Warum Armut Politikversagen ist

Kind schaut aus einem Fenster auf eine graue Stadt. Symbolbild für Kinderarmut.
Kinderarmut ist in Österreich nach wie vor ein Problem. Schuld daran ist die Politik. | © Adobe Stock/Synthex
Mit einem Sparprogramm an falscher Stelle züchtet sich Österreichs Regierung die Armut im Land selbst heran. Es bleibt festzuhalten: Armut ist Politikversagen. Ein Kommentar von Barbara Blaha.

Österreich hat einen Zugang, wenn es um Armut geht: nicht darüber reden. Österreich ist eine Klassengesellschaft, die so tut, als wäre sie keine. Die Zahlen sind aber deutlich: Das reichste Prozent hockt auf mehr als der Hälfte des gesamten Privatvermögens – also mehr, als die ärmeren 99 Prozent der Bevölkerung zusammen haben. Die kleinsten Einkommen haben heute eine geringere Kaufkraft als vor 20 Jahren. In einem der reichsten Länder der Welt gelingt es uns nicht, Kinderarmut abzuschaffen. Wir reden von Kindern, die fast nie auf Urlaub fahren. Sie leben in Wohnungen, die nicht ausreichend geheizt werden. Sie kennen Toastbrot- und Reistage, weil für mehr reicht es am Ende des Monats nicht mehr. Für Menschen, denen die Herzensbildung fehlt und bei denen es unmöglich erscheint, ihnen ein „Das darf nicht sein in einem so reichen Land“ zu entlocken, selbst für diese Leute gibt es schlagende Argumente. Armut in Österreich ist Politikversagen.

Das „Investment“ Kindergarten

Je früher man den Hebel ansetzt, desto besser wirkt er. Wer in eine arme Familie hineingeboren wird, profitiert mehr als alle anderen von den Bildungseinrichtungen am Beginn des Lebens. Was die Familie selbst nicht schafft, kann der Kindergarten teilweise auffangen – aber nur, wenn man ihn ausreichend finanziert. In der Sprache der Wirtschaft: Der ROI, der Return of Investment, ist beim Kindergarten am höchsten. Wenn wir für mehr Kindergärten, für längere Öffnungszeiten und bessere Betreuung sorgen, geht es auch den Eltern besser. Arbeitet eine Frau weniger – weil meist sie und selten er die Kinder betreuen muss –, verdient sie weniger, hat weniger Aufstiegschancen und am Ende eine mickrige Pension.

Wer keine Kindergärten baut, schadet also armen Familien mehrfach und generationenübergreifend. Diesen Familien ist es egal, ob es aus egoistischen Motiven passiert, wie bei Sebastian Kurz. Für sie greift diese Politik direkt in ihr Leben ein: Österreich verpasst jedes Jahr das EU-Ziel zur Betreuung von Kleinkindern. Das Ergebnis: Jede dritte hiesige Teilzeitanstellung wird durch Betreuungspflichten ausgelöst. In Dänemark, mit hoher Kindergartendichte, ist es gerade einmal jede fünfzigste. Wer einen qualitativ hochwertigen Kindergarten im Ort hat, ist mehr Stunden im Beruf. Wer mehr verdient, zahlt mehr Steuern und kann sich mehr leisten. Das freut auch die Wirtschaft.

Reiche Menschen leben länger

Wer besser ausgebildet ist, verdient besser, wird weniger krank und lebt um bis zu zehn Jahre länger. In Wohnungen mit schwerem Schimmelbefall bleibt nur, wer sich nichts anderes leisten kann. Die Bioprodukte aus dem Supermarkt sind für manche unerschwinglich, Geräte und Gebühren für den Sport sowieso. Und da reden wir nur von der körperlichen Gesundheit – hinzu kommen die psychischen Belastungen. Arbeitslosigkeit ist ein Stressor, der auch auf das Immunsystem drückt. Wer arm aufwächst, ist kränker und fühlt sich auch kränker. In einer aktuellen Umfrage sagt die Hälfte der Ärzt:innen, dass Kinder aus armutsgefährdeten Familien häufiger zu ihnen kommen als andere. Eine deutliche Mehrheit sagt, dass sich armutsgefährdete Kinder weniger gesund und leistungsfähig fühlen.

Fragt man Ärzt:innen, ob Kinder aus armutsgefährdeten Familien häufiger an chronischen Krankheiten leiden, antworten sechs von zehn eindeutig mit Ja. Was wir in die Bildung stecken, erhalten wir vielfach zurück. Gute Bildung macht gesünder, schützt vor Arbeitslosigkeit und spart somit Sozialausgaben. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht bekommt die Gesellschaft jeden Euro, den sie in die Kindergärten investiert, achtmal zurück. Das ist ein Top-Investment und deutlich besser als jenes in Universitäten. Für jeden Euro, den wir in Studierende stecken, kommen laut OECD nur zwei zurück. Gute Kindergärten, exzellente Pädagog:innen und ein toller Betreuungsschlüssel: Das sind die Werkzeuge, um den Armutskreislauf zu durchbrechen. Wo steht Österreich hier? Salopp gesagt: ganz hinten.

Der marode Zustand der Kinderbetreuung

Die Ausgaben für Kinderbetreuung haben sich seit 1980 zwar verdoppelt, in anderen Ländern sind sie aber wesentlich stärker gestiegen. Deutschland hat das Budget um das 4fache gesteigert, Frankreich um das Fünffache und Italien und Belgien um das Siebenfache. Wir geben 0,7 Prozent der Wirtschaftsleistung für Kinderbetreuung aus und liegen damit weit unter dem OECD-Durchschnitt von knapp 1 Prozent.

Inforgrafik zu Infografik zur Theorie Armut ist Politikversagen: Ausgaben für Kinderbetreuung in Prozent vom BIP in Österreich.

Diese Knausrigkeit schaut in der Realität so aus: fehlende Betreuungsplätze, zu kurze Öffnungszeiten und ein beschämend schlechter Betreuungsschlüssel. In Finnland betreut eine Fachkraft im Kindergarten sieben Kinder, in Dänemark betreut sie zehn. Und in Österreich? Eine Person umsorgt im Schnitt 24 Kinder. Daten des europäischen statistischen Amts zeigen: EU-weit stieg in den vergangenen zehn Jahren die Ganztagsbetreuungsquote für 3- bis 5-Jährige um bis zu 38 Prozentpunkte. In Österreich waren es nur drei Prozentpunkte.

Bildung wird in Österreich vererbt

Was wir im Kindergarten verbocken, das machen wir in der Schule nicht wieder gut. Fast nirgends wird Bildung so stark vererbt wie bei uns. Wir zementieren den sozialen Status fest ein. Kinder aus armen Familien verdienen später kaum mehr als ihre Eltern. Um sich aus der untersten Einkommensgruppe in die Mitte vorzukämpfen, braucht es in Dänemark zwei Generationen, in Österreich fünf Generationen – oder anders gesagt: 125 Jahre. Dabei wollen alle das Beste für ihr Kind. Für die einen bedeutet das Babyschwimmen und musikalische Früherziehung; die anderen hängen nach der Schicht noch ein paar Stunden dran, arbeiten an Wochenenden und in der Nacht. Warum? Die Zulage ist wichtig, denn die Kinder brauchen Winterschuhe – und die sind jetzt dringender als die Hilfe bei der Hausübung.

Wie kann es sein, dass Kinderarmut in einem reichen Land wie Österreich bewusst in Kauf genommen wird? Das ist kein Versehen, sondern Absicht.

Barbara Blaha

Unser Schulsystem ist so gebaut, dass alle bleiben, wo sie sind. Mit zehn Jahren entscheidet sich, wer es später an die Uni schafft und wer nicht. Armut in reichen Gesellschaften ist aber kein Hoppala. Das ist die Konsequenz einer Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, die Kinderarmut nicht bekämpfen will. Wirksame Armutsbekämpfung ist institutionell, nicht individuell. Der „gute Tipp“ des Bundeskanzlers, günstig beim „Mäci“ Burger zu essen, holt niemanden aus der Armut.

Armut ist Politikversagen

Die Hebel, um Kinder und ihre Familien aus der Armut zu holen, sind alle da. Wir drücken diese Hebel nur nicht, und die Regierung hat das auch nicht vor. Vor drei Jahren hat die Europäische Kommission die „Europäische Garantie für Kinder“ erarbeitet. Bis 2030 sollen alle EU-Staaten Kindern kostenlosen Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung garantieren sowie eine gesunde Ernährung und einen angemessenen Wohnraum sicherstellen. Zur Umsetzung erarbeiten alle EU-Staaten nationale Aktionspläne gegen Kinderarmut – alle, nur Österreich nicht. In drei Jahren ist nichts passiert, nicht einmal ein Plan wurde vorgelegt. Aber wie kann es sein, dass Kinderarmut in einem reichen Land wie Österreich bewusst in Kauf genommen wird? Das ist kein Versehen, sondern Absicht. Kinderarmut geht Hand in Hand mit Armut. Arme Kinder haben immer auch arme Eltern. Eine Gesellschaft, die sich darin gefällt, alles einem vermeintlichen Leistungsprinzip unterzuordnen, die Individualismus und Wettbewerbsfähigkeit als Tugenden vor sich herträgt, schiebt Armen die alleinige Verantwortung für ihre Lage zu – wer sich auf dem Markt nicht durchgesetzt hat, ist eben selber schuld. Mehr noch, Vollbeschäftigung und Abschaffung von Armut werden als Gefahr für den Wirtschaftsstandort angesehen – weil dann könnten die ja noch Forderungen stellen!

Infografik zur Theorie Armut ist Politikversagen: So lange dauert es, sich aus der untersten Einkommensgruppe in die Mittelklasse vorzukämpfen.

Mit anderen Worten: Neoliberale sehen in Armut ein Disziplinierungsinstrument. Weil unsere Sozialsysteme nicht armutsfest sind, reicht die Angst vor Armut bis weit in die Mittelschicht. Und diese Disziplinierung durch Abstiegs- und Armutsangst funktioniert. Stellen wir uns vor, Menschen müssten bei schlechten Arbeitsbedingungen oder miesem Gehalt keine Angst vor Armut haben und könnten einfach sagen: Nein, danke, unter diesen Bedingungen arbeite ich nicht. Deshalb dürfen wir, wenn wir Kinderarmut bekämpfen wollen, nicht über Armut und ihre Funktion im Kapitalismus schweigen. Wenn wir dafür sorgen wollen, dass es keine armen Kinder mehr gibt, dann müssen wir die Armut als Ganzes besiegen. Die Mittel dazu hätten wir längst.

Über den/die Autor:in

Barbara Blaha

1983 in Wien geboren, Leiterin des Momentum Instituts, Herausgeberin des
„Moment Magazins“ und Gründerin des Politkongresses Momentum; Unirätin
und ehemalige ÖH-Vorsitzende; Kind einer Arbeiterfamilie.

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