Pflege neu denken

© Markus Zahradnik
Im Burgenland versucht der Samariterbund Pflege neu zu denken und gewinnt damit Preise. Das Haus hat nichts mehr mit dem Klischee eines Altenheims gemein. Ein Besuch vor Ort.
Die Corona-Tests auf dem Tisch beim Eingang erinnern mit ihrer Form an Fischstäbchen. Wer die moderne Glastür des Zentrums passieren will, muss einen PCR-Test vorlegen und geimpft sein. Zusätzlich wird manchmal mit Stäbchen getestet. In den blauen Mappen werden die Besucher:innen verzeichnet. Es dürfen keine Fehler passieren. Viel zu oft waren Pflegeheime während der Pandemie in den Medien.

Pandemie: Feind des Konzeptes

Im südlichen Burgenland findet sich ein Ort namens Großpetersdorf. Etwa 3.500 Menschen leben entlang einer Straße. Wo sich heute das Pflegekompetenzzentrum erstreckt, war früher der Schandfleck des Dorfes. Eine „Gstetten“, mehr sei da nicht gewesen. Seit 2016 wurde eines von acht Pflegekompetenzzentren im Bundesland erbaut, weitere sind in Planung. Die Warteliste ist voll, jeden Tag läutet das Telefon der Wohnbereichsleitung. Angehörige wollen wissen, ob ein Platz frei geworden sei. Das Gebäude soll bloß nicht an ein Altenheim erinnern oder an die Klischees, die man damit verknüpft. Biegt man beim Eingang links ab, gelangt man zum „Dorfplatz“. Dort steht ein Sesselkreis, der durch die Fensterfronten erleuchtet wird. Dann läuft man an der leeren Cafeteria vorbei. Weiter vorbei an einer Kapelle, die gleichzeitig das Kino ist, und dem Erlebnisbad. In Letzterem ziehen sich aktuell die Pflegenden der Gruppe Kirschbaum um.

Eigentlich möchte man hier im Haus alles offen haben. Möglichst viele Menschen von draußen reinholen, die Wohngruppen mit dem Haus vermischen und Spaß zusammen haben. Von Nikolaus, über Weihnachtsfeier, Heurigenabend und Konzert bis Kindergartenbesuch. „Unsere Cocktailpartys sind legendär!“, sagt die operative Leiterin Christine Ecker. Normalerweise würde man bald den „Rosenball“ feiern. Stattdessen müssen die Wohngruppen streng untereinander bleiben. Besuchende dürfen nur getestet herein und spontan geht gar nichts mehr. Die Pandemie ist der größte Feind ihres Konzepts.

Lösungen fürs Alter

Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass die Bevölkerung immer älter wird. Bis 2050 soll die Anzahl der Menschen über 65 Jahren in Österreich schon 2,64 Millionen betragen. Zum Vergleich: 2016 waren rund 1,62 Millionen Menschen 65 Jahre und älter. In der Vergangenheit kämpften die Pflegeheime aber nicht mit einem Ansturm, sondern vor allem mit Missbrauchsfällen. Der Journalist Victor Castanet beschreibt in seinem neuen Buch „Die Totengräber“ Dutzende Vorkommnisse in einem der angesehensten Pflegeheime in Paris. Auch in Österreich kamen immer wieder Skandale ans Licht. Erst im vergangenen Jahr wurden alle beschuldigten Pflegenden im Heim im niederösterreichischen Kirchstetten schuldig gesprochen. Sie sollen Bewohner:innen missbraucht, vernachlässigt, gequält und sich darüber in einer Whatsapp-Gruppe ausgetauscht haben.

Maria Eresheim, für die Pflegedienstleitung zuständig, ist seit 40 Jahren dabei. Einfach sei es nie gewesen, aber es würde an ihnen liegen, die Standards zu verändern. | © Markus Zahradnik

Während Konzepte wie die 24-Stunden-Hilfe weiter ansteigen, zeigte sich spätestens durch die Pandemie, dass es dringend neue Ideen braucht, wie Altern in Würde aussehen kann. Der Samariterbund wurde für seine Pflegekompetenzzentren im Burgenland kürzlich mit fünf Sternen ausgezeichnet. Eine unabhängige Zertifizierungsstelle lobte ihre Professionalität, Menschlichkeit und das Managementsystem. Eines der Häuser liegt in Großpetersdorf. Aktuell finden 70 Langzeitpflegefälle im Zentrum Platz. In einer Gruppe leben auch Menschen mit Behinderungen. Während der Pandemie sei der Bedarf gestiegen. Viele Frauen hätten zu Beginn noch die Betreuung übernommen und sich um die älteren Menschen gekümmert. Nach einem Jahr intensiver Betreuung sei vielen klar geworden, dass es so nicht weitergehen könne, erklärt die Leiterin. Neben dem Heim säumen 16 Wohnungen das Zentrum. Dort soll so eigenständig wie nur irgendwie möglich gelebt werden.

So ergeben sich flexible Lösungen – wie für das Ehepaar Herbert und Edeltraud. Er bedarf Pflege und lebt im Heim, sie lebt eigenständig in der Wohnung nebenan. Zu Mittag kommt sie vorbei, hilft beim Aufdecken und der Essensausteilung. Danach schiebt sie ihren Mann für den Kaffee über den Weg in ihre Wohnung.

Bewohnerin Irene zeigt dem Wohnbereichsleiter Christoph Sztubics Fotos von ihrer Familie. | © Markus Zahradnik

Individualität als Credo

Im Haus sollen die Menschen möglichst so weiterleben, wie sie es zuvor getan haben. Alles, was der medizinische Rahmen erlaubt, soll gemacht werden. Wer morgens nicht aufstehen will, muss das nicht. Wer nachmittags ein Gläschen Weißwein trinken will, darf das. Wer lieber Karten spielt, als spazieren zu gehen, macht das. Wer lieber allein ist, zieht sich zurück. „Manche wollen Rambazamba, andere lieber Ruhe.“ Gerade für die Angehörigen sei das manchmal schwer zu akzeptieren. Ecker erzählt von den Kindern eines Bewohners, die sie anriefen und empört berichteten, ihr Vater habe Alkohol getrunken. Ecker lachte und habe geantwortet: „Ja hoffentlich, er war beim Heurigen.“ Nur weil man in Pflege sei, dürfe das Leben nicht vorbei sein. Dieses denkbar einfache Credo scheint hier den entscheidenden Unterschied zu machen.

Manche wollen Rambazamba,
andere lieber Ruhe. 

Christine Ecker, operative Leiterin
Pflegekompetenzzentrum Großpetersdorf

Während der Corona-Pandemie blieb der Spaß leider oft auf der Strecke. Das Kino ist auch donnerstags leer. Keine „Sissi“ und keine Heinz-Rühmann-Filme mehr. Das Haus schloss seine Türen, bevor das Land in den ersten Lockdown ging. Ecker und ihre Kolleg:innen hatten „so ein Gefühl“, wie sie es nennen. Bisher blieb das Heim von Clustern verschont. Seit der Pandemie habe man den Fokus noch mehr auf Beschäftigung im Haus gelegt, aber auch darauf, dass der Kontakt mit den Familien ständig aufrechterhalten blieb. Das gelang vor allem durch Tablets. Ansonsten bleiben Bewohner:innen und Pflegende streng in ihren Wohngruppen.

Für Sylvia Kremsner ist es besonders schwer, ihren Job zu machen. Sie ist hauptberuflich für die Animation im Haus zuständig. Ja, sie wisse, das klinge lustig, nach All-inclusive-Urlaub und so. Sie ist ausgebildete Berufs- und Sozialpädagogin und kommt aus der Pflege. Seit einer Zusatzausbildung trägt sie den Titel für die Senior:innen-Animation. Aktuell muss sie wegen der vielen Krankenstände in der Pflege einspringen, erzählt sie.

Vor der Pandemie achtete sie darauf, die Menschen möglichst rauszubringen und Ausflüge zu machen. Zum Heurigen, Frühschoppen und zum Dorffest. Jetzt müsse alles in der Gruppe stattfinden. Musik ist ihre Geheimwaffe. So steht Kremsner jeden Tag am Keyboard und trällert die alten Hadern. Es müssen Lieder sein, welche die Bewohner:innen von früher kennen, sagt sie. So was wie Das Wandern ist des Müllers Lust oder Die schöne Burgenländerin. Manchmal würden demente Bewohner:innen, die eigentlich nicht mehr sprechen, aus dem nichts zu singen beginnen, erzählt sie.

In ihrer Ausbildung habe sie viel über das Basteln gelernt. „Die Menschen wollen aber nicht basteln. Sie haben ihr Leben lang gearbeitet und warum sollten sie plötzlich Osterhasen basteln wollen?“ So überlegt sich Kremsner immer Neues – wie etwa das „Federn-Schleißen“. Früher machte man das für die sogenannte Mitgift der Frau. Dazu werden die Federn vom Kiel getrennt. Die harte Arbeit dauert Stunden und begeistert die Bewohner:innen, weil es sie an früher erinnert. Kremsner singt und tanzt mit einer Puppe in der Hand neben dem mobilen Bett von Maria*. Sie ist 72 Jahre alt und war eine der Ersten, die hier eingezogen sind, erzählt sie stolz. Das Bett steht im Wohnzimmer, da ihr Kreislauf nicht mehr mitspielt. Maria berichtet von Schicksalsschlägen und ihrem amputierten Bein. Ihr gefalle es besonders, wenn Kremsner da sei. Diese nennt sie „Lady Mary“ und drückt dabei fest ihre Hand.

Die Möbel im Wohnzimmer sind grün. An den Wänden hängen die Hochzeitsfotos der Bewohner:innen. Auf dem Tisch steht Frittatensuppe. Irene* unterbricht das Mittagessen, um ihr Zimmer zu zeigen. Bunte Blumen stehen auf dem Tisch. Die habe ihr Sohn zum Valentinstag gebracht. Zweimal die Woche kämen ihre Söhne vorbei, erzählt sie. Ihre Gesichter lachen von den Fotos hinter dem Bett herunter. Nach einem schweren Schlaganfall konnte Irene erst mal gar nichts mehr. Ihre gesamte linke Seite war über vier Monate gelähmt. Heute kann sie sich mit ihrem Wagerl durch das Haus bewegen. Hier funktioniere das gut, weil alles auf einer Ebene sei. Irene löst gerne Sudokus und Kreuzworträtsel. Wie zum Beweis liegt die Zeitung aufgeschlagen am Tisch. Alles ist längst ausgefüllt.

Das Licht hinter der Glasscheibe mit gefrorenen Hagebutten an der Decke lässt sich umfärben, „zur Beruhigung“, sagt der Betreuer. Am besten gefalle ihr aber nicht die Ruhe, sondern dass immer etwas los sei. Zumindest war das vor Corona so. Einmal die Woche standen viele Minischuhe beim Eingang, und die Kinder aus der örtlichen Krippe rannten durch die Wohngruppen. Wie ein heftiger Windstoß brachten sie alles durcheinander. Jetzt müssen sie vor der gläsernen Tür bleiben und singen die Lieder im Freien. Die Menschen winken ihnen von drinnen zu.

Essenziell für die Zufriedenheit im Haus ist auch das Essen. Vor der Pandemie habe er klar mitbekommen, ob seine Gerichte zufriedenstellen oder nicht, erzählt der Koch René Ganauf. Bei Veranstaltungen und Feiern sei er in den Austausch mit den Bewohner:innen gekommen, sagt er und zeigt nach oben. Die Küche befindet sich im Untergeschoss, und er darf nicht mehr rauf. Ganauf geht auf die Wünsche der Menschen im Haus ein. Wenn jemand palliativ betreut wird, fragt er nach, was er oder sie noch essen möchte oder könne. „Einmal im Jahr teilen wir Zettel aus, und die Bewohner können ihre Wünsche draufschreiben, und dann machen wir eine Wünsch-dir-was-Woche.“ Am beliebtesten seien immer Backhendl, Schnitzel und Krautstrudel. „Mir ist es wichtig, dass es den Menschen schmeckt. Ich kann hier keine Bowl oder etwas Veganes auftischen. Mit so etwas Modernem würde ich mich nicht beliebt machen.“

Abgeschaut haben sich Ecker und ihr Team vieles aus den USA. Dort gebe es sogenannte Magnet Hospitals. Diese würden besondere Leistungen für die Mitarbeiter:innen bieten und so das beste Personal anziehen. „Wir versuchen den Fokus in Sachen Individualität nicht nur auf die Bewohner:innen, sondern auch auf die Mitarbeiter:innen zu legen“, sagt Ecker. Dazu gibt es regelmäßige Orientierungsgespräche mit Fragen wie: Wo siehst du deine Stärken? Wo möchtest du dich hinentwickeln? Welches Ziel setzt du dir für das nächste Jahr? Die Ziele müssen die Pflegenden selbst formulieren und sind breit gestreut: vom Wunsch, die eigenen Pudel-Hündinnen mehr in die Arbeit zu integrieren, einen Kosmetikabend für die Damen im Haus zu veranstalten oder noch einmal zu studieren.

„Wir versuchen den Fokus in Sachen Individualität nicht nur auf die Bewohner:innen, sondern auch auf die Mitarbeiter:innen zu legen“, sagt die operative Leiterin Christine Ecker. | © Markus Zahradnik

Neue Standards

Maria Eresheim ist für die Pflegedienstleitung zuständig. Sie betont, dass es im Dienstleistungssektor doch immer so sei, dass gute Arbeit nur möglich sei, wenn die Mitarbeiter:innen zufrieden im Job seien. Was Eresheim gar nicht aushält, ist das Gejammer in der Branche. Sie ist seit 40 Jahren dabei, einfach war es nie, aber es würde an ihnen liegen, die Standards zu verändern. „Ich bin sehr hellhörig bei unseren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, wenn etwas für sie nicht passt. Wir suchen dann zusammen nach Lösungen.“ In der Vergangenheit hieß es in der Pflege dann oft, man könne es eh nicht anders machen. Eresheim sagt: „Wir fliegen auf den Mond und auf den Mars, dann schaffen wir auch das.“ Ecker nickt und unterbricht: „Unser Credo ist: Geht nicht, gibt’s nicht!“

Das Heim bekomme viele Initiativbewerbungen und habe aktuell den Luxus, sich die Bewerber:innen aussuchen zu können. Der gute Ruf spreche sich bei den Praktikant:innen herum. Es brauche gute, starke Menschen in der Pflege, die den jungen Menschen viel Wissen weitergeben, „die Entscheidungen treffen, nicht weil es schon immer so war, sondern weil sie es wissenschaftlich begründen“, so Eresheim. Sie glaubt an die kommenden Generationen und dass diese zukünftigen Mitarbeiter:innen stolz auf ihren Beruf in der Pflege sein können.

Statt dem legendären „Rosenball“ hofft man nun auf den Sommer. Mit einem Sommernachtsfest will man all das Versäumte nachholen und wünscht sich eine skandalöse Nacht – im besten Sinne.

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Über den/die Autor:in

Eva Reisinger

Freie Journalistin und Autorin in Wien. Sie schrieb für den ZEIT-Verlag über Österreich, Feminismus & Hass. War Korrespondentin und lebt halb in Berlin und halb in Wien und erzählte euch, was ihr jeden Monat über Österreich mitbekommen müsst, worüber das Land streitet oder was typisch österreichisch ist.

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