkludiert. Manche bezahlen das von ihrem Arbeitslosengeld, der Mindestsicherung oder Notstandshilfe, manche von der Pension und eher wenige von einem Gehalt. Geld brauchen sie auch für Essen und alles, was sie sonst im Alltag benötigen. Dreimal pro Woche bringt die „Wiener Tafel“ Lebensmittel zur freien Entnahme vorbei. Relativ viele haben Schulden bei Wiener Wohnen und manche auch durch Verwaltungsstrafen. Die SozialarbeiterInnen unterstützen sie dabei, schuldenfrei zu werden. „Hamü“-Leiterin Anja Bischeltsrieder weist darauf hin, wie schwierig das oft ist: „Fast alle Menschen, die hier wohnen, sind armutsgefährdet. Es kann schon mal zwei Jahre dauern, bis sie 1000 Euro Schulden abbezahlt haben.“

Was vielen als selbstverständlich erscheint, ist es ganz und gar nicht für alle Menschen: Im „neunerhaus“ Hagenmüllergasse hat jede Bewohnerin und jeder Bewohner einen eigenen Schlüssel, einen Postkasten und ein Namensschild an der Eingangstür.

Schlüssel, Adresse, Postkasten

Bei der Besichtigung kommt uns eine junge Frau auf der Treppe entgegen. Sie schreitet wie ein Gespenst die Stufen hinab. Das Ceranfeld ihrer Küche habe einen Sprung, erzählt sie Robert Erlachner, der ihr später helfen wird, das Problem zu lösen. Die Wohnungen, die zwischen 23 und 40 Quadratmeter groß sind, haben alle eine eigene Küche, ein Bad und WC. Auch ein Bett, einen Kasten, Tisch und Sesseln gibt es hier. Für Dinge wie Bettwäsche oder Fernsehgeräte müssen die BewohnerInnen in der Regel selbst sorgen. Sie leben allein oder zu zweit, haben einen eigenen Schlüssel, eine Adresse und einen Postkasten. Manche werden von WohnbetreuerInnen beim Kochen, Einkaufen, Aufräumen, Putzen und der Körperhygiene unterstützt. Sie können Besuch empfangen, dürfen in ihren Wohnungen Haustiere halten, rauchen und Alkohol konsumieren. Hunde und Katzen gibt es hier viele. Einmal hatte jemand eine Schlange. Es gibt eine Hausordnung, die für ein möglichst friedliches Zusammenleben sorgen soll. Portier gibt es keinen – darauf legt die Organisation „neunerhaus“ Wert, die für selbstbestimmtes Wohnen ohne Heimcharakter steht; für „Wohnen so normal wie möglich“. Der „neunerhaus“-Claim lautet: „Du bist wichtig.“

Der „neunerhaus“-Claim lautet: „Du bist wichtig.“

Jemand hat einen Zettel auf seine Tür geklebt, auf dem steht: „Bitte zwischen 22 Uhr abends und 7 Uhr in der Früh nicht bei mir läuten. Ich möchte schlafen. Danke!“ Privatsphäre, Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit werden hier großgeschrieben, wobei das nicht immer leicht ist. Schließlich waren oder sind einige BewohnerInnen auch alkohol- oder drogenabhängig. Dennoch will man die Zügel eher locker lassen. „Hamü“-Leiterin Bischeltsrieder: „Wir versuchen sehr weise zu überlegen, was wir reglementieren.“ Verbote würden eher dazu führen, dass die BewohnerInnen nicht offen über ihre Probleme, zum Beispiel den Suchtmittelkonsum, sprechen. Nur zweimal im Jahr gibt es eine Wohnungsbegehung, ansonsten müssen die BewohnerInnen niemanden in ihre vier Wände lassen, wenn sie nicht wollen.

Ruhe und Rückzug

Wer hierherkommt, muss erst mal Kraft schöpfen. Die meisten Menschen, die wohnungslos waren, sind in einem schlechten gesundheitlichen Zustand. Sie waren oft lang nicht beim Arzt. Sozialarbeiter Erlachner sagt: „Gesundheit ist ein Riesenthema. Wenn man länger auf der Straße ist, schämt man sich, zum Arzt zu gehen.“ Für viele Personen im Suchtbereich sei das eine Riesenhürde: „Sie gelten immer als der Junkie und werden oft abgeschasselt. Es kommt vor, dass sich der Arzt nicht einmal zwei Minuten Zeit für sie nimmt.“ Aber auch wenn Arzttermine öfter nicht eingehalten werden, kann es schwer werden, denn dann bekommt man unter Umständen keinen Termin mehr.

Es ist nicht möglich, ohne Betreuung hier zu wohnen. So muss jeder beziehungsweise jede mindestens einmal pro Monat einen Termin mit einem/r SozialarbeiterIn absolvieren, gerne auch öfter.

Wer hier im Zielgruppenwohnen lebt, soll erst einmal „ankommen, zur Ruhe kommen und sich zurückziehen dürfen“. Die BewohnerInnen können sich den ÄrztInnen des Gesundheitszentrums vom „neunerhaus“ in der Margaretenstraße und einer praktischen Ärztin anvertrauen, die jede Woche für drei Stunden direkt in der „Hamü“ im Erdgeschoss ordiniert. Auch eine Psychiaterin kommt regelmäßig vorbei. Doch es ist auch Engagement von den BewohnerInnen erwünscht. Es ist nicht möglich, ohne Betreuung hier zu wohnen. So muss jeder beziehungsweise jede mindestens einmal pro Monat einen Termin mit einem/r SozialarbeiterIn absolvieren, gerne auch öfter. Erlachner: „Ein gewisses Maß an Kooperation ist nötig, um die eigenen Ziele zu erreichen. Wir erinnern die Leute immer wieder daran.“

„Hamü“-Leiterin Anja Bischeltsrieder wird oft schon morgens, wenn sie durch die Eingangstür im Erdgeschoss tritt, von den BewohnerInnen im ersten Stock begrüßt. Die Architektur bietet zahlreiche Durchblicksmöglichkeiten über die Stockwerke hinweg.

Blicke durch die Stockwerke

Beim Gang durch die einzelnen Stockwerke fallen nicht nur ein Wuzeltisch, ein Computerraum, Raucherräume, ein Laufband, ein Ergometer und ein Gerät zum Trainieren mit Gewichten auf, sondern auch die besondere Architektur des Hauses. Jeder Stock hat einen anderen Grundriss. Die Stiegenhäuser sind versetzt angeordnet. „Es gibt keine klaren Linien“, sagt „Hamü“-Leiterin Bischeltsrieder. Und es gibt interessante Durchblicksmöglichkeiten von einem Stock in den anderen – manchmal reichen diese sogar über mehrere Stockwerke. Bischeltsrieder wird oft schon um sieben Uhr morgens, wenn sie durch die Eingangstür im Erdgeschoss tritt, von BewohnerInnen aus dem ersten Stock begrüßt. Auch die Wohnungen funktionieren nicht nach Schema F: Kein Grundriss gleicht dem anderen.

Das Haus ist mit allem ausgestattet:

  • Computerraum
  • Raucherräume
  • Wuzeltische
  • Café
  • Hof
Der Neubau von 2015 wurde von der WBV GPA in Passivhausstandard erbaut und finanziert und von der pool Architektur ZT GmbH errichtet, die als Sieger aus einem Architektur-Wettbewerb hervorgegangen sind. Der Bau erhielt den österreichischen Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit und den Bauherrenpreis des Zentralvereins der ArchitektInnen Österreichs. Sowohl BewohnerInnen als auch Menschen, die hier arbeiten, wurden in den Planungsprozess integriert. So kam es etwa dazu, dass es im Untergeschoss das sympathische und gemütliche Café „’s neunerl“ mit sehr günstigen Getränken und Speisen gibt – eine Pizza und andere Speisen gibt es hier für 3,50 Euro. Hier können die BewohnerInnen einander treffen, aber auch Leute von außen einladen, ohne etwas zu konsumieren. Es gibt ein offenes Bücherregal, einen Wuzeltisch und einen Fernseher, wobei Letzterer selten genutzt wird, weil die BewohnerInnen meist in ihren Wohnungen fernsehen. Im Gemeinschaftsraum kann unter anderem Tischtennis gespielt werden. Der Hof im Erdgeschoss ist mit diversen Pflanzentrögen liebevoll gestaltet, und hier trifft man sich unter anderem zum Rauchen. Auch die Büroräume der Hausleitung und anderer MitarbeiterInnen befinden sich im Erdgeschoss.

Schöner wohnen

Das Haus strahlt eine angenehme Ruhe aus. Immer wieder kommt Holz zum Einsatz, etwa an der Decke des Cafés oder am Stiegenhausgeländer. Man kann sich vorstellen, dass diese Umgebung sich auf alle positiv auswirkt. Hausleiterin Bischeltsrieder sagt: „Schöner wohnen macht mit uns allen etwas.“ Dass hier qualitätvoll gebaut wurde, hat gesellschaftliche Signalwirkung. Michael Gehbauer, Geschäftsführer der Wohnbauvereinigung für Privatangestellte (WBV GPA), sagt: „Unser Ziel und das des ,neunerhauses‘ war es, etwas Besonderes zu schaffen, das auch durch Architektur-Qualität hervorsticht.“ Es gehe darum, „unseren Respekt gegenüber den Menschen auszudrücken, die hier wohnen.“ Dafür wurden 6,25 Millionen Euro netto investiert. Man hätte es auch günstiger haben können: „Aber es wäre ein falsches gesellschaftliches Signal, für Menschen, die es schwer haben, billig zu bauen.“ Man wollte eine anspruchsvolle, aber keine Luxusarchitektur bauen.

Unser Ziel und das des ,neunerhauses‘ war es, etwas Besonderes zu schaffen, das auch durch Architektur-Qualität hervorsticht. Es geht darum, unseren Respekt gegenüber den Menschen auszudrücken, die hier wohnen.

Michael Gehbauer, Geschäftsführer der Wohnbauvereinigung für Privatangestellte (WBV GPA)

Der Grund, auf dem die „Hamü“ steht, gehört der Ordensgemeinschaft Salesianer Don Boscos, die direkt gegenüber eine Pfarre hat. Die WBV GPA ist Baurechtsnehmerin und zahlt einen Baurechtszins. Das „neunerhaus“ wiederum mietet den Bau von der WBV GPA. Aber warum engagiert sich eine Wohnbauvereinigung für Privatangestellte in einem Wohnprojekt für ehemals Obdachlose? Michael Gehbauer verweist darauf, dass die WBV GPA schon das „neunerhaus“ in der Kudlichgasse in der Nähe des Reumannplatzes errichtet hat und sich auch an anderen sozialen Wohnprojekten beteiligt, wo es etwa um Wohnen für SeniorInnen oder Wohngemeinschaften für Jugendliche geht: „Wir wollen zeigen, dass wir ein guter Partner von sozialen Einrichtungen sein können. Wir definieren uns als eine jener gemeinnützigen Bauvereinigungen, die soziale Träger bei Projekten unterstützen, die diese sonst nicht realisieren könnten. Wir wollen, wenn man so will, die ausgelagerte Bauabteilung für Sozialinstitutionen sein.“ Die WBV GPA stelle den Organisationen ihre Kompetenz, das Errichten und Realisieren von Bauobjekten, zur Verfügung: „Wir versuchen mit klarem gesellschaftlichem Hintergrund Gutes zu tun, indem wir uns in den Dienst der sozialen Anliegen stellen und Projekte realisieren, die für die Gesellschaft einen Mehrwert haben.“ Bei der „Hamü“ hat die WBV GPA eine intermediäre Funktion: Wenn das Baurecht endet, werden die Salesianer Don Boscos den Bau kaufen und wieder Eigentümer sein.

Dreimal pro Woche bringt die Wiener Tafel Lebensmittel zur freien Entnahme vorbei. Ansonsten müssen sich die BewohnerInnen selbst versorgen. Im hauseigenen Café „’s neunerl“ gibt es günstige Speisen und Getränke, aber keinen Konsumzwang.

Ein mächtiges Gefühl

Auf der Rückseite einer postkartengroßen Karte einer Kampagne der Organisation „neunerhaus“ ist zu lesen: „Beenden wir Obdachlosigkeit und Beschämung. Beenden wir die Scham. Jetzt.“ Auf der Vorderseite ist eine junge Frau zu sehen, deren Gesicht großteils von einer bizarren Vogelmaske verdeckt ist – ein Verweis auf mittelalterliche Schandmasken. Darüber steht „schande und scham“. Auf der „neunerhaus“-Website steht zur Kampagne außerdem: „Scham ist ein mächtiges Gefühl. Jeder kennt es: Man wird unsicher, fragt sich, was man falsch gemacht hat, möchte am liebsten unsichtbar sein.“ Obdachlosen Menschen aus dem gesellschaftlichen Abseits zu helfen, das will „neunerhaus“. Und das ist eine gute Geschichte.

Kurzinterview: „Wohnungslosigkeit war meine Rettung“

Wie sind Sie wohnungslos geworden?

Ich habe durch psychische Erkrankungen lange nicht wirklich ins Leben gefunden, immer wieder Arbeiten angefangen und bald wieder abgebrochen. 2010/11 war ich einige Monate wohnungslos. Das war meine Rettung, dadurch hat sich ein gordischer Knoten gelöst.

Inwiefern?

Plötzlich hat sich etwas breitgemacht, das ich damals noch nicht benennen konnte: so etwas wie Hoffnung. Ich war Alkoholiker und habe einen Kollegen kennengelernt, der seine Sucht überwunden und mir gezeigt hat, dass man da rauskommen kann.

Was ist Ihre Aufgabe als Peer?

Peers können durch eigene Erfahrung vermitteln, dass das nicht das Ende der Welt ist. Es ist wichtig, den Menschen zuzuhören und gemeinsam herauszufinden, was die Person braucht. Es ist ein Reflex, jemandem, der leidet, sofort helfen zu wollen, indem man ihm die eigenen Konzepte aufoktroyiert. Die eigenen Lösungen funktionieren aber nicht bei jedem.

Wir haben dazu im Peer-Kurs Rollenspiele mit aktivem Zuhören gemacht. So lässt sich etwa herausfinden, was der Person individuell in der Vergangenheit gutgetan hat. Genau hier kann man für die Zukunft ansetzen.

Stefan P. ist einer von 17 frischgebackenen AbsolventInnen eines Peer-Lehrgangs. Als ehemals Betroffener kann Stefan P. Wohnungslosen heute eine wertvolle Stütze sein.

Was ist schwer an der Arbeit?

Es ist manchmal schwer auszuhalten, wenn jemand selbstschädigendes Verhalten an den Tag legt – und nicht zu wissen, wie man ihm helfen kann. Deshalb ist Supervision so wichtig, sonst frisst einen diese Aufgabe auf.

Was möchten Sie Wohnungslosen, die Hilfe suchen, weitergeben?

Das Wichtigste ist tatsächlich der Faktor Hoffnung und eine Offenheit gegenüber anderen und uns selbst. Jeder Mensch hat die Fähigkeit in sich, sein Leben zu verbessern. Aber wir beschränken uns, indem wir uns selbst dauernd wie in einem Mantra erzählen, wer wir sind. Wir reden uns ein: Das kann ich nicht. Oder: Ich komme nie vom Alkohol weg. Wenn wir diese Mantras kurzfristig stoppen können, können wir uns von uns selbst überraschen lassen.

Von
Alexandra Rotter

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 9/19.

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Über den/die Autor:in

Alexandra Rotter

Alexandra Rotter hat Kunstgeschichte in Wien und Lausanne studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin in Wien und schreibt vor allem über Wirtschaft, Gesellschaft, Technologie und Zukunft.

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