Ärzt:innen vor der Kündigung? + Podcast

Frédéric Tömböl im Interview.
© Markus Zahradnik

Inhalt

  1. Seite 1 - Ärzt:innen vor der Kündigung
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1.500 der 8.200 Wiener Ärzt:innen denken über eine Kündigung nach. Der Wiener Intensivmediziner Frédéric Tömböl ortet ein „Systemversagen“. Die eigenen Privilegien sind dabei oftmals hinderlich.

Frédéric Tömböl, geb. 1990, ist Assistenzarzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Wiener AKH und Betriebsrat der Medizinischen Universität Wien. Er ist Sprecher der Ärzt:innen in Ausbildung des AKH Wien und gewählter Mandatar der Vollversammlung der Ärztekammer für Wien.

Arbeit&Wirtschaft: Frédéric Tömböl, du hast im April 2020, ziemlich zu Beginn der Pandemie, eine Mail an die Wiener Ärztekammer geschrieben, Betreff: „Gefahr in Verzug“. Worum ging’s da?

Frédéric Tömböl: Das war die erste Corona-Welle, die uns alle überrollt hat. Obwohl regelmäßig davor gewarnt wurde, dass eine Pandemie eines der Drohszenarien für Österreich und Mitteleuropa ist. Aber wir waren komplett unvorbereitet. Eine Facette davon war, dass die lebenswichtige persönliche Schutzausrüstung für Pflegepersonal Mangelware war. Die wichtigste Komponente im Umgang mit COVID ist die Atemschutzmaske in adäquater Qualität – und die waren sehr knapp. Die Strategie, die dann gewählt wurde, war, die Masken bei 121 Grad zu heißdampfsterilisieren. Man wendete ein Instrument aus der Matratzendesinfektion auf Atemschutzmasken an. Das Problem ist, dass sich die Passform der Masken dadurch verzogen hat und das Material beschädigt wurde. Gestoppt wurde diese Praxis dann unter anderem aufgrund dieses Falter-Artikels über die Mail mit „Gefahr in Verzug“. Mein Kollege Gregor Bond und ich haben uns dadurch sehr exponiert und das auch noch einige Wochen zu spüren bekommen. Aber das hat dazu geführt, dass diese Gefährdung der Kolleg:innen beendet wurde.

Frédéric Tömböl im Interview.
by Markus Zahradnik

In einer Umfrage der Ärztekammer Wien vom April 2021 heißt es, dass von den insgesamt 8.200 Wiener Ärzt:innen mehr als 1.000 vorm Burnout stehen, mehr als die Hälfte dachte bereits über psychotherapeutische Behandlung, 1.500 denken über eine Kündigung nach. Überrascht dich das Ergebnis dieser Studie?

Ich glaube, dass die Pandemie derzeit in vielen Menschen unterschiedlichster Branchen zu einer Reflexion über die eigene Berufswahl führt. Aber im Gesundheitsbereich kommen besondere Belastungen dazu. Ich habe vergangene Woche 80 Stunden klinisch gearbeitet, das ist … verrückt. Aber es ist gesetzlich möglich. Da prallen extreme Arbeitszeiten auf ein auch körperlich forderndes Arbeitsfeld. Zum Beispiel sind viele der COVID-Patient:innen stark übergewichtig. Die muss man lagern, auf den Bauch drehen, auf den Rücken drehen. Dazu kommt die zweite Komponente, die „emotional labour“. In Wahrheit bist du immer von Leid, Sterben und Ausnahmesituationen umgeben. Die ganze Zeit. Dass 50 Prozent über eine Psychotherapie nachdenken, überrascht mich nicht wirklich. Ich bin der Meinung, 100 Prozent in der Branche sollten Psychotherapie – oder zumindest Supervision – in Anspruch nehmen. Ich bin sehr dankbar, dass es an meiner Klinik mittlerweile implementiert wurde, dass es zumindest eine regelmäßige Gruppensupervision gibt. Ich merke, dass das einen riesigen Unterschied macht, wenn man nicht alleingelassen wird mit diesen Situationen, sondern darüber sprechen kann. Da braucht es eine Gruppe professioneller Menschen, die uns stabilisiert, die mit uns darüber spricht. Aber wenn 1.000 von 8.200 Ärzt:innen vorm Burnout stehen, ist das ein Alarmsignal. Dann sollten wir etwas dagegen tun. Die Umfrage ist ja nicht erst gestern rausgekommen, sondern vor rund zehn Monaten, und im Moment haben wir noch wenig dagegen getan. In der Ärztekammer haben wir das PHP-Programm eingeführt – Physicians Help Physicians – wo sich Kolleginnen und Kollegen kostenfrei und anonym psychotherapeutische Unterstützung suchen können.

Wie hat sich dein Arbeitsalltag im Vergleich zu vor der Pandemie verändert?

Gravierend. Die medizinische Arbeit ist sehr ähnlich, wir machen dasselbe wie immer, nur manchmal in Schutzausrüstung. Was sich massiv verändert hat und was ich wirklich als Belastung wahrnehme, ist die fehlende Interaktion mit Kolleg:innen. Zum Beispiel war das gemeinsame Abendessen auf der Intensivstation immer ein unglaublich schönes Ritual. Du hast den ganzen Tag schwere Arbeit gemacht – und dann hast du gemeinsam gekocht. Jetzt bekomme ich fast jeden Tag eine Mail: „Bloß nicht gemeinsam kochen! Bloß nicht gemeinsam in einen Sozialraum sitzen!“. Auch Kongresse oder gemeinsame Ausflüge sind weggefallen. Das heißt, der schöne, menschliche Ausgleich zur Arbeit, der ist fast komplett weg.

Was hat sich für Patientinnen und Patienten geändert?

Was mir am meisten weh tut, ist das Antelefonieren der Angehörigen, wenn ein Patient verstirbt. Manche Intensivstationen haben jetzt ein Tablett bekommen, damit man zumindest per Video kommunizieren kann, aber das ersetzt die menschliche Berührung nicht. Derzeit ist es so: nur wenn du länger als eine Woche stationär aufgenommen bist, akut stirbst oder ein Kind bist, darfst du überhaupt Besuch empfangen. Auf der Intensivstation darf eine Person einmal pro Woche kommen. Das ist schrecklich. Oder ein weiteres Beispiel: Stell dir vor, du wirst in den unfallchirurgischen Schockraum eingeliefert, du bist schwer verletzt – und dann stehen um dich herum fünf Leute in Vollschutzmontur und Gasmasken. Das ist eine ohnehin schon unangenehme Situation und dann kann kaum noch jemand emotional stabilisieren. Es ist am Ende nur noch „körperliche Arbeit“, es fehlt die menschliche Komponente. Die haben wir verloren in den vergangenen zwei Jahren.

Gesamtgesellschaftlich ist der Beruf der Ärzt:in hoch angesehen, ein Beruf mit Prestige, der vor allem gegenüber anderen Gesundheitsberufen eine privilegierte Position einnimmt. Wird euch dieser gesellschaftliche Status derzeit zum Verhängnis?

Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Diese übersteigerte Hoffnung in Form von „Der Arzt oder die Ärztin wird’s schon richten“ ist ein Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Alle wollen den Shortcut zum Erfolg. Alle wollen die eine Pille, die gesund macht, das eine Medikament, das COVID besiegt. Alle wollen die eine Maßnahme, die die Pandemie beendet. Alle wollen den Arzt, der sagt, mach‘ das und das‘ und alles wird gut. Das war immer und ist auch jetzt ein unrealistisches Versprechen. Diese übersteigerte Selbst- und Fremdwahrnehmung führt dazu, dass Hoffnungen in uns projiziert werden, die unerfüllbar sind. Beantwortet werden sie damit, dass eben noch mehr gearbeitet wird, noch mehr so getan wird, als könnten wir all das erfüllen.

Ich finde, wir sollten alle gemeinsam die Angst
davor verlieren, Systemkritik zu üben –
aber immer lösungsorientiert.

Frédéric Tömböl, Intensivmediziner und Betriebsrat

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Über den/die Autor:in

Johannes Greß

Johannes Greß, geb. 1994, studierte Politikwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet als freier Journalist in Wien. Er schreibt für diverse deutschsprachige Medien über die Themen Umwelt, Arbeit und Demokratie.

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