Wiener Tafel: Lebensmittel für Bedürftige retten

Reportage Wiener Tafel Armut Lebensmittel Ehrenamt
Buchstäblich: Ehrenamtlichen Helfer der Wiener Tafel wie Josef Ehrenhöfer und Martina Vogl haben eine tragende Rolle in der Armutsbekämpfung. | © Markus Zahradnik
Fotos (C) Markus Zahradnik
Mehrere Hundert Ehrenamtliche retten bei der Wiener Tafel jährlich bis zu 750 Tonnen Lebensmittel. In ihrer Freizeit helfen sie dort, wo der Kapitalismus versagt und der Staat wegschaut.
Der Wiener Großmarkt am südlichsten Rand von Wien ist ein klassischer „Nicht-Ort“. 30 Hektar groß, umzäunt, unübersehbar, aber kaum bemerkt. Ein karger Ort, reißbrettartig beseelt von Kreuzungen, Lagerhallen und LKWs. Ein Großteil der Wiener Lebensmittel kommt hier an, wird verladen und anschließend an Händler und Supermärkte verteilt. Hier starten auch Martina Vogl und Josef „Beppo“ Ehrenhöfer ihre Tour mit einem Tiefkühllaster der Wiener Tafel. Weil Wien (und die Welt) zwar mehr als genug Nahrungsmittel hat, diese jedoch schlecht verteilt sind. Die Geschäftsführerin der Wiener Tafel, Alexandra Gruber, bringt es so auf den Punkt: „Hunger ist kein Problem mangelnder Lebensmittel, sondern ein Logistikproblem.“

Die Retter der Tafelrunde

Es ist ein sonniger Donnerstagvormittag, überdurchschnittlich warm für Mitte Juni. Ehrenhöfer kontrolliert noch einmal alle Papiere und ob die Türen des Kühllasters ordentlich verschlossen sind. Dann klettert er auf den Fahrersitz und startet den Motor. Seit November fährt der 66-jährige IT-Manager im Ruhestand etwa vier bis fünfmal pro Monat ehrenamtlich für die Tafel Lebensmittel aus. Etwas Gutes tun, die Pension sinnvoll nutzen wolle er. Über einen Freund kam er zur Tafel. Um den Kühllaster sicher durch Wien manövrieren zu können, absolvierte er extra ein Training. Beifahrerin Vogl steigt neben ihm ins Fahrerhaus. Die 33-Jährige – blonde Haare, Jeans und Oversize-Brille – engagiert sich bereits seit 2018 bei der Tafel. Neben ihrem Studium der Bildungswissenschaft und ihrem Job bei einer Promotion-Agentur geht sich immerhin eine Tour pro Monat aus. Nächste Woche soll Vogl ihre Bachelorarbeit abgeben, weshalb sie diesen Monat ausnahmsweise schon die zweite Tour mitfährt. „Sinnvolles Prokrastinieren“ nennt sie das und lacht.

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Ehrenamt ist keine Altersfrage: Neben Pensionist:innen machen Studierende und Zivildiener:innen einen Großteil der Aktiven aus. | © Markus Zahradnik

1999 mit 5.000 Schilling Startkapital gegründet, ist die Wiener Tafel heute die älteste Tafel Österreichs. Im vergangenen Jahr versorgte das Team 92 Sozialeinrichtungen mit insgesamt 746.100 Kilogramm Lebensmitteln. Das Zusammentreffen mehrerer Krisen – Corona, Ukraine-Krieg, Inflation, steigende Energiepreise – sorgt dafür, dass der Bedarf derzeit steigt wie nie zuvor. Insgesamt 20.000 Armutsbetroffene versorgte die Wiener Tafel im vergangenen Jahr täglich, im Vergleich zu 16.000 im Jahr 2020. „Durch den Krieg in der Ukraine ist der Bedarf um weitere 30 Prozent gestiegen“, gibt Gruber zu bedenken.

Den Rhabarber lieber nach unten

Während Ehrenhöfer die erste Adresse ins Navi tippt und den Transporter behutsam aus dem Großmarkt lenkt, tippt Vogl bereits die erste Nummer ins kleine Nokia: „Hallo hier ist die Wiener Tafel! Wir sind in zehn Minuten da!“, warnt sie das Hotel Primus in Favoriten vor. „Davon haben wir alle was“, meint dort später einer der Hotelangestellten, während Ehrenhöfer und Vogl eifrig zehn Kisten Tiefkühlpommes in den Transporter räumen (die zur Erheiterung aller auf ihrem Fahrauftrag euphemistisch als „Gemüse“ deklariert sind). Ein kurzes Danke, und Ehrenhöfer tippt die nächste Adresse ins Navi. Insgesamt zwölf Stationen werden sie heute ansteuern. Auf einem fünfseitigen Fahrauftrag sind Adressen, Telefonnummern, Kontaktpersonen und Waren penibel aufgelistet. Im Schnitt verteilen die beiden pro Fahrt etwa 800 Kilogramm Lebensmittel an soziale Einrichtungen.

So wie Ehrenhöfer und Vogl verlassen täglich Freiwillige der Wiener Tafel den Großmarkt, um überschüssige Lebensmittel an Bedürftige in ganz Wien zu verteilen. Karlheinz Bergmann, der sich selbst als „der lustige Mensch aus Köln“ bezeichnet, sein Kölsch aber hörbar zugunsten des Kärntnerischen aufgegeben hat, steht in der Lagerhalle und referiert sichtlich stolz über sein Werk. Seit 2020 ist er hier am Großmarkt und sortiert für die Tafel täglich jeweils zwölf Kisten Obst und zwölf Kisten Gemüse. „Optisch ansprechend“ müsste die Zusammenstellung sein, betont Bergmann. Das habe auch etwas mit Respekt gegenüber den Klient:innen zu tun. Meist geht er dabei pragmatisch vor, den Rhabarber versteckt er lieber etwas weiter unten.

Die meiste Ware lukriert Bergmann direkt vor Ort. Sein Erfolgsrezept seien gute Beziehungen und das Beherrschen des „herben Schmähs“, der unter den Großmarkt-Händler:innen en vogue sei. Über Nacht stellt er die Kisten ins Kühlhaus, ehe sie tags drauf um 7 Uhr in Autos und Transporter verladen werden.

Portrait Alexandra Gruber, Geschäftsführerin der tafel Wien, im Interview.
„Herber Schmäh trägt Früchte“: Karlheinz Bergmann sortiert seit 2020 am Großmarkt Obst und Gemüse für die Wiener Tafel. | © Markus Zahradnik

Doppelstrategie: Sein und Bewusstsein

Bei der Wiener Tafel verfolge man eine Art Doppelstrategie, erklärt Geschäftsführerin Gruber. Ehrenamtliche wie Ehrenhöfer, Vogl und Bergmann sammeln, sortieren und verteilen Lebensmittel. Bis zu einer Tonne Lebensmittel können sie so täglich am Großmarkt lukrieren und vor der Mülltonne retten. Aber auch Überschüsse aus der Landwirtschaft werden verteilt. „Das können dann schon mal 20 Tonnen Kartoffeln auf einmal sein“, skizziert Gruber ein Bild von den enormen logistischen Herausforderungen, vor denen ihre Organisation fallweise steht.

Andererseits gehe es um Bewusstseinsbildung: Mit Infoständen, Veranstaltungen und Workshops wollen Gruber und ihr Team für das Thema Lebensmittelverteilung und -verschwendung sensibilisieren. Unweit des Großen Tafelhauses, im Kleinen Tafelhaus, werden Workshops angeboten, in denen man lernt, wie man aus fast Verdorbenem doch noch etwas Leckeres zaubert. Schulklassen können hier ein Sensorik-Labor besuchen und etwas über die Halt- und Essbarkeit von Lebensmitteln lernen.

Wiener Tafel rettet Lebensmittel vor dem Müll

„Rund ein Drittel der produzierten Lebensmittel landet in Österreich im Müll“, beklagt Geschäftsführerin Gruber. „Diese Verschwendung ist für rund acht Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich.“ Als Wiener Tafel begreift man sich nicht nur als soziale, sondern auch als ökologische Initiative. Zu Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine startete die Wiener Tafel eine Spendenaktion. „Die Spendenbereitschaft war enorm“, erinnert sich Gruber. Das Problem: Die Bedürfnisse halten meist länger als das Bewusstsein. Während im März, kurz nach Kriegsbeginn, die Lager überquollen, gingen die Spenden im April bereits wieder merklich zurück. Der Bedarf wäre nach wie vor da, aber das Bewusstsein ist längst wieder im Schwinden.

Portrait Alexandra Gruber, Geschäftsführerin der Wiener Tafel, im Interview.
„Hunger ist kein Problem mangelnder Lebensmittel, sondern ein Logistikproblem“,
weiß Alexandra Gruber, Geschäftsführerin der Wiener Tafel, aus Erfahrung. | © Markus Zahradnik

Der weiße Tiefkühllaster bahnt sich den Weg durch den Wiener Berufsverkehr. Beim Ute Bock Haus in der Favoritner Zohmanngasse liefern Vogl und Ehrenhöfer die Tiefkühlpommes wieder ab. Auch hier ein kurzes Danke. Kaum ist die Ware abgeladen, springen die beiden wieder in den Transporter. Beide machen ihren Job sichtlich gerne. „Das fühlt sich nicht an wie Arbeit“, bekräftigt Ehrenhöfer. Der 66-Jährige macht einen ruhigen, aber bestimmten Eindruck, lenkt den Tiefkühllaster routiniert durch Straßen, Gassen und in Parklücken. Seine Beifahrerin erzählt indes Anekdoten und Kuriositäten über Wiener Gemeindebauten.

Wiener Tafel lebt vom Ehrenamt

Vom 10. Bezirk geht’s weiter in den 3., auf das Gelände der Firma Americold, zu Tor 7. In einem großen Kühlhaus fahren große, starke Männer mit Mützen und Anoraks in atemberaubender Geschwindigkeit auf Gabelstaplern durch die Gegend. Sie schieben dabei Tiefkühlkost von A nach B. Zwei davon, überwiegend mit Germ- und Marillenknödeln beladen, kommen in den Laderaum des Kühllasters. „Danke, tschüss!“ Das Prozedere wirkt weniger wie eine noble Geste denn wie simple Routine, Ehrenamtsalltag. Weiter geht’s in die Donaustadt, Vogl telefoniert, während Ehrenhöfer sich über den Verkehr auf der Tangente beschwert.

Von der sich anbahnenden Mittagshitze bleibt auch das Fahrerhaus eines Kühllasters nicht verschont. Neun Stationen haben Ehrenhöfer und Vogl noch vor sich. Darunter ein Frauenhaus, eine Obdachloseneinrichtung und eine Flüchtlingsunterkunft. Nachdem sie auf ihrer Tiefkühltour zwölf Wiener Bezirke durchquert haben, biegen sie am frühen Nachmittag wieder in den Wiener Großmarkt ein. Ehrenhöfer will heute Nachmittag noch Ziehharmonika üben. Vogl will – vielleicht – an ihrer Bachelorarbeit weiterschreiben. Vogl und Ehrenhöfer sind zwei von insgesamt 221 Ehrenamtlichen bei der Wiener Tafel. Der Altersschnitt liege bei rund 60 Jahren, schätzt Geschäftsführerin Gruber. Neben Pensionist:innen machen Studierende und Zivildiener:innen einen Großteil der Aktiven aus.

Auch wenn er seine Arbeit hier gerne mache, zweifle er manchmal an der Sinnhaftigkeit des Ganzen, gibt einer der Ehrenamtlichen zu bedenken. „Die da drüben verdienen sich dumm und deppert“, beklagt er und deutet auf die andere Seite des Zauns, auf das Gelände der REWE Group, eines der großen Lebensmittelhändler in Österreich. Er weist auf einen Punkt hin, der viele ehrenamtliche Organisationen beschäftigt: Ziel sollte eigentlich die eigene Überflüssigkeit, die eigene Abschaffung sein. Das Optimum wäre dann erreicht, wenn es die Wiener Tafel nicht mehr braucht, ergo Ressourcen so verteilt sind, dass alle genug haben.

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Starker Anstieg: Insgesamt 20.000 Armutsbetroffene versorgte die Wiener Tafel im vergangenen Jahr täglich. | © Markus Zahradnik

Immer wieder sensibilisieren

Eine ähnliche Formulierung sei einst in der Vision der Wiener Tafel verschriftlicht worden, sagt Geschäftsführerin Gruber. „Das haben wir rausgenommen, denn das ist einfach zu weit weg.“ Auch in einer perfekten Welt werden sich Überschüsse nicht vermeiden lassen, glaubt Gruber. Geht es um den Umgang mit Lebensmitteln, appelliert sie an die Macht der Konsument:innen: „Wir haben es tagtäglich selbst in der Hand, zu welchen Produkten wir greifen.“ Gruber setzt auf Bewusstseinsbildung, die Sensibilisierung der Zivilgesellschaft, auf Produktzertifizierungen. Hier befinde sich ihrer Meinung nach der größere Hebel, um etwas zu bewegen. Aber wie groß ist dieser Hebel, die Macht der Konsument:innen tatsächlich?

Vor 23 Jahren wurde die Tafel gegründet, neben ihr haben sich längst diverse weitere Initiativen formiert, die an Konsument:innen und Zivilgesellschaft appellieren, nachhaltig, ökologisch und fair zu kaufen und möglichst wenig zu verschwenden. Im selben Jahr, 1999, lag die Zahl der Armutsgefährdeten in Österreich bei elf Prozent. Der Kampf für eine bessere Welt jedoch wird mit ungleichen Mitteln geführt. Den Konsument:innen und der Zivilgesellschaft stehen mit Spar, REWE und Hofer internationale Großkonzerne gegenüber, die mit 90 Prozent Marktanteil hierzulande eine nie dagewesene Markt- und Preismacht auf sich vereinen. Imperialistische Großmächte wie Russland brechen Kriege vom Zaun, die die Lebensmittelsicherheit ganzer Kontinente gefährden.

Krisen machen Wiener Tafel notwendig wie selten zuvor

Systemische Verwerfungen, wie steigende Energiepreise, Inflation, gestörte Lieferketten und geopolitische Auseinandersetzungen übersteigen ebenso die Macht der Zivilgesellschaft. Vergangenes Jahr (aktuelle Entwicklungen noch nicht eingerechnet) galten hierzulande 17,3 Prozent, mehr als 1,5 Millionen Menschen, als armuts- oder ausgrenzungsgefährdet – trotz der Tafel. Das Engagement der 221 Freiwilligen der Wiener Tafel, die 2021 sage und schreibe 13.724 Ehrenamtsstunden leisteten, 55.303 Kilometer fuhren und knapp 750 Tonnen Lebensmittel retteten, ist der noble Versuch, zumindest den größten Schaden abzuwenden – wobei viele jener Aufgaben, die Ehrenhöfer, Vogl, Bergmann und Co übernehmen, eigentlich staatliche Aufgaben wären. Sie helfen dort, wo ein an Profit und nicht an sozialen Bedürfnissen orientierter Kapitalismus versagt und der Staat wegschaut – und sie tun dies in ihrer Freizeit, unentgeltlich.

Hunger und Armut mögen logistische Probleme sein – doch viel mehr noch sind es politische Probleme. Bei der Wiener Tafel kämpft man mit Hemdsärmeligkeit und Ehrenamt gegen geopolitische Dynamiken, systemische Krisen und staatliches Nichthandeln. Ihnen bleibt nur die Korrektur im Nachhinein, die Symptombekämpfung – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Über den/die Autor:in

Johannes Greß

Johannes Greß, geb. 1994, studierte Politikwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet als freier Journalist in Wien. Er schreibt für diverse deutschsprachige Medien über die Themen Umwelt, Arbeit und Demokratie.

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