Kinderarmut muss nicht sein + Podcast

Erich Fenninger von der Volkshilfe Österreich im Gespräch über Kinderarmut
© Markus Zahradnik

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  1. Seite 1 - Jedes fünfte Kind lebt in Armut
  2. Seite 2 - Das brauchen Familien
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Jedes fünfte Kind in Österreich ist armutsbetroffen und das in einem der reichsten Länder der Welt. Doch Kinderarmut abzuschaffen ist finanzierbar, plädiert Erich Fenninger, Bundesgeschäftsführer der Volkshilfe Österreich, im Interview.
Erich Fenninger, geb. 1963 in Bad Vöslau, seit 1985 in der Sozialarbeit tätig, zunächst für die Stadt Wien, später für die Volkshilfe Niederösterreich. Seit 2003 Bundesgeschäftsführer der Volkshilfe Österreich. Er ist verheiratet und Vater dreier Kinder.

Erich Fenninger im Kampf gegen Kinderarmut

Arbeit&Wirtschaft: Die steigende Inflation beschäftigt uns seit Monaten, dazu kommen massive Erhöhungen bei den Energiekosten. Die Regierung versucht hier nun mit einem 150-Euro-Gutschein für all jene, die unter der Höchstbeitragsgrundlage in der Sozialversicherung liegen, gegenzusteuern. Wie sinnvoll sind solche Maßnahmen, wenn es um die Bekämpfung von Armut geht?

Erich Fenninger: Grundsätzlich ist es positiv zu bewerten, dass die Regierung versteht, dass Menschen aufgrund der hohen Inflation und des dramatischen Anstiegs der Preise für Energie Probleme haben. Was absolut unverständlich bleibt, ist, dass man jedem Österreicher und jeder Österreicherin 150 Euro zur Verfügung stellt, denn nicht alle haben so wenig Einkommen, dass sie das nicht selbst stemmen könnten. Wir wissen, dass etwa 1,5 Millionen Menschen von Armut oder Armutsgefährdung betroffen sind. Es wäre doch ein viel sinnvollerer Weg, hier zielorientiert jene zu unterstützen, die damit ein Problem haben, denken wir an die Menschen mit wenig Einkommen, die mittlerweile jeden dritten Euro für Energie und Wohnen verwendet werden müssen. Ein normaler Durchschnittshaushalt verwendet 18 Prozent für das Wohnen und Energie.

Armut zählt zu den Kernthemen der Volkshilfe. Sie haben nun bereits die Wohn- und Energiekosten angesprochen. Wo drückt sonst noch der Schuh?

Armut hängt mit Reichtum zusammen. Der Armutsforscher Christoph Butterwegge sagt zum Beispiel, es sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Bertolt Brecht hat darauf hingewiesen, wenn du reich bist, bin ich arm. Armut bedeutet primär nichts anderes, als kein Geld zu haben. Und in einer kapitalistischen, kommerzialisierten Konsumgesellschaft ist das von besonders hoher Relevanz. Geld ist ein Tauschmittel, das wir verwenden, um die eigene Existenz und die eigenen Bedürfnisse befriedigen zu können. Armutsbetroffene Menschen haben einfach zu wenig Geld in Relation zu anderen oder sie haben absolut kein Geld, um ihre primären Bedürfnisse zu befriedigen. Und daraus entstehen viele andere Schäden: Krankheitssymptome entwickeln sich, die Familien und Personen stehen unter Stress, sie sind nicht mehr Teil der Gesellschaft, sie werden ausgegrenzt, sie isolieren sich oftmals selbst, sie haben meistens einen geringeren Bildungsweg als andere.

Armut ist kein Versagen

Menschen ziehen sich also auch selber immer mehr zurück. Was braucht es da gesellschaftlich, dass das Tabu Armut nicht mehr so stark ist?

Ich glaube, dass Tabu ein Thema ist, aber wahrscheinlich ist es noch viel wichtiger zu identifizieren, dass mit ärmeren Menschen Politik gemacht wird, dass man ihnen negative Eigenschaften unterlegt. Man tut so, als würde es sich um ein individuelles Versagen handeln. Man müsste aber zunächst prüfen, wie Armut entsteht. Und Armut hängt in Österreich und in anderen westlichen Staaten zusammen mit Erwerbstätigkeit. Es gibt viele, die von der Erwerbstätigkeit ausgeschlossen bleiben. Wir können wissenschaftlich nachweisen, dass das nicht auf individuelles Versagen zurückzuführen ist, sondern auf eine ökonomische Struktur. Zum Zweiten dürfen wir nicht unterschätzen, dass es zu einer Fragmentierung der Erwerbstätigkeit gekommen ist, dass wir für viele Tätigkeiten die Menschen nicht ausreichend bezahlen.

Wenn ich Ihnen zuhöre, entsteht der Eindruck, es braucht Umverteilung. Wie kann diese konkret ausschauen?

Wir brauchen eine Gesellschaft, wo wirklich jede:r von uns in der Lage ist, erwerbstätig zu sein, und auch das Recht hat auf Erwerbstätigkeit. Und zum Zweiten, dass er das Recht auf eine faire Entlohnung seiner Tätigkeit hat. Da ist viel in Österreich gelungen, aber gleichzeitig sehen wir, dass gerade die untersten Einkommensschichten, traditionell jene, die stärker manuell tätig sind oder in sozialen Bereichen, einfach unterbezahlt sind. Und vieles, was früher in Anstellungsverhältnissen passiert ist, wird heute in anderen freien oder selbstständigen Aktivitäten durchgeführt.

Die Gesellschaft hätte die Verantwortung, dass ein Ordnungsrahmen organisiert wird. Das passiert aber in einer neoliberalen Welt immer weniger, weil wir die letzten 30 Jahre beobachten müssen, dass der Finanzmarkt den Ordnungsrahmen für die Politik mehr gestaltet als die Politik den Ordnungsrahmen für das Kapital und für die Finanzwirtschaft. Und das wären die Dreh- und Angelpunkte. Global betrachtet wissen wir beispielsweise von Oxfam, dass acht Menschen so viel Vermögen haben wie 50 Prozent der Menschheit. Hier muss man entgegensteuern, national wie international.

Erich Fenninger von der Volkshilfe Österreich im Gespräch über Kinderarmut
© Markus Zahradnik

Besser Entlohnung: Laut sein für Kolleg:innen

Sie haben den Sozialbereich angesprochen, wo die Entlohnung traditionell sehr niedrig ist. Das ist auch ein Bereich, wo man, wenn man mit Arbeitgeber:innen spricht – auch die Volkshilfe ist hier ein Arbeitgeber –, zur Antwort bekommt: Wir würden gerne mehr zahlen, wir sind aber angewiesen auf öffentliche Gelder. Das bringt uns zum Steuersystem. Wie würde ein faireres Steuersystem aussehen?

Zunächst ist mir wichtig, über den Begriff Arbeitgeber:innen zu sprechen. Ich halte es für wichtig, dass wir uns in Erinnerung rufen, dass wir auch hier vom Wording her eine Verdrehung der Tatsachen tolerieren. Wir sind Menschen, die Arbeit geben, wir leisten Tätigkeit, ob das diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger:innen sind, Sozialarbeiter:innen, Menschen im Handel oder wo auch immer. Und die sogenannten Arbeitgeber:innen nehmen sich die Arbeit.

Ich halte es für legitim, Vermögen zu besteuern und
nicht die Tätigkeit der Menschen in den Vordergrund zu stellen.

Erich Fenninger, Volkshilfe Österreich

Das Zweite: Seitdem ich in Leitungsfunktion bin, kämpfe ich für bessere Entlohnung. Diese können wir nicht selbst finanzieren, weil Armutsbetroffene definitiv nicht in der Lage sind, Sozialarbeitsstunden zu finanzieren. Das heißt, natürlich muss es dann kollektiv finanziert werden. Ich glaube, dass wir trotz der Abhängigkeit von Fördergeldern auch den Mut haben müssen, dass wir im Sinne der Kolleg:innen laut sind.

Wie aber könnte nun ein gerechteres Steuersystem aussehen?

Das eine ist, dass wir sehen, dass das Vermögen an sich viel zu wenig besteuert wird. Menschen mit Kapital werden letztlich in Kombination mit den Prinzipien des Finanzmarktes ständig reicher. Wir können das auch empirisch messen. Zweitens geht es um eine bessere Versteuerung auch jener, die tätig sind und extreme Einkommen haben. Und man muss die Frage stellen, ob Rieseneinkommen zum Beispiel bei großen Konzernen wirklich noch rechtfertigbar sind. Ich halte es für legitim, Vermögen zu besteuern und nicht die Tätigkeit der Menschen in den Vordergrund zu stellen. Wenn wir auf den Mittelwert der OECD-Staaten kämen, hätten wir einige Milliarden mehr pro Jahr an Steuereinnahmen, die wir in Fairness investieren könnten.

„Jedes fünfte Kind in Österreich ist armutsbetroffen und das in einem der reichsten Länder der Welt“, betont Erich Fenninger. | © Markus Zahradnik


Kinderarmut: Jedes fünfte Kind in Österreich betroffen

Ein besonderes Anliegen ist Ihnen der Kampf gegen die Kinderarmut. Wie viele Kinder sind in Österreich von Armut betroffen und was bedeutet es für ein Kind, in Armut aufzuwachsen?

Jedes fünfte Kind in Österreich ist armutsbetroffen und das in einem der reichsten Länder der Welt. Im urbanen Raum ist es meist schon jedes dritte. Wenn wir es prozentuell betrachten, dann waren es vor zwei Jahren 18 Prozent, jetzt sind es 21 Prozent. Und vermutlich wird die Zahl im nächsten Jahr noch einmal ansteigen, aufgrund der Pandemie und der Folgeschäden. Auch hier ist es eigentlich unverzeihlich, dass man es im sozialen Österreich nicht schafft, Kinderarmut abzuschaffen. Das klingt vielleicht utopisch, ist es aber nicht.

Welche Einschränkungen erfährt ein Kind, das in Armut aufwächst?

Es sind massenhaft Einschränkungen. Zunächst, was offensichtlich ist, armutsbetroffene Kinder haben Eltern, die wenig Einkommen haben. Das Zweite ist, dass die Kinder in Wohnungen leben, die nicht schön sind, die vielleicht laut sind, dass die Wohnungen untertemperiert sind im Winter; sie sind überbelegt, sie haben hohe Energiekosten und hohe Mietpreise für eine absolut schlechte Qualität. Die Kinderzimmer sind meistens nicht gut ausgestattet, die Eltern haben keinen eigenen Raum für sich, sondern schlafen im Wohnzimmer.

Was bedeutet Kinderarmut für die Entwicklung eines Kindes? Wie organisieren sich Kleinstkinder einen Freundeskreis? Das organisieren sie sich noch nicht selbst, sondern die Eltern laden ein, andere Kinder kommen dazu, man feiert das Kind. Die armutsbetroffenen Kinder werden nicht gefeiert, weil der Wohnraum zu beengt ist, weil das Geld nicht vorhanden ist. Sie werden weniger gewürdigt, sie können nicht einem Sport nachgehen oder einer Kulturaktivität, von formalen Vereinen sind sie ausgeschlossen.

Dann kommen sie in die Schule, sie haben schlechtere Deutschkenntnisse und das nicht aus Migrationsgründen, auch eine schlechtere Visuomotorik, und ich sehe, dass sie massiv von Sorgen belastet sind. Alle Kinder sagen, sie haben Angst, sie haben Sorgen – Wohnungsverlust, Strom nicht zahlen zu können, am Ende des Monats ist zu wenig da zum Essen, die Kinder nennen das die „Toastbrotzeit“. Und wenn man sie fragt, was wünschst du dir, dann sagen sie Sorgenfreiheit.

In der Forschung würde ich sagen, eines der Schlüsselphänomene ist „Learning to live poor“. Die armutsbetroffenen Kinder sind nie interessengeleitet, weil sie wissen, dass die Eltern das nicht finanzieren können. Die sind pragmatisch und wollen eigentlich nur, dass die primären Bedürfnisse finanziert sind. Damit lernen sie, Kinderarmut zu akzeptieren. Sie gehen nicht in den Widerstand zu ihren Eltern, sie sind im Gegenteil hochkooperativ, sie schränken sich selbst ein, damit der Fortbestand der gesamten Familie irgendwie ermöglicht wird.

Einkommensabhängige Förderung

Sie haben daher das Modell einer Kindergrundsicherung entwickelt. Wie schaut das konkret aus?

Die Grundidee ist, dass wir im Sinn der Kinderrechte sagen: Okay, jedes Kind, das in Österreich lebt, sollte einfach einmal den gleichen Betrag bekommen, weil wir sie lieben, weil wir sie wertschätzen. Und dann sehen wir eine Differenz zwischen den Kindern, deren Eltern ausreichend Einkommen haben, und den anderen, die die Bedürfnisse der Kinder nicht befriedigen können. Warum sollte man also nicht eine einkommensabhängige Tangente dazu entwickeln, bei der die Kinder von armutsbetroffenen Eltern mehr bekommen, sodass ihre Bedürfnisse wirklich gedeckt werden.

Erich Fenninger plädiert für eine Kindergrundsicherung. | © Markus Zahradnik

Dieses Geld soll dann direkt an die Familien gehen? Muss man das beantragen?

Diese Idee einer Kindergrundsicherung sollte auf eine halbe Seite Papier kommen, jeder würde sich auskennen. Für jedes Kind gleich viel, rund 200 Euro, und darüber hinaus eine einkommensbezogene Tangente für Kinder in Haushalten, wo es nur 35.000 bzw. 20.000 Euro Jahreseinkommen gibt. Das wäre sehr simpel, das könnte die Republik aufgrund der Verknüpfung mit der Erwerbstätigkeit der Eltern direkt überweisen, und natürlich kommt das Geld bei den Familien an. Interessanterweise machen wir uns immer Sorgen, ob das bei den Armutsbetroffenen ankommt, aber wenn Familienbeihilfe oder der Familienbonus ausbezahlt wird, fragt kein Mensch, ob das in der Familie als Organ ankommt oder für die Kinder verwendet wird. Die Armutsbetroffenen, das kann ich empirisch wie aus der Praxis sagen, die sparen sich ihr Geld vom Mund ab und investieren es ins Kind.

Kinderarmut abschaffen ist finanzierbar

Welcher Betrag müsste einem Kind pro Monat zur Verfügung stehen, damit es nicht von der Kinderarmut ist?

Wir gehen davon aus, dass die Teilhabe eines Kindes in Österreich pro Monat 625 Euro kostet. Warum uns das vielleicht hoch erscheint: Es gibt schon jetzt Familientransferleistungen, und wir müssen nicht alles von unserer Erwerbstätigkeit finanzieren. Wir haben durchgerechnet, dass, wenn wir die Kindergrundsicherung einführen und das so staffeln, 200 Euro für alle und für die ganz Armen eben maximal 425 Euro dazu, das finanzierbar ist. Wenn ich jetzt nur die einkommensbezogene Tangente herausrechne, würde das die Republik in etwa 600 bis 700 Millionen Euro kosten.

Warum halten Sie diesen Ansatz für fairer als den Familienbonus, der nun von der Regierung erhöht wurde?

Es ist ein Steuerbonus, der nach der Familie benannt ist. Es ist also eine steuerliche Entlastung für Menschen, die mehr Steuern zahlen, und keine Hilfe für Menschen, die wenig Steuern zahlen. Aus diesem Grund gibt es ja auch rund ein Drittel der Arbeitnehmer:innen, die de facto nichts von diesem Familienbonus haben. Wir würden es gerne umdrehen, dass man allen Kindern die Anerkennung gewährt mit einem Fixbetrag und dann eine einkommensbezogene Tangente für die Kinder einzieht, die arme Eltern haben. Das wäre relativ simpel und würde auch eine Treffsicherheit mit sich bringen, damit die armutsbetroffenen Kinder von heute nicht die armutsbetroffenen Erwachsenen von morgen werden.

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Über den/die Autor:in

Alexia Weiss

Alexia Weiss, geboren 1971 in Wien, Journalistin und Autorin. Germanistikstudium und Journalismusausbildung an der Universität Wien. Seit 1993 journalistisch tätig, u.a. als Redakteurin der Austria Presse Agentur. Ab 2007 freie Journalistin. Aktuell schreibt sie für das jüdische Magazin WINA sowie für gewerkschaftliche Medien wie die KOMPETENZ der GPA-djp oder die Gesunde Arbeit. 2022 erschien ihr bisher letztes Buch "Zerschlagt das Schulsystem ... und baut es neu!" (Verlag Kremayr & Scheriau).

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