Heinz Fischer im Interview: Die Demokratie verteidigen

Heinz Fischer sitzt beim Interview über Demokratie in Österreich und hebt den Zeigefinger.
„Heute gibt es nur ganz wenige Länder in Europa mit einer Verfassung, die so alt wie die österreichische ist und die eine so bemerkenswerte Stabilität aufweist." | © Markus Zahradnik

Inhalt

  1. Seite 1 - Demokratie in Österreich
  2. Seite 2 - Demokratie als Sisyphusaufgabe
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Unsere Demokratie, meint Altbundespräsident Heinz Fischer, ist robust und hält viel aus. Aber sie braucht dauerhafte Pflege, Zuwendung und Bejahung. Demokratie als etwas Selbstverständliches zu betrachten, ist problematisch und sogar gefährlich.
Chats haben zuletzt den Glauben in die Stärken der Demokratie in Österreich erschüttert. Wer sie liest kann zu dem Eindruck kommen, dass Politiker:innen und Medienschaffende, vermeintliche Expert:innen und öffentliche Personen sich nicht an Fakten oder dem Willen des Volkes orientieren. Sondern an ihren eigenen Interessen. „So sind wir nicht“, sagte Alexander Van der Bellen, der amtierende Bundespräsident. Ob er damit Recht hat, ist längst nicht klar. Sein Amtsvorgänger hat ebenfalls sehr dynamische Zeiten erlebt. Im großen Interview schildert Heinz Fischer seine Eindrücke zum Zustand der Demokratie in Österreich in Zeiten, in denen die Inflation Wohlstand und Sozialstaat gefährdet.

Zur Person
Heinz Fischer, Jahrgang 1938. Der gebürtige Grazer studierte Rechtswissenschaften in Wien und wurde 1961 zum Doktor jur. promoviert. Ab dem Jahr 1962 wirkte er bei der SPÖ. 1975 wurde er deren geschäfts- führender Klubobmann. Von 1983 bis 1987 diente er als Wissenschafts- minister unter Fred Sinowatz (bis 1986) und Franz Vranitzky (bis 1987). Von 2004 bis 2016 war er Bundespräsident.
Arbeit&Wirtschaft: Mein persönlicher, jährlich wiederkehrender Bezug zur Republik und zur Demokratie ist der Geburtstag meiner Tochter am 12. November, also dem Tag der Ausrufung der Ersten Republik. Welchen persönlichen Bezug haben Sie? Was verbinden Sie persönlich mit der Demokratie als Staatsform?

Heinz Fischer: Meine ganz persönliche Erinnerung ist das Ende des Albtraums von Krieg und Diktatur im April 1945. Der Übergang von der Nazidiktatur zur Wiederherstellung der österreichischen Demokratie war Erleichterung und Freude für meine Eltern und die ganze Familie. Auch wenn ich noch ein Kind war. Wenn ich es grundsätzlich betrachte, bedeutet Demokratie für mich, dass ich in einer Gesellschaft lebe, in der die Menschenrechte zum fixen Bestandteil der Verfassung gehören, in der die Bürger:innen die Möglichkeit zur Mitbestimmung haben, in der ein Pluralismus der Meinungen und der Auffassungen sowie der Interessen möglich und garantiert ist und in der der Rechtstaat funktioniert.

Sie sagen immer, dass man auch der Entstehungsgeschichte der österreichischen Verfassung Bedeutung zumessen muss. Was macht die österreichische Verfassung zu etwas Besonderem?

Der Entstehungsprozess unserer Verfassung war etwas ganz Außergewöhnliches. Im Februar 1919, drei Monate nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, wurde eine konstituierende Nationalversammlung mit dem Auftrag gewählt, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Der Verfassungsausschuss unter dem Obmann Otto Bauer einigte sich im Sommer 1920 nach sehr schwierigen und intensiven Verhandlungen auf den Entwurf eines Verfassungsgesetzes, das am 1. Oktober 1920 beschlossen wurde. Es war eine moderne Verfassung, eine Pionierarbeit.

Mit kleinen Schönheitsfehlern, etwa bei der Kompetenzverteilung, aber auch mit wirklichen Errungenschaften, wie zum Beispiel dem Verfassungsgerichtshof, den Kelsen (Anm.: Hans Kelsen, Verfassungsrechtler und einer der „Väter“ der österreichischen Verfassung) entwickelt hat. Heute gibt es nur ganz wenige Länder in Europa mit einer Verfassung, die so alt wie die österreichische ist und die eine so bemerkenswerte Stabilität aufweist. Das ist wichtig, weil dadurch mehr Rechtssicherheit vorhanden ist und es eine umfassendere Judikatur des Verfassungsgerichtshofs gibt. Daher bin ich ein großer Anhänger der österreichischen Verfassung.

Der Glaube, dass sich die Demokratie von selbst entwickelt, dass sie unzerstörbar ist, das ist ein Irrtum.

Heinz Fischer, Altbundespräsident der Republik Österreich

Wie ist es um die Demokratie in unserem Land bestellt?

Faktum ist, dass die moderne Demokratie eine relativ junge Errungenschaft ist, ein Produkt der Aufklärung. In Österreich war ein erster Anstoß für den Übergang vom Absolutismus zu partiellen demokratischen Bestandteilen die Revolution des Jahres 1848. Der Durchbruch zur Demokratie einschließlich Frauenwahlrecht war die Gründung der demokratischen Republik am 12. November 1918. In den nunmehr 104 Jahren seither hat es entscheidende Aufwärts- und Abwärtsbewegungen gegeben. Denn die Existenz der Demokratie ist nicht nur von einem Geburtsakt abhängig, sondern auch davon, dass die wichtigsten Bestandteile der Demokratie lebendig bleiben, Praxis bleiben, angewandt werden und auch gewollt werden. Das war in der Ersten Republik nicht in ausreichendem Ausmaß der Fall. In der Zweiten Republik hatten wir über eine unglaublich lange Zeit gute demokratische Verhältnisse. Momentan gibt es aber Probleme und Problemzonen, die einen verstärkten Einsatz und einen verstärkten Willen zur Demokratie erfordern, damit es nicht zu ernsthaften Rückschlägen kommt.

Österreich ist eine repräsentative Demokratie. Was bedeutet es für das Land und seine Staatsform, wenn sich viele Menschen nicht mehr von den gewählten Repräsentant:innen vertreten fühlen und die Wahlbeteiligung sinkt.

Zunächst einmal muss ich sagen: Die österreichische Staatsform ist die Republik, und die Republik ist unbestritten. Die Regierungsform ist eine parlamentarische Demokratie, die als solche auch unbestritten ist. Denn ich glaube, dass sich – gestellt vor die Wahl zwischen Demokratie und Diktatur – ein überwältigender Teil unserer Bevölkerung für die Demokratie entscheiden würde. Das Problem liegt darin, dass die tägliche Praxis der Demokratie heute mehr Angriffsflächen bietet als vor 50 oder 30 Jahren – obwohl ich dazu sagen muss, dass die politische Kultur in den 60er- und 70er-Jahren auch nicht so tadellos war, wie sie heute rückblickend erscheint. Wir haben schon vieles vergessen, was es auch damals an Schwächen der Demokratie gegeben hat.

Aber es ist wahr, dass mit Bruno Kreisky und im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts unsere Demokratie im institutionellen Bereich beachtliche Fortschritte gemacht hat. Wir haben die Volksanwaltschaft eingeführt, wir haben parlamentarische Minderheitsrechte ausgebaut, wir haben die Verwaltungsgerichtsbarkeit modernisiert, wir haben die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern modifiziert. Wir haben die Europäische Menschenrechtskonvention in den Verfassungsrang erhoben, und wir haben die Rechtstellung der Frauen verbessert. Jetzt befinden wir uns in einer Situation, in der sich die wirtschaftliche Lage, die Inflation und manche Dinge, die ein Bundeskanzler mit dem Vornamen Sebastian zu verantworten hat, negativ auf die Demokratie auswirken. Dem müssen wir Aufmerksamkeit schenken. Damit müssen wir uns auseinandersetzen.

Müssen wir uns Sorgen machen?

Ich würde nicht sagen, die österreichische Demokratie steht knapp vor dem Zusammenbruch. Aber die Demokratie muss jeden Tag gewollt werden, praktiziert werden und verteidigt werden. Nur dann kann sie sich stabil entwickeln. Wenn Schwächen sichtbar werden, dann muss gezielt an deren Überwindung gearbeitet werden. Dann müssen viele Gespräche geführt werden, und man muss sich bewusst machen, dass die Demokratie nicht unabhängig von den handelnden Personen funktioniert. Es gibt keine Demokratie im luftleeren Raum. Demokratie ist die bestmögliche Form des Zusammenlebens von Menschen in einer Gesellschaft. Daher müssen sich die Menschen auch für die Demokratie interessieren und engagieren. Aber der Glaube, dass sich die Demokratie von selbst entwickelt, dass sie unzerstörbar ist, das ist ein Irrtum.

Interview mit Heinz Fischer: Demokratie in Österreich

Heinz Fischer beim Interview. Er hebt die rechte Hand.
„Jetzt befinden wir uns in einer Situation, in der sich die wirtschaftliche Lage, die Inflation und manche Dinge, die ein Bundeskanzler mit dem Vornamen Sebastian zu verantworten hat, negativ auf die Demokratie auswirken.“ | © Markus Zahradnik
Vielleicht muss man den Leuten wieder sagen, welche Sternstunden wir in der Demokratie gehabt haben. Welche wären es aus Ihrer Sicht?

Eine Sternstunde war sicher der April 1945. Zu Beginn dieses Monats war Österreich noch heiß umkämpft, und die „Schlacht um Wien“ hatte gerade stattgefunden. Am Ende des Monats gab es bereits demokratische Parteien, einen überparteilichen Gewerkschaftsbund, eine Wiener Stadtverwaltung und ab dem 27. April sogar eine provisorische demokratische Allparteienregierung. Eine weitere Sternstunde, während meiner Zeit im Gymnasium, war die Unterzeichnung des Staatsvertrags am 15. Mai 1955. Ja, und wenn ich das subjektiv so sagen darf, war auch der Beginn der Kreisky-Ära eine weitere Sternstunde für mich und viele andere.

Als Kreisky am 1. März 1970 die Wahlen gewonnen hat, war ich beruflich im Parlament tätig. Es war etwas Aufregendes. Man spürte so etwas wie den Atem der Geschichte. Es schien ja unerreichbar, dass die Sozialdemokratie zuerst eine Mehrheit (1970), dann eine absolute Mehrheit (1971) und dann eine noch größere absolute Mehrheit (1975 und 1979) erreichen konnte. Eine realpolitische Sternstunde war auch der Beitritt zur Europäischen Union am 1. Jänner 1995.

Das österreichische Parlamentsgebäude wird in Kürze nach einer Kernsanierung wieder eröffnet. Braucht die politische Kultur in Österreich auch eine solche Sanierung?

Ich würde diese zwei Dinge nicht in einen direkten Zusammenhang bringen. Die Sanierung eines Gebäudes ist ein handwerksmäßiger Vorgang, eine Bauleistung, und wenn man so will, auch ein Bekenntnis zur Demokratie und zum Parlamentarismus. Das, was wir brauchen, ist der tägliche Pulsschlag der Demokratie, die feste und unerschütterliche Überzeugung, dass wir uns gegenseitig enormen Schaden zufügen, wenn wir eine Schwächung der Demokratie zulassen, und dass die Demokratie die gemeinsame und außer Streit stehende Grundlage unseres politischen Systems ist.

Sie haben in einer Rede von der Demokratie als Sisyphusaufgabe gesprochen. Ist dieser tägliche Pulsschlag eine Sisyphusaufgabe?

Ja, es ist eine Sisyphusaufgabe, weil die Demokratie täglich neu erarbeitet werden muss. Demokratie aufbauen und sich dann nicht mehr darum kümmern – das funktioniert nicht. Die Demokratie hält viel aus – aber sie braucht dauerhafte Pflege, Zuwendung und Bejahung. Demokratie als etwas Selbstverständliches zu betrachten ist problematisch und sogar gefährlich.

Momentan gibt es Probleme und Problemzonen, die einen verstärkten Einsatz und einen verstärkten Willen zur Demokratie erfordern, damit es nicht zu ernsthaften Rückschlägen kommt.

Heinz Fischer, Altbundespräsident der Republik Österreich

Politische Strukturen sind immer mit dem Thema Macht verbunden. Wie geht eine funktionierende Demokratie damit um?

Macht ist ein gesellschaftliches Phänomen, das aus der Realität nicht wegzudenken ist. Es gibt keine Beziehungen zwischen Menschen, ohne dass auch der Faktor Macht in diesen Beziehungen eine Rolle spielt. Die Frage ist nur, wie wird die Macht verteilt und ausgeübt? In frühen Formen unserer Geschichte, als die Macht sich weitgehend ungezügelt entwickeln konnte, sind sehr steile Machtpyramiden entstanden. Aalso an der Spitze ein Führer, ein Kaiser, ein Befehlshaber etc., in steiler Abstufung nach unten. Und die Basis war de facto machtlos.

Dieses Prinzip der Machthierarchie war Jahrhunderte hindurch vorhanden, bis der Gedanke der Gleichwertigkeit der Menschen sich immer mehr verbreitet hat und der Gedanke stärker wurde, dass Machthierarchien flacher sein sollen. Man kann also Macht nicht aus der Gesellschaft eliminieren. Aber man kann so weit wie möglich die Macht gerechter verteilen und Gegenmacht (Kontrolle) aufbauen. Und man kann somit das Konzept der Demokratie als ein Konzept bezeichnen, das sich eine gerechte Machtverteilung und Machtkontrolle zum Ziel setzt.

Wir sind in einer der größten Wirtschaftskrisen der vergangenen Jahrzehnte, die gesellschaftliche Ungleichheit verschärft sich. Welche Aufgabe kommt in dieser Phase den Repräsentant:innen der Demokratie zu?

Die Aufgabe ist relativ leicht zu definieren, aber nicht so leicht zu erfüllen. In einer Zeit, in der das ökonomische System erschüttert wird und Mechanismen zur Gewährleistung einer einigermaßen vernünftigen und gerechten Einkommens- und Vermögensverteilung ihre Wirksamkeit verlieren, die Inflation Erspartes und Erworbenes entwertet etc., beeinträchtigt das auch das Vertrauen in die Regierungsform und daher in die Demokratie. Daher ist das Bemühen um eine Lösung dieser Probleme, um eine gerechtere Einkommensverteilung, um Frieden, um die Vermeidung von Gewaltanwendung zur Lösung politischer Probleme zugleich ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung der Demokratie. Einer der größten Feinde der Demokratie ist der Krieg. Da der Krieg demokratische Spielregeln durch Gewalt ersetzt und der Würde des Menschen täglich und stündlich ins Gesicht schlägt.

Abschließend die Frage: Welchen Beitrag leisten aus Ihrer Sicht Arbeiterkammer, ÖGB und Betriebsrät:innen gemeinsam für die Demokratie in Österreich?

Arbeiterkammer und ÖGB – dessen Mitglied ich seit 65 Jahren bin – sind große und wichtige Institutionen in unserem politischen System. Sie dienen nicht nur den Interessen der Arbeitnehmer:innen, sondern sie dienen als demokratische Einrichtungen und nach ihrem Selbstverständnis der Demokratie. Zusätzlich dienen sie auch indirekt der Demokratie. Weil die Sozialpartnerschaft, wie sie in Österreich praktiziert wird, dazu beiträgt das politische System zu stabilisieren. Und weil das Bemühen um Bildung, Vision und Information zum Funktionieren der Demokratie maßgeblich beiträgt. Ich bin daher auch immer sehr stolz, wenn ein Vertrauens-Ranking erstellt wird, in dem die Arbeiterkammer und der ÖGB ganz oben stehen, deutlich vor der Regierung und jetzt sogar vor der Polizei, vor der Justiz und vor vielen anderen Institutionen.

Daher ist für mich die Organisation von Menschen mit gleichgerichteten Interessen ein wichtiges Element des demokratischen Prozesses im weiteren Sinne des Wortes. Demokratie ist nicht nur das, was in der Verfassung steht. Sondern Demokratie ist auch eine Gesinnung, eine Lebensform, die dazu führt, dass man miteinander redet, Interessen ausgleicht, Gewalt ablehnt und den Artikel 1 der Menschenrechtskonvention ernst nimmt, in dem es heißt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Solidarität begegnen.“

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