SOS Notstandshilfe: Abschaffung bedeutet Hartz IV in Österreich

Roter Regenschirm im Sturm. Notstandshilfe muss in der Arbeitslosenversicherung bleiben.
Für viele ist die Notstandshilfe der letzte Rettungsschirm. Doch Österreich droht Hartz IV. | © Adobe Stock/Rainer Fuhrmann
Wird die Notstandshilfe aus der Arbeitslosenversicherung herausgelöst, droht Österreich die Einführung von Hartz IV durch die Hintertür.
Es klingt harmlos und bürokratisch, könnte aber den größten sozialpolitischen Umbruch der Zweiten Republik einleiten: „Wenn man die Notstandshilfe aus der Arbeitslosenversicherung herausnimmt und aus Steuermitteln bezahlt.“ Diesen Vorschlag machte der Ökonom und Direktor des Wirtschaftsforschungsinstituts WIFO, Gabriel Felbermayr, in einem Interview mit der Tageszeitung „Kurier“.

Genau wie das Arbeitslosengeld ist die Notstandshilfe im Arbeitslosenversicherungsgesetz geregelt und dementsprechend eine Versicherungsleistung. Wird die Notstandshilfe aus dieser Versicherung herausgelöst und kommen die Mittel direkt aus dem Bundesbudget, könnte ein konservativer Finanzminister wie Magnus Brunner auf die Idee kommen, die Notstandshilfe drastisch zu kürzen und damit durch die Hintertür abzuschaffen. Genau davor warnte auch Markus Marterbauer, Chefökonom der Arbeiterkammer, in einem ersten Statement auf Twitter.

Keine Notstandshilfe bedeutet österreichisches Hartz IV

Es ist nicht so lange her, als die Notstandshilfe zuletzt angegriffen wurde. Die schwarz-blaue Regierung Kurz/Strache hatte sich schon auf deren Abschaffung geeinigt. Lediglich zu viel Wodka-Redbull und Bilder von Heinz-Christian Strache im Unterleiberl haben Österreich davor bewahrt. Die Umsetzung hätte nichts anderes bedeutet als die Einführung von „Hartz IV“ in Österreich.

Die Notstandshilfe ist das wichtigste Instrument, das den österreichischen vom deutschen Sozialstaat unterscheidet. Wer in Österreich sein Arbeitslosengeld nach Auslaufen der Anspruchsdauer verliert, kann Notstandshilfe beantragen. Diese ist etwas geringer als das ohnehin schon niedrige Arbeitslosengeld. Aber ihr Bezug kann jährlich verlängert werden. Gäbe es die Notstandshilfe nicht, würden Betroffene direkt in die „Sozialhilfe neu“ fallen. Mit geringeren Geldleistungen. Vor allem aber verlieren sie ihr Vermögen. Ob Eigentumswohnung, Grundstücke oder Pkw. Das Privatvermögen muss bis auf knapp sechstausend Euro aufgebraucht werden.

Was genau ist Hartz IV?

In Deutschland passiert das seit 2005 unter dem Spitznamen Hartz IV. Davor gab es in der Bundesrepublik ein ähnliches System wie in Österreich. Zuerst das Arbeitslosengeld, darauf folgte bei längerer Arbeitslosigkeit die sogenannte Arbeitslosenhilfe. Erst danach kam man in das System der Sozialhilfe. Der damalige SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder beauftragte 2002 den Vorstand der Volkswagen AG, Peter Hartz, mit der Ausarbeitung von Reformvorschlägen für neue Sozialhilfegesetze.

Gerhard Schröder bei einer Buchpräsentation.
Ex-Kanzler Gerhard Schröder gilt als Architekt von Hartz IV. Es sollte nicht der einzige Graben bleiben, den er in der Partei aufriss. | © Adobe Stock/Timo Ullemeyer

In der vierten Phase dieser Reformen wurden die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zum sogenannten Arbeitslosengeld II zusammengefasst. Im Volksmund etablierte sich aber nach dem geistigen Schöpfer die Bezeichnung „Hartz IV“. Das Arbeitslosengeld II bedeutet eine niedrige gehaltsunabhängige Geldleistung, Zugriff auf das Vermögen und obendrein harte Kriterien, die erfüllt werden müssen, um das Geld überhaupt zu erhalten. Dazu gehört auch die Verpflichtung, Arbeitsleistung zu einem Stundenlohn von einem Euro annehmen zu müssen.

Endlich Niedriglohn

„Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.“ Damit rühmte sich der deutsche SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder 2005 vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Der angesprochene Niedriglohnsektor war ein direktes Resultat der Hartz-Reformen.

Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe bedeutet nichts anderes als Lohndruck. So wie es auch bei der Abschaffung der Notstandshilfe wäre. Der Druck auf Arbeitslose steigt enorm. Sie werden gezwungen, jede Arbeit anzunehmen. Auch für Beschäftigte steigt der Druck, weil bei Arbeitsplatzverlust Hartz IV droht. Letztendlich steigt sogar der Druck auf Gewerkschaften bei den Lohnverhandlungen.

Eine:r von fünf Beschäftigten arbeitet in Deutschland mittlerweile zu einem Niedriglohn. In Österreich ist es nur jede:r achte. Ungünstig auf die deutsche Niedriglohnquote wirkt sich dabei aus, dass nur jedes zweite Arbeitsverhältnis einem Tarifvertrag unterliegt. In Österreich sind es etwa 98 Prozent. Zwar hat Deutschland im Gegensatz zu Österreich seit 2015 einen gesetzlichen Mindestlohn, der im Herbst 2022 sogar auf 12 Euro pro Stunde angehoben wird, allerdings gilt dieser Mindestlohn erst nach sechs Monaten regulärer Beschäftigung für Langzeitarbeitslose. Auch die 1-Euro-Jobs, die es in Deutschland zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt gibt, sind vom Mindestlohn ausgenommen.

Wen die Abschaffung der Notstandshilfe besonders treffen würde

Hartz IV hat Deutschland breite Verarmung gebracht. Über 70 Prozent der Arbeitslosen in Deutschland sind armutsgefährdet oder leben bereits in Armut. In Österreich ist es weniger als die Hälfte. Aber auch in Österreich sind Langzeitarbeits- und Langzeitbeschäftigungslose die am höchsten armutsgefährdete und von Armut betroffene Gruppe.

Besonders zynisch ist, dass die konservative Seite im Zusammenhang mit der Abschaffung der Notstandshilfe von einem „Ende der sozialen Hängematte“ spricht. Oder sogar von „Anreizen, wieder eine Arbeit anzunehmen“. Das ist deswegen besonders zynisch, weil ein Viertel aller Arbeitslosen und Schulungsteilnehmer:innen über 50 Jahre alt ist.

Strafen statt Hilfe

Bei den Langzeitbeschäftigungslosen stellt die Altersgruppe 50+ sogar mehr als ein Drittel aller Betroffenen. Gerade für sie ist die Abschaffung der Notstandshilfe kein Anreiz, wieder eine Arbeit anzunehmen. Diese Gruppe ist am Arbeitsmarkt weitgehend chancenlos. Was sie brauchen, sind keine Anreize in Form einer Abschaffung von Sozialleistungen oder in Form von 1-Euro-Jobs oder härteren Zumutbarkeitsbedingungen. Sie brauchen echte Angebote. Wie beispielsweise eine Jobgarantie für Ältere.

Ende Juni will Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Kocher seinen Vorschlag zur Reform des Arbeitslosengeldes vorlegen. Er kann damit zeigen, ob er mehr Arbeits- oder mehr Wirtschaftsminister ist. Mit Spannung wird erwartet, ob der Vorschlag von Gabriel Felbermayr, die Notstandshilfe herauszulösen, tatsächlich aufgegriffen wird. Und wie weit die Forderungen von Arbeiterkammer und ÖGB in der Reform Berücksichtigung finden.

Arbeitsminister Martin Kocher
Arbeitsminister Martin Kocher. | © Michael Mazohl

Arbeitslosigkeit wird härter, Jobs aber nicht attraktiver

Kocher selbst hat im Vorfeld ein degressives Arbeitslosengeld ins Spiel gebracht. Also Geldleistungen, die mit der Zeit immer geringer werden. Die Wirtschaftskammer bekräftigt gerade diese Forderung, um „dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken“, wie sie es formuliert. Das ist für die Mitglieder der Wirtschaftskammer weit günstiger, als höhere Löhne zu bieten.

In Kombination mit einem degressiven Arbeitslosengeld könnte eine Abschaffung der Notstandshilfe den Druck auf alle Beschäftigten auf ein für Österreich neues Level heben. Und mehr noch: Breitere Armutsgefährdung wäre eine direkte Folge und vor allem – das Lohnniveau könnte dauerhaft sinken.

Über den/die Autor:in

Michael Mazohl

Michael Mazohl studierte Digitale Kunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Im ÖGB-Verlag entwickelte er Kampagnen für die Arbeiterkammer, den ÖGB, die Gewerkschaften und andere Institutionen. Zudem arbeitete er als Journalist und Pressefotograf. Drei Jahre zeichnete er als Chefredakteur für das Magazin „Arbeit&Wirtschaft“ verantwortlich und führte das Medium in seine digitale Zukunft. Gemeinsam mit der Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl erscheint ihr Buch „Klassenkampf von oben“ im November 2022 im ÖGB-Verlag.

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