Interview Albert Maringer
Arbeit&Wirtschaft: Seit 2020 gibt es statt 21 nur mehr fünf Kassen. Die neun Gebietskrankenkassen wurden zur Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) zusammengelegt. Sie ist die Versicherung der unselbstständig Beschäftigten. Dennoch wurde die Entscheidungsmacht hin zu den Unternehmer:innen verlagert. Wie hat sich das bisher ausgewirkt?
Albert Maringer: Ich möchte vorausschicken, dass schon die Gebietskrankenkassen im internationalen Vergleich große Träger waren. Die ÖGK ist nun wirklich ein Riesenmoloch geworden, der sehr komplex ist, was sehr viel an Steuerung bedarf. Und gleichzeitig kam es eben zu einer Machtverschiebung in Richtung Dienstgeber:innen. Diese sind selbst nicht in der ÖGK versichert und haben hier andere Interessen.
Worin manifestieren sich diese unterschiedlichen Interessen?
Gebietskrankenkassen und nun die ÖGK müssen für ihre Versicherten Gesundheitsleistungen zur Verfügung stellen, aber auch Beitragszahlungen prüfen. Löhne müssen überprüft werden, damit dann die korrekten Beiträge zum Beispiel zur Pensionsversicherung oder ans AMS gehen. Auch wir als ÖGK bekommen so die Beiträge, mit denen das Gesundheitssystem finanziert wird. Dienstgeber:innen verfolgen hier naturgemäß andere Interessen. Sie haben andere Vorstellungen davon, wie eine zweckmäßige Gesundheitsversorgung für die Versicherten aussehen soll.
Sie sprechen hier – Stichwort Überprüfung der Löhne – einen Interessenkonflikt an. Welche Probleme ergeben sich daraus konkret?
Früher waren die Sozialversicherungen in der Bekämpfung von Schwarzbeschäftigung oder Unterentlohnung eine führende Kraft. Die Gebietskrankenkassen haben vor allem im Baubereich eine zentrale Rolle eingenommen. Nun hat man den Bock zum Gärtner gemacht. Man darf aber auch die Gesundheitsversorgung nicht außer Acht lassen. Die Wirtschaftskammer ist neben Ärzt:innen und den Spitälern der Länder einer der größten Vertragspartner der Sozialversicherung. Ob es Radiologie-Institute sind oder Bandagist:innen, von denen Leistungen angekauft werden: Die Wirtschaftskammer vertritt deren Interessen, ebenso wie jene der Pharmaindustrie.
Geht es dabei um die Frage, welche Leistungen von der Kasse finanziert werden und welche nicht und wie hoch Leistungen bewertet werden?
Vor allem geht es darum, dass nicht jedes neue Medikament einen Sinn für die Versicherten hat. Vor allem bei hochpreisigen Medikamenten muss man sich immer anschauen, ob es hält, was es verspricht – und wenn es das tut, dass es einen fairen Preis hat. Da haben wir uns in der Vergangenheit immer für die Versicherten starkgemacht, und da hat es durchaus auch immer wieder harte Verhandlungen mit der Pharmawirtschaft gegeben. Die sind zurzeit ausständig. Wir müssen nicht nur darauf schauen, dass wir Leistungen für die Versicherten zur Verfügung stellen, sondern das auch zu einem guten Preis. Das ist der Unterschied zu jeder privaten Versicherung. Wenn wir Überschüsse erwirtschaften, zahlen wir diese nicht an Aktionär:innen aus, sondern bilden entweder Rücklagen für schlechte Zeiten oder führen neue Leistungen ein und schließen Leistungslücken.
Stichwort Leistungen für die Versicherten. Die türkis-blaue Regierung hat 2018 in Aussicht gestellt, dass durch die Kassenfusionen bis 2023 eine Milliarde Euro eingespart werden kann. Die sogenannte „Patient:innen-Milliarde“ sollte eben den Versicherten zugutekommen. Wie sieht Anfang 2024 die Realität aus?
Wenn wir über die Verwaltung und mögliche Einsparungen reden, müssen wir einmal festhalten: Was ist die Aufgabe einer Sozialversicherung? Wir begleiten den Versicherten, bevor er noch überhaupt auf der Welt ist. Und zwar ab dem Zeitpunkt, wo eine Schwangerschaft festgestellt wird, und kümmern uns um ihn von seiner Kindheit bis zum Erwerbsleben. Indem wir dafür sorgen, dass seine Ansprüche in der Pensionsversicherung dokumentiert werden. Daher bin ich immer vorsichtig zu sagen, dass in der Verwaltung eingespart werden muss. Das ist das eine. Das andere: Es gibt das Bild, dass man wie in einen Baumarkt hineingeht und mit einer neuen Leistung herausgeht. Die meisten Leistungen muss man aber erst mit Partnern entwickeln. Wir zahlen also nicht nur die Behandlungen. Zuerst geht es einmal darum, eine Versorgungsstruktur für die Versicherten aufzubauen und am Laufen zu halten. Beispiel Primärversorgungsgesetz. Es hat Jahre gebracht, bis das gegen den Widerstand der Ärzt:innen und auch der Spitäler und Länder durchgebracht wurde. Für so etwas braucht es viel Überzeugungsarbeit. Die Patient:innen-Milliarde war jedenfalls ein Marketinggag von Türkis-Blau. Und das war den Handelnden auch klar. Das hat auch der Rechnungshof schon im Vorfeld dargelegt.
Ist es durch die Kassenfusionen zu Einsparungen gekommen?
Es ist garantiert nicht zu Einsparungen gekommen. Aber die Frage ist ja nicht, ob weniger Geld ausgegeben wird, sondern: Kommen die Versicherten zu ihren Leistungen? Da erzählen mir dann die Expert:innen in der Sozialversicherung, was nicht alles eingeführt wurde. Und dann kommt der Elchtest: Ein Versicherter, der einen Arzt sucht, findet keinen; eine Versicherte, die eine Hüftoperation braucht, bekommt diese nicht. Da klafft etwas auseinander. Wir haben gute Spitäler, gute Ärzt:innen und bieten im niedergelassenen Bereich tolle Leistungen an, nur kommen die Versicherten dann auch zu den Leistungen? Das würde ich durchaus hinterfragen.
Hier scheint die Schere zwischen der Verfügbarkeit von Behandlungen auf E-Card und bei Wahlärzt:innen immer mehr aufzugehen. Wie nehmen Sie das wahr?
Zu mir als Betriebsrat der voestalpine kommen immer wieder Mitarbeiter:innen und bitten um Unterstützung. Und dann höre ich, dass ein Verwandter eine neue Hüfte bräuchte, aber keinen raschen Operationstermin bekommt. Da geht es dann auch um den Bezug von Krankengeld und einen drohenden Jobverlust. Oder da gibt es einen Vater, dessen Tochter eine Mandel-Operation benötigt. Diese wird aber erst Monate später in Aussicht gestellt. Das Mädchen hat wegen wiederkehrenden Anginen aber schon viel in der Schule gefehlt und hat die Klasse nur mit Ach und Krach geschafft. Wenn sie nicht bald die OP bekommt, droht der Verlust eines Schuljahres. Ein anderer Vater erzählt, sein Säugling bräuchte eine Ohren-OP. Da geht es um den Gleichgewichtssinn, das Hören, die Sprachentwicklung, die motorische Entwicklung.
Gesundheitspolitiker:innen sagen, dass alle, die eine lebensrettende Operation benötigen, diese sofort bekommen. Aber wenn es dann heißt, die Hüftoperation sei aus medizinischer Sicht nicht sofort nötig, und es entsteht gleichzeitig großer Schaden, dann sehe ich, dass hier die Fürsprecher:innen für die Versicherten fehlen. Früher in der Selbstverwaltung der Versicherungen gab es diese Fürsprecher:innen. Die Versichertengemeinschaft hat darauf geachtet, dass ihre Leute Leistungen zeitnah erhalten und Versorgungslücken schnell geschlossen werden.
Massive Kritik kam hier auch schon vom Rechnungshof. Er bemängelte die Nicht-Einheitlichkeit von Leistungen sowie das Fehlen eines Kontrollgremiums und ortete statt Einsparungen gestiegene Kosten. Wo liegen die größten Schwachpunkte dieses Umbauprojekts?
Meine These ist: Ich glaube, dass Corona den neuen Kassen geholfen hat. Sie mussten in dieser Zeit nicht den Elchtest antreten, weil viele Menschen erst gar nicht zum Arzt gegangen sind. Dass es da medizinische Notfälle gab, für die niemand da war, haben wir erst später bemerkt. Die ÖGK hat sich in dieser Zeit fehlentwickelt, und das muss man jetzt wieder in richtige Bahnen lenken. Österreich ist ein föderales Land, gerade im Gesundheitsbereich. Die Bundesländer sind für die Spitäler verantwortlich. Das Rettungswesen ist dezentral, die Ärztekammer ist dezentral. Alle unsere Vertragspartner sind dezentral aufgestellt. Nur die ÖGK kann nicht dezentral agieren. Das funktioniert nicht.
Man kann einer Sozialversicherung
kein Schild ‚Wegen Umbau geschlossen‘
umhängen. Menschen brauchen eine
Gesundheitsversorgung im Jetzt.
Albert Maringer
Es wurde also ein System geschaffen, das mit allen anderen großen Playern im Gesundheitsbereich nicht kompatibel ist.
Genau.
Die Coronakrise hat also zunächst verschleiert, was bei der Kassenfusion schieflief. Wird nun so weitergewurschtelt?
Man kann einer Sozialversicherung kein Schild „Wegen Umbau geschlossen“ umhängen. Die Menschen interessiert es nicht, was sie in Zukunft bekommen werden, sondern wie ihnen in der Gegenwart geholfen wird. Sie brauchen eine Gesundheitsversorgung im Jetzt. Derzeit wird ein Bild gezeichnet, dass Spitäler und Ambulanzen überrannt werden. Und ja, wir haben einen Nachholbedarf bei der Besetzung von Stellen für niedergelassene Ärzt:innen. Was wir nun nach der Pandemie über das E-Card-System sehen: Allgemeinmediziner:innen machen mehr Behandlungen als vor Corona. Aber in den Ambulanzen und Spitälern sind wir nicht auf dem Leistungsniveau von vor der Pandemie.
Hat das mit der Personalknappheit zu tun?
Ja, aber nicht nur. Wir brauchen in den nächsten Jahren sicher mehr Mediziner:innen, in den nächsten Jahren werden viele Ärzt:innen in Pension gehen. Darum finde ich es auch aberwitzig, dass man seit bald 20 Jahren durch Aufnahmetests Menschen vom Studium ausschließt, man sollte das wieder öffnen. Eine andere Erzählung ist, dass es am Geld scheitert, Ärzt:innen zu halten. Das glaube ich nicht. In Oberösterreich verdienen Allgemeinermediziner:innen ungefähr das, was ein Landesrat bekommt, viele Fachärzt:innen kommen auf das Gehalt eines Landeshauptmannes. Da kann man nicht sagen, dass das schlecht bezahlte Jobs sind.
Wo wir einen Mangel haben, ist beim Pflegepersonal. Da müssen wir mehr Personen ausbilden und auch darüber diskutieren, was diese Menschen verdienen. Gleichzeitig hilft uns die Akademisierung der Gesundheitsberufe nicht, wenn man nicht gleichzeitig das Dienstrecht der Ärzt:innen angeht. Da erzählen einem Pflegekräfte, was sie alles machen könnten, aber nicht machen, weil die Mediziner:innen darauf achten, ihre Kompetenzen zu bewahren. Ich verstehe die Interessensvertretung – die Ärztekammer ist für ihre Ärzte und Ärztinnen eine tolle Interessensvertretung. Aber zur gleichen Zeit hätte sie auch die Aufgabe, das Gesundheitssystem weiterzuentwickeln. Viele Ärzt:innen hätten nichts dagegen, weniger Hausbesuche machen zu müssen, weil da auch die Diplompflege versorgen könnte. Es wäre auch an der Zeit zu sagen, ich vertraue den Gesundheitsberufen in meinen Ambulanzen, das entlastet die Ärzt:innen. Oder ein anderes Beispiel: Für die Brillenbestimmung braucht es meist keinen Augenarzt, das macht der Optiker oft profunder. Lieber Augenarzt, kümmere dich um das, wofür es wirklich einen Facharzt braucht.
Wo müsste man im Sinne der Versicherten noch auf einen besseren Kurs kommen?
Wir brauchen mehr vom europäischen Gedanken. Der österreichische Markt ist für die Pharmaindustrie nicht uninteressant, aber auch nicht der große Player. Wir müssten auf europäischer Ebene darüber diskutieren, wie wir Medikamentensicherheit garantieren und gleichzeitig europaweit einen ordentlichen Preis erzielen können. In Österreich wäre es wiederum an der Zeit, Qualitätsstandards zu definieren, wie ein Mensch in Österreich versorgt werden soll. Und die Umsetzung muss dann dezentral erfolgen, es muss wieder mehr Kompetenzen hinunter in die Regionen geben. Andererseits ist Kooperation das Gebot der Stunde, da braucht es mehr Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Sozialversicherungen. Und da geht es eben nicht darum, um Kompetenzen zu streiten, sondern gemeinsam auch bei übergreifenden Themen für die Versicherten das Beste herauszuholen.
Ein Beispiel ist hier die Einführung der Kinder-Reha. Jahrelang hat man sich hier gestritten: Kommt ein Kind mit besonderen Bedürfnissen zur Welt, ist das Land zuständig. Entstehen Beeinträchtigungen später durch Krankheit, ist die Sozialversicherung zuständig. Und dann wurde in jedem Fall darüber verhandelt, wer zuständig ist, mit der Folge, dass Betroffene nicht zu ihren Leistungen kamen. Nun hat man endlich die Kompetenzen-Frage beiseitegeschoben und sich auf eine Regelung geeinigt, bei der das Land, der Bund und die Sozialversicherung mit einem prozentualen Finanzierungsschlüssel die Kosten und gemeinsam die Verantwortung für diese Kinder übernehmen.
2024 finden Arbeiterkammer-Wahlen statt. Das Wahlergebnis hat auch Einfluss darauf, wer in Gremien der ÖGK, etwa die Landesstellen-Ausschüsse, entsandt wird. Warum ist diese Form der Mitbestimmung so wichtig?
Das Arbeitnehmer:innen-Parlament hat die Möglichkeit, Institutionen wie das AMS, die Pensionsversicherung, die Unfallversicherung und eben auch die ÖGK mit Vertreter:innen zu beschicken. Im Fall der AK-Wahl wird es darum gehen, dass wieder ein starkes Zeichen in Richtung Arbeitnehmer:innen gesetzt wird. Da macht es dann eben einen Unterschied, welcher Fraktion man seine Stimme gibt.