Gnadenlose Algorithmen: Die Schattenseiten von Foodora und Co.

Foodora-Rider:innen demonstrieren auf der Mariahilfer. Auf den Schildern steht "Gebt uns die Arbeit, die ihr versprochen habt", "Wir finden keine Schichten. Stoppt Hire&Fire", "Flexibility vs. Benefits?", "Bonus für neue Rider, aber kein Geld für die bestehende Flotte".
„Schande, Schande, Foodora – wir sind keine Roboter!“, brüllt die Menge im Chor, während sie die Mariahilfer Straße hinunterzieht. Für viele ist es das erste Mal, dass sie eine Demo besuchen. | © Markus Zahradnik
Alles andere als fair: Für Beschäftigte von Foodora und Co. gehören schlechte Arbeitsbedingungen und Schein-Selbstständigkeit zum Alltag. Das soll sich jetzt ändern.
Ihre Forderungen haben die Demonstrant:innen auf Pappschilder gemalt. Der Gepäckträger eines Mopeds dient als Bühne, von der aus ein junger Mann mit weißem Hemd, schwarzem Haar und Dreitagebart mit Megafon „Schande, Schande, Foodora – wir sind keine Roboter!“ in die Menge brüllt. Unweit des Wiener Westbahnhofs, am Christian-Broda-Platz, demonstrieren an diesem Mittwoch im Oktober 2023 rund 100 Fahrer:innen des Essenszustellers Foodora für bessere Arbeitsbedingungen. Die Stimmung ist ausgelassen, für die meisten ist es das erste Mal, dass sie an einer Demonstration teilnehmen. Der Großteil der Teilnehmer:innen sind Migrant:innen.

„The job is perfect“, sagt Flavio, der anonym bleiben möchte. Seit fünf Jahren fährt er als freier Dienstnehmer für Foodora, im Schnitt komme er auf 15 Euro pro Stunde. Fürs Radfahren bezahlt zu werden sei genau sein Ding, schwärmt der Mittdreißiger aus Spanien, der das Treiben am Christian-Broda-Platz sitzend und aus sicherer Distanz beobachtet. Der Grund, warum Flavio hier ist, ist die – im wahrsten Sinne des Wortes – Unmenschlichkeit seines Arbeitgebers: Über sein Monatseinkommen bestimmt eine App, ein Algorithmus.

Foodora unterteilt seine freien Dienstnehmer:innen in fünf Gruppen, sogenannte „Batches“. Wer Sonntagsschichten fährt, steigt im Ranking auf, wer Aufträge ablehnt oder zu viele Pausen macht, steigt ab. Nur jene, die es in die oberen Batches schaffen, bekämen ausreichend Schichten, um eine 40-Stunden-Woche zu füllen. Es reiche ein Patschen, ein Unfall oder eine Krankheit, um nach unten zu rutschen, beklagen die Rider:innen am Christian-Broda-Platz.

Macht- und Kostenfaktor

Klassische Vertreter der Gig-Economy wie Foodora oder der Fahrdienstleister Uber sind das Produkt einer globalisierten und digitalisierten Wirtschaft. Mit dieser Entwicklung einher gehen Arbeitsformen, die das Arbeitsverfassungsgesetz (ArbVG) an seine Grenzen bringen. Flavio ist das beste Beispiel: Als freier Dienstnehmer gilt er nicht als Arbeitnehmer und fällt nicht unter das ArbVG.

Eine Foodora-Rider:in gekleidet in der Rider:innenuniform steht neben einem Kollegen, der auf einem Motorrad sitzt. Auch er trägt eine Jacke mit dem Logo von Foodora.
Ihre Einkommen schwanken von Monat zu Monat um bis zu 1.500 Euro, beklagen Rider:innen vorm McDonalds Hütteldorfer Straße die „Gnadenlosigkeit“ des Algorithmus. | © Markus Zahradnik

Im Kapitalismus besteht ein grundsätzliches Machtungleichgewicht zwischen Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen: Erstere sind auf Erwerbsarbeit angewiesen, sie brauchen Einkommen, um zu überleben. Arbeitsrecht ist der Versuch, die Konsequenzen dieses Ungleichgewichts zu minimieren. Arbeitsgesetze sollen Arbeitnehmer:innen, oder besser: Lohnabhängige, vor der Übermacht der Unternehmen schützen, indem sie ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit bieten, einen Mindestlohn festlegen oder die Höchstarbeitszeit begrenzen. Das ArbVG stärkt die Position der Lohnabhängigen, indem es demokratische Mitbestimmung ermöglicht, etwa durch Betriebsräte und Gewerkschaften.

Aus Sicht der Arbeitgeber:innen sind Arbeitnehmer:innen-Rechte ein „Kostenfaktor“, erklärt Martin Gruber-Risak, Professor für Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Wien. Arbeitende zu bezahlen, während sie krank oder im Urlaub sind oder auf Aufträge warten, kostet Geld. Um Kosten zu sparen, stellen Unternehmen Lohnabhängige nicht direkt an, sondern beschäftigen sie als freie Dienstnehmer:innen oder Subunternehmer:innen. Foodora hat laut Medienberichten rund fünf Prozent seiner Fahrer:innen fix angestellt, der Rest fährt, wie Flavio, mit einem freien Dienstvertrag – oder als Subunternehmer:innen. Wie viele Fahrer:innen mit welchem Vertrag ausgestattet sind, wollte Foodora auf Nachfrage nicht beantworten.

Randphänomen Subsub

Mahdi kurvt in seinem Kleinwagen durch die Donaustadt. Auch er will anonym bleiben. Es ist März 2023, wenige Wochen, bevor das grüne Mjam Name und Logo tauscht und zum pinken Foodora wird. Die Straßen und Gassen des 22. Wiener Bezirks kennt Mahdi auswendig, die Mitarbeiter:innen der McDonalds-Filialen beim Vornamen. Die Sackerl mit dem Mjam-Logo verstaut er in seinem Mjam-Rucksack, den er lustlos auf die Rückbank schmeißt, bevor er eine Adresse ins Smartphone tippt, losfährt und die Ware 15 Minuten später auslädt. Dann die nächste Bestellung: abholen, einladen, ausladen. Die Monotonie wird höchstens unterbrochen, wenn Mahdi angehupt wird, weil er Vorfahrtsregeln oder Einbahnstraßen etwas eigen interpretiert.

Ein Mann sitzt am Steuer eines Autos und fährt die Straße entlang. Auf dem Beifahrersitzt liegt ein Rucksack mit dem alten Logo von Foodora.
Die Straßen und Gassen des 22. Wiener Bezirks kennt Mahdi auswendig, die Mitarbeiter:innen der McDonalds-Filialen beim Vornamen. | © Markus Zahradnik

Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs lebt er seit knapp acht Jahren in Österreich. In seiner Heimat, dem Iran, machte er einen akademischen Abschluss, verdiente gutes Geld – aber weil sein Zeugnis hierzulande nichts zählt, arbeitet er mangels Alternativen für den Lieferdienst Mjam.

Mahdi arbeitet als freier Dienstnehmer – im Auftrag eines Sub-Subunternehmens von Foodora. Der Arbeits- und Sozialrechtsexperte Thomas Dullinger berichtete bereits 2016, dass Foodora bzw. Mjam die Zustellung an Subunternehmen auslagert. Für Menschen wie Mahdi sind die Arbeitsbedingungen noch prekärer, für Kund:innen ist der Unterschied nicht zu erkennen. Laut Recherchen der Investigativplattform DOSSIER verdienen Fahrer:innen der Subauftragnehmer:innen teils nur sechs Euro pro Stunde. Die Autor:innen des internationalen fairwork-Reports schätzen, dass sie netto durchschnittlich halb so viel wie fix angestellte Rider:innen bekommen. Auf Nachfrage von DOSSIER distanzierte sich Mjam von derlei Stundenlöhnen und verwies auf die Einhaltung sämtlicher rechtlicher Standards. Auch heute setzt Foodora aus „operativen“ Gründen weiterhin auf Subunternehmer:innen, erklärt das Unternehmen auf A&W-Nachfrage. Die Weitergabe an Sub-Subauftragnehmer:innen hat Foodora Mitte letzten Jahres untersagt.

Ein „gnadenloses“ System?

Subunternehmen kommen vor allem an den Stadträndern zum Einsatz, wo die Bevölkerungs- und Restaurantdichte geringer und das Geschäft weniger lukrativ ist. Beobachten lässt sich das vorm McDonalds in der Hütteldorfer Straße in Wien-Penzing. An einem nebligen Novemberabend kommen die vermeintlichen Foodora-Rider:innen im Minutentakt an. Deutsch sprechen die wenigsten. Zwischen 2,50 und 6 Euro pro Bestellung bekommen die Fahrer:innen laut deren Aussagen, je nach Distanz. Die meisten fahren im Auftrag eines Subunternehmens, in guten Monaten schaffen sie bis zu 3.000 Euro brutto. „Gutes Geld“, sagen sie. Aber der Algorithmus sei gnadenlos. Wer im internen Ranking abrutscht, bringt es auf weniger Stunden und damit auf weniger Geld. In schlechten Monaten seien es 1.500 Euro. Ihre Zukunft zu planen sei unmöglich.

Porträt Robert Walasinski
„Unser Zielpublikum ist ganz weit weg von Vertrauen in Institutionen, von Wissen über Regelwerke oder über Arbeitskampf“, so Robert Walasinski vom Riders Collective. | © Markus Zahradnik

Den Vorwurf eines „gnadenlosen“ Systems kann Foodora nicht nachvollziehen. „Unsere Zahlen zeigen, dass die durchschnittlichen Arbeitsstunden der Rider sehr konstant sind“, schreibt das Unternehmen auf Nachfrage. In der Vergangenheit sei es teils zu „ungewollten systemseitigen Ausnahmen“ gekommen, so Foodora, und man betont: „Es ist absolut nicht unser Ziel bzw. in unserem Sinne, dass Rider durch längere Abwesenheiten (aus welchem Grund auch immer) im Batch abrutschen.“

Aus Angst keinen Lärm machen

Ob es sich bei freien Dienstnehmer:innen und Subunternehmer:innen in der Plattformökonomie nicht in Wirklichkeit um dem Arbeitsrecht unterliegende Anstellungsverhältnisse handelt, ist fraglich. Für Gruber-Risak sprechen gute Argumente dafür. Meist arbeiten Plattformbeschäftigte für einen einzigen Auftraggeber, der ihre Arbeitsabläufe streng kontrolliert. Gruber-Risak spricht in solchen Fällen von „Scheinselbstständigkeit“. „Leute in eine formale Form der Selbstständigkeit abzuschieben erlaubt es, ihnen den Schutz des Arbeitsrechts zu nehmen.“ Freie Dienstnehmer:innen und Selbstständige haben keinen Kündigungsschutz, werden von keinem Betriebsrat vertreten, und die Gewerkschaft ist für sie formal nicht zuständig. Zwar trat in Österreich mit 1. Jänner 2020 ein Kollektivvertrag für Fahrradbot:innen in Kraft, der erste weltweit, aber laut ArbVG gilt der nur für Fixangestellte – bei Foodora greift die Vereinbarung bei rund fünf Prozent der Beschäftigten.

Für bessere Bedingungen zu kämpfen fällt den Betroffenen schwer. Die überwiegend migrantischen Lohnabhängigen sprechen die Sprache oft nicht, sind mit ihren Rechten kaum vertraut oder wollen aus Angst um ihren Aufenthaltsstatus keinen Lärm machen. Innerhalb der Gewerkschaften sind migrantische Lohnabhängige kaum vertreten.

Organisationsmacht aufbauen

Die Soziologen Stefan Schmalz und Klaus Dörre sprechen mit Blick auf Kollektivverträge und Arbeitnehmer:innenrechte von „institutioneller Macht“, die die Interessen von Lohnabhängigen stärken. Eine Möglichkeit, um fehlende institutionelle Macht zu kompensieren, so Schmalz und Dörre, sei der Aufbau von „Organisationsmacht“.

Madeleine Engstler zeigt auf Robert Walasinski, er hebt die Arme. Sie sitzen an einem Tisch im Gebäude des Riders Collective, hinter ihnen sind Fahrräder, eine Fahrradpumpe, Getränkekisten und ein alter Mjam-Rucksack zu sehen.. Ihnen sitzt der Autor links gegenüber.
Auf die Straße gehen und die Leute auf Augenhöhe ansprechen: Mit Robert Walasinski arbeitet Madeleine Engstler an einer „Gewerkschaft von unten“. | © Markus Zahradnik

Hier setzt das Riders Collective an. Das Kollektiv wurde zum Jahreswechsel 2021 gegründet und versteht sich als „Gewerkschaft von unten“, erklären Robert Walasinski und Madelaine Engstler. Beide saßen einst selbst im Sattel, sie kennen die Probleme der Rider:innen aus erster Hand. „Wir gehen auf die Straße oder sind mit dem Rad unterwegs und sprechen die Leute an, fragen, wie’s läuft“, erklärt Engstler. Ob jemand Gewerkschaftsmitglied ist, spielt für das Riders Collective keine Rolle.

„Unser Zielpublikum ist ganz weit weg von Vertrauen in Institutionen, von Wissen über Regelwerke oder über Arbeitskampf“, so Walasinski. Ihr Angebot wollen sie möglichst niederschwellig gestalten, zum Beispiel in Form des Riders Collective Space, eines Raums in den Wiener U-Bahn-Bögen. Dort können sich Rider:innen aufwärmen, einen Kaffee trinken oder ihr Rad reparieren. Viele kommen in den Riders Space, weil sie Fragen zu Dokumenten oder Behörden haben. Auch jene Gruppe von Fahrer:innen, die im Herbst 2023 die Demo am Westbahnhof initiierte, wandte sich an das Riders Collective und bat um Unterstützung – für Engstler „ein großer Vertrauensbeweis“.

Quantensprünge? Eher nicht

Rider:innen zu organisieren, sie auf die Straße zu bringen und über ihre Rechte aufzuklären, ist das eine. Beim Riders Collective ist man sich sicher: Um nachhaltig etwas zu verbessern, sind politische Institutionen gefragt. Im Vokabular von Schmalz und Dörre: Die Organisationsmacht muss sich in institutionelle Macht übersetzen. Zwar wurde das ArbVG in der Vergangenheit immer wieder verändert, „Quantensprünge“ erwartet sich Martin Gruber-Risak angesichts der derzeitigen politischen Machtverhältnisse aber nicht. Für praktikabel hält er, den Anwendungsbereich von Arbeitnehmer:innenrechten auszuweiten. Zentral sollte die Frage nach der Schutzbedürftigkeit einer Person sein, unabhängig vom juristischen Status. Echte und freie Dienstnehmer:innen sowie Selbstständige, die de facto dieselbe Arbeit erledigen, sollten mit denselben Rechten und Sicherheiten ausgestattet sein – sie sind im selben Maße schutzbedürftig.

Beweislast umkehren

Eine weitere Möglichkeit ist laut Gruber-Risak das Instrument der „gesetzlichen Vermutung“. Standardmäßig sollte von einem Arbeitsverhältnis ausgegangen werden – es sei denn, der:die Auftraggeber:in kann das Gegenteil beweisen. Nach derzeitiger Rechtslage liegt es an den Auftragnehmer:innen, in langwierigen und teuren Verfahren nachzuweisen, dass ein Arbeitsverhältnis vorliegt. In zahlreichen EU-Ländern kommt die gesetzliche Vermutung bereits zur Anwendung, in Österreich nicht. Flavio und Mahdi würden dann nicht nur dasselbe verdienen wie ihre fix angestellten Kolleg:innen – sie wären auch nicht auf Gedeih und Verderb auf den „Goodwill“ eines Algorithmus angewiesen.

Über den/die Autor:in

Johannes Greß

Johannes Greß, geb. 1994, studierte Politikwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet als freier Journalist in Wien. Er schreibt für diverse deutschsprachige Medien über die Themen Umwelt, Arbeit und Demokratie.

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