Das US-amerikanische Unternehmen Eaton ist in 175 Ländern tätig, beschäftigt weltweit über 92.000 Mitarbeiter:innen und fertigt Energiemanagement-Technologien im Bereich der Elektronik, Hydraulik, Luft- und Raumfahrt und im Fahrzeugbau an. Am Sitz im niederösterreichischen Schrems werden vor allem Schutzschalter erzeugt. Wie in vielen Betrieben und Branchen sind auch im Waldviertel Automatisierung, künstliche Intelligenz und Robotik keine leeren Phrasen mehr, sondern längst gelebte Realität. In Österreich, so heißt es, sei die vierte industrielle Revolution in vollem Gange.
Abseits beeindruckender Wunderwerke der Technik wie Dampfmaschine, Fließband und Elektrotechnik brachten die industriellen Revolutionen der Vergangenheit Lohnabhängigen auch Arbeitsplatzverluste, mehr Leistungsdruck, mehr Überwachung und Entfremdung. Bei der vierten aber soll alles anders werden: Österreich soll „künstliche Intelligenz als Chance nutzen“, heißt es im neuen Regierungsprogramm, medial ist von „menschenzentrierten Ansätzen“ und einer Win-win-Situation für Unternehmer:innen und Lohnabhängige zu lesen. Kann das klappen?

Mit der KI on Tour
Die neueste Revolution kommt semantisch wuchtig daher: Sie verspricht die Industrie 4.0, die Arbeit 5.0 und die Smart Factory, die mit Large Language Models (LLM), Virtual Reality, cyber-physischen Systemen und künstlicher Intelligenz (KI) bestückt ist. Dementsprechend hält die Firma Eaton ihren Workshop nicht in einem Seminarraum ab, sondern im „Connected Learning Center“. Mitte Februar parkt dort das KI-Mobil vor der Tür, eine Initiative des Fraunhofer Instituts, der TU Wien, des Fachverbands Metalltechnische Industrie (FMTI) und der PRO-GE. Der elektrische VW-Van tourt seit November durch Österreich und bringt Betrieben die Potenziale der KI näher.
An einem Donnerstag, 9 Uhr vormittags, lauschen etwa 20 Eaton-Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin den Worten der Vortragenden. Mit ihren verschränkten Armen und skeptisch-interessierten Mienen sorgen sie sich nicht um die Revolution, sondern um chaotische Schichtpläne, unzuverlässige Lieferant:innen, automatisierte, aber heikle Übersetzungen vom Niederösterreichischen ins Hocharabische sowie um die Schnittstellen zwischen zwei Cloudsystemen. „Ja, des hod scho wos“, sagt einer der Teilnehmenden – Subtext: Die betriebliche Realität ist oft alltäglicher, als die sprachliche Wucht der vierten Revolution nahelegt.
Doch bei den Eaton-Beschäftigten dominiert nicht nur der Pragmatismus über die Euphorie, sondern auch der Glaube an die eigenen Fähigkeiten über die Angst vor der Technikdystopie. Vom Gespenst des Arbeitsplatzverlustes ist im „Connected Learning Center“ keine Rede – eher davon, welche Wunder die KI noch bereithält. „Ich möchte wissen, was da noch alles geht“, sagt einer der Teilnehmer über seine Erwartungen an den Workshop. Und bei Eaton geht ohnehin schon einiges. Sämtliche 240 Produktionsmaschinen am Standort Schrems sind miteinander vernetzt; der Energieverbrauch, die Abnützung, der Füllstand des Ölmittels: Jede Abweichung wird erfasst. Als globaler Konzern steht man im globalen Wettbewerb, der ist hart – und KI darin unverzichtbar.

Risiken und Nebenwirkungen
Nicht überall legt man eine solche Gelassenheit an den Tag wie in Schrems. Medien sind voll von Hiobsbotschaften, von drohender „Massenarbeitslosigkeit“ durch KI ist die Rede. Roland Sommer lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Er ist Geschäftsführer der Plattform Industrie 4.0, einer Initiative zur sozial verträglichen Implementierung von Technologie, und erinnert sich: „2016 gab es eine sehr intensive Diskussion über eine Studie der Universität Oxford, wonach durch die Automatisierung knapp 50 Prozent aller Jobs wegfallen würden.“ Diese dystopische Vorhersage sollte sich als unbegründet erweisen, Ähnliches erwartet Sommer mit Blick auf so manch düstere Jobprognose hinsichtlich KI. Manche Jobs werden verschwinden, aber „Tätigkeitsprofile werden sich verändern oder neue entstehen“, ist Sommer überzeugt. Er verweist auf das Aufkommen des PCs, der die Schreibmaschine verdrängte und IT-Techniker:innen, Softwareentwickler:innen und Netzwerkadministrator:innen – insgesamt 2.000 neue Berufsbilder – hervorbrachte.
In einem Punkt unterscheidet sich die vierte Revolution ganz erheblich von ihren Vorgängerinnen: Einst waren es Jobs in der Produktion, Jobs von Arbeiter:innen, die im Fokus der Automatisierung standen und abgebaut wurden. Das steht heute weniger im Fokus, erklärt Kerstin Repolusk, Sekretärin für Wirtschaft und neue Technologien der PRO-GE. KI-basierte Systeme können Dokumente analysieren, Texte und Bilder gestalten oder die Buchhaltung machen – und bedrohen dadurch eher klassische Angestelltenjobs. Anders in der Produktion: „KI kann dazu beitragen, dass Arbeiter:innenjobs qualitativ verbessert werden und mehr Unterstützung da ist“, so Repolusk. Ein Beispiel seien Exoskelette, auch als Roboteranzüge bekannt. Sie können Arbeiter:innen bei körperlich anstrengenden Tätigkeiten unterstützen und Überlastungen und gesundheitlichen Langzeitschäden vorbeugen.
KI kann dazu beitragen, dass Arbeiter:innenjobs
qualitativ verbessert werden und mehr Unterstützung da ist.
Kerstin Repolusk, Technologieexpertin
der PRO-GE
Simulationsschulungen
Ein weiteres Einsatzgebiet für KI sind Schulungen. Mit leicht ulkigen, tapsigen Bewegungen und einer VR(Virtual Reality)-Brille am Kopf macht ein Eaton-Mitarbeiter im Learning-Center für Außenstehende wenig nachvollziehbare Bewegungen. Auf einem großen Bildschirm ist zu sehen, wie der Mitarbeiter in einer Küche, die grafisch an ein Computerspiel aus den 2010er-Jahren erinnert, versucht, verschiedene Geräte zu reparieren. Die Idee: Mittels VR-Simulation sollen Arbeitende Schulungen und Sicherheitstrainings absolvieren können, ohne den Gefahren der realen Welt ausgesetzt zu sein. Ein Stromschlag oder ein Unfall mit dem Stapler sind im virtuellen Raum unbedenklich.
„Ganz schön schwierig“, sagt der Proband und nimmt die Brille ab. „Ja, aber vor allem stimmt’s ned“, ergänzt sein Kollege und erklärt wortreich, warum die virtuelle nicht der betrieblichen Realität entspricht. Die Präsentationen der Anwendungsbeispiele mögen für Laien beeindruckend sein – zum Beispiel eine handelsübliche 40 Euro teure Webcam, die KI-basiert Qualitätskontrollen vornimmt und intakte von defekten Keksen unterscheiden kann. Die Reaktion der Teilnehmer:innen ist jedoch stets gleich: verhalten.

Belegschaft mitnehmen
Der eher unaufgeregte Umgang der Eaton-Mitarbeiter:innen mit dem Thema mag auch daran liegen, dass dort die Industrie schon 4.0 war, als das Wort noch gar nicht existierte. Einen weiteren Grund sieht Markus Rametsteiner, Werksleiter in Schrems, darin, dass das Management versucht, neue Technologien nicht aufzuoktroyieren, sondern in Abstimmung mit den Beschäftigten zu integrieren. „Wir versuchen, unsere Mitarbeiter:innen von Beginn an miteinzubinden, zu erklären, was der Einsatz einer neuen Technologie bringt, wie ein Arbeitsplatz sicherer und effizienter wird, wie sich die Qualität des Produkts verbessert“, so Rametsteiner.
Ein heikler Punkt ist hierbei oftmals die Privatsphäre. Laut einer IFES-Studie aus dem Jahr 2023 befürchten drei Viertel aller Beschäftigten mehr Überwachung durch KI. Auch hier erkennt PRO-GE-Expertin Repolusk einen Unterschied zwischen Beschäftigungstypen: „Arbeiter:innen sind es gewöhnt, kontrolliert zu werden, dass jeder Handgriff, jeder einzelne Schritt von den Arbeitgeber:innen überwacht, gemessen und die Zeit gestoppt wird, um die Produktionsplanung zu optimieren.“ Anders bei den Angestellten: „Durch die neuen Systeme wird es auf einmal möglich, auch diese Tätigkeiten zu ‚messen‘. Zum Beispiel kann die Reaktionszeit am Bildschirm gemessen werden. Die Leistung wird auf einmal viel einfacher kontrollierbar.“ Dementsprechend seien Datenschutz und Datenschutzvereinbarungen bei Angestellten viel größere Themen als bei Arbeiter:innen, beobachtet Repolusk.
Was Rametsteiner und Repolusk hier ansprechen, nennt Roland Sommer die „nicht technologischen Elemente einer KI-Implementierung“. Bei KI gehe es nicht nur um das Anwenden einer Technologie, sondern auch darum, dass die Anwender:innen mit ihr warm werden. Sommer fordert, Beschäftigte bereits vor Anwendung einer KI in den Entwicklungsprozess miteinzubeziehen und über deren Sinn und Zweck aufzuklären. „Mitarbeiter:innen brauchen den Eindruck, dass sie die KI in ihrer Arbeit unterstützt und nicht ersetzt“, sagt er. „KI sollte zur geschätzten Kollegin, nicht zur Konkurrenz werden.“

Sozialpartnerschaftliches Sprungtuch
An diesem Punkt kommen Menschen wie Werner Müller ins Spiel. Er ist Vorsitzender des Arbeiterbetriebsrats bei Eaton in Schrems. „Wir sind am Ende des Tages ein US-amerikanischer börsennotierter Konzern, und die USA funktionieren da anders“, erklärt Müller. Er sieht es als Aufgabe des Betriebsrats, das, was da über den Atlantik kommt, sozialpartnerschaftlich abzufedern, Regeln zu etablieren, sich mit dem Management und der Werksleitung abzustimmen, Mitarbeitenden als Ansprechpartner zu dienen, Sicherheit zu vermitteln.
Mitarbeiter:innen brauchen den Eindruck, dass sie die KI
in ihrer Arbeit unterstützt und nicht ersetzt.
KI sollte zur geschätzten Kollegin, nicht zur Konkurrenz werden.
Roland Sommer, Geschäftsführer von Industrie 4.0
Denn letztlich sei der technologische Fortschritt „Fluch und Segen“, warnt Müller. Durch KI werde vieles einfacher – und so manches bedrohlicher. „Sämtliche Daten werden analysiert, alles wird von Jahr zu Jahr engmaschiger, schnelllebiger, jeder Stillstand und alle Fehler werden erfasst, und es wird registriert, wann die Maschine läuft und wann nicht.“ Indirekt würden so auch Mitarbeiter:innendaten ausgewertet, denn von diesen werden die Maschinen bedient, so Müller.

Technik ist nie neutral
Gegen Mittag neigt sich der Workshop im „Connected Learning Center“ dem Ende zu. Die Teilnehmenden stimmen ab, wo der Einsatz von KI für sie im Arbeitsalltag am meisten Sinn macht. Schulungsmaßnahmen erhalten mit Abstand die meisten Stimmen, dahinter folgen ex aequo Qualitätskontrolle, Dokumentenanalyse und Programmierung.
Die Palette möglicher Anwendungsgebiete von KI ist groß, sie unterscheidet sich von Betrieb zu Betrieb. „Es geht um die Frage: Was ist das Ziel, was ist der Fokus?“, bekräftigt Kerstin Repolusk von der PRO-GE. „VR-Brillen können einen Betrieb für junge Leute spannend, cool und attraktiv machen“, aber letztlich solle man sich keinen Illusionen hingeben: „Unternehmen geht es darum, Kosten zu sparen und Gewinne zu steigern.“
Anders formuliert: Was für die Dampfmaschine gilt, ist auch auf Large Language Models anwendbar, und was für das Fließband zutrifft, gilt auch für cyberphysische Systeme. Eigentümer:innen und Lohnabhängige verfolgen in einem Unternehmen unterschiedliche Interessen, unabhängig von der eingesetzten Technologie. Letztere ist nie neutral, auch die vermeintlich intelligente nicht. In seinem Innersten ist ein jeder Betrieb politisch. Zack, zack, wrrmm.
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