Reportage: Keine klaren Linien

Inhalt

  1. Seite 1 - Wieder selbstständig wohnen
  2. Seite 2 - Ruhe und Rückzug
  3. Seite 3 - Kurzinterview
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Ein Schlüssel, eine Adresse, ein Postkasten und die Möglichkeit, zum Arzt zu gehen: Im „neunerhaus“ Hagenmüllergasse leben ehemals Obdachlose, die teils jahrelang ohne all das auskommen mussten. Hier können sie in ihren eigenen vier Wänden zur Ruhe kommen, Kraft tanken und sich mit viel Unterstützung auf ein selbstbestimmtes Leben danach vorbereiten.

Schöner wohnen

Das Haus strahlt eine angenehme Ruhe aus. Immer wieder kommt Holz zum Einsatz, etwa an der Decke des Cafés oder am Stiegenhausgeländer. Man kann sich vorstellen, dass diese Umgebung sich auf alle positiv auswirkt. Hausleiterin Bischeltsrieder sagt: „Schöner wohnen macht mit uns allen etwas.“ Dass hier qualitätvoll gebaut wurde, hat gesellschaftliche Signalwirkung. Michael Gehbauer, Geschäftsführer der Wohnbauvereinigung für Privatangestellte (WBV GPA), sagt: „Unser Ziel und das des ,neunerhauses‘ war es, etwas Besonderes zu schaffen, das auch durch Architektur-Qualität hervorsticht.“ Es gehe darum, „unseren Respekt gegenüber den Menschen auszudrücken, die hier wohnen.“ Dafür wurden 6,25 Millionen Euro netto investiert. Man hätte es auch günstiger haben können: „Aber es wäre ein falsches gesellschaftliches Signal, für Menschen, die es schwer haben, billig zu bauen.“ Man wollte eine anspruchsvolle, aber keine Luxusarchitektur bauen.

Unser Ziel und das des ,neunerhauses‘ war es, etwas Besonderes zu schaffen, das auch durch Architektur-Qualität hervorsticht. Es geht darum, unseren Respekt gegenüber den Menschen auszudrücken, die hier wohnen.

Michael Gehbauer, Geschäftsführer der Wohnbauvereinigung für Privatangestellte (WBV GPA)

Der Grund, auf dem die „Hamü“ steht, gehört der Ordensgemeinschaft Salesianer Don Boscos, die direkt gegenüber eine Pfarre hat. Die WBV GPA ist Baurechtsnehmerin und zahlt einen Baurechtszins. Das „neunerhaus“ wiederum mietet den Bau von der WBV GPA. Aber warum engagiert sich eine Wohnbauvereinigung für Privatangestellte in einem Wohnprojekt für ehemals Obdachlose? Michael Gehbauer verweist darauf, dass die WBV GPA schon das „neunerhaus“ in der Kudlichgasse in der Nähe des Reumannplatzes errichtet hat und sich auch an anderen sozialen Wohnprojekten beteiligt, wo es etwa um Wohnen für SeniorInnen oder Wohngemeinschaften für Jugendliche geht: „Wir wollen zeigen, dass wir ein guter Partner von sozialen Einrichtungen sein können. Wir definieren uns als eine jener gemeinnützigen Bauvereinigungen, die soziale Träger bei Projekten unterstützen, die diese sonst nicht realisieren könnten. Wir wollen, wenn man so will, die ausgelagerte Bauabteilung für Sozialinstitutionen sein.“ Die WBV GPA stelle den Organisationen ihre Kompetenz, das Errichten und Realisieren von Bauobjekten, zur Verfügung: „Wir versuchen mit klarem gesellschaftlichem Hintergrund Gutes zu tun, indem wir uns in den Dienst der sozialen Anliegen stellen und Projekte realisieren, die für die Gesellschaft einen Mehrwert haben.“ Bei der „Hamü“ hat die WBV GPA eine intermediäre Funktion: Wenn das Baurecht endet, werden die Salesianer Don Boscos den Bau kaufen und wieder Eigentümer sein.

Dreimal pro Woche bringt die Wiener Tafel Lebensmittel zur freien Entnahme vorbei. Ansonsten müssen sich die BewohnerInnen selbst versorgen. Im hauseigenen Café „’s neunerl“ gibt es günstige Speisen und Getränke, aber keinen Konsumzwang.

Ein mächtiges Gefühl

Auf der Rückseite einer postkartengroßen Karte einer Kampagne der Organisation „neunerhaus“ ist zu lesen: „Beenden wir Obdachlosigkeit und Beschämung. Beenden wir die Scham. Jetzt.“ Auf der Vorderseite ist eine junge Frau zu sehen, deren Gesicht großteils von einer bizarren Vogelmaske verdeckt ist – ein Verweis auf mittelalterliche Schandmasken. Darüber steht „schande und scham“. Auf der „neunerhaus“-Website steht zur Kampagne außerdem: „Scham ist ein mächtiges Gefühl. Jeder kennt es: Man wird unsicher, fragt sich, was man falsch gemacht hat, möchte am liebsten unsichtbar sein.“ Obdachlosen Menschen aus dem gesellschaftlichen Abseits zu helfen, das will „neunerhaus“. Und das ist eine gute Geschichte.

Kurzinterview: „Wohnungslosigkeit war meine Rettung“

Wie sind Sie wohnungslos geworden?

Ich habe durch psychische Erkrankungen lange nicht wirklich ins Leben gefunden, immer wieder Arbeiten angefangen und bald wieder abgebrochen. 2010/11 war ich einige Monate wohnungslos. Das war meine Rettung, dadurch hat sich ein gordischer Knoten gelöst.

Inwiefern?

Plötzlich hat sich etwas breitgemacht, das ich damals noch nicht benennen konnte: so etwas wie Hoffnung. Ich war Alkoholiker und habe einen Kollegen kennengelernt, der seine Sucht überwunden und mir gezeigt hat, dass man da rauskommen kann.

Was ist Ihre Aufgabe als Peer?

Peers können durch eigene Erfahrung vermitteln, dass das nicht das Ende der Welt ist. Es ist wichtig, den Menschen zuzuhören und gemeinsam herauszufinden, was die Person braucht. Es ist ein Reflex, jemandem, der leidet, sofort helfen zu wollen, indem man ihm die eigenen Konzepte aufoktroyiert. Die eigenen Lösungen funktionieren aber nicht bei jedem.

Wir haben dazu im Peer-Kurs Rollenspiele mit aktivem Zuhören gemacht. So lässt sich etwa herausfinden, was der Person individuell in der Vergangenheit gutgetan hat. Genau hier kann man für die Zukunft ansetzen.

Stefan P. ist einer von 17 frischgebackenen AbsolventInnen eines Peer-Lehrgangs. Als ehemals Betroffener kann Stefan P. Wohnungslosen heute eine wertvolle Stütze sein.

Was ist schwer an der Arbeit?

Es ist manchmal schwer auszuhalten, wenn jemand selbstschädigendes Verhalten an den Tag legt – und nicht zu wissen, wie man ihm helfen kann. Deshalb ist Supervision so wichtig, sonst frisst einen diese Aufgabe auf.

Was möchten Sie Wohnungslosen, die Hilfe suchen, weitergeben?

Das Wichtigste ist tatsächlich der Faktor Hoffnung und eine Offenheit gegenüber anderen und uns selbst. Jeder Mensch hat die Fähigkeit in sich, sein Leben zu verbessern. Aber wir beschränken uns, indem wir uns selbst dauernd wie in einem Mantra erzählen, wer wir sind. Wir reden uns ein: Das kann ich nicht. Oder: Ich komme nie vom Alkohol weg. Wenn wir diese Mantras kurzfristig stoppen können, können wir uns von uns selbst überraschen lassen.

Von
Alexandra Rotter

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 9/19.

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aw@oegb.at

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Über den/die Autor:in

Alexandra Rotter

Alexandra Rotter hat Kunstgeschichte in Wien und Lausanne studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin in Wien und schreibt vor allem über Wirtschaft, Gesellschaft, Technologie und Zukunft.

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