Die Gewerkschaft und das soziale Netz

Eine Demo im Jahr 2003. Es ist eine Menschenmenge zu sehen, die Schilder mit der Aufschrift "Sozialabbau - mit uns nicht!" und "SVS, Kreuzzeichen, 2003" tragen. Symbolbild für den Leistungsabbau in der Sozialversicherung.
Gewerkschaftsprotest gegen Leistungs- und Mitbestimmungsabbau in der Sozialversicherung 2003. | © ÖGB-Archiv
Wir haben heute eine staatliche Sozialversicherung. Das lässt vergessen: Der Staat hinkte nur nach und übernahm das Modell von den Gewerkschaften. Seit fast 150 Jahren wird darum gerungen, wer über die Leistungen bestimmt – auch in der Demokratie.
Als die konservative Regierung des „Eisernen Rings“ in den 1880er-Jahren die Kranken- und die Unfallversicherung für Arbeiter:innen einführte, wurde das als großer sozialer Fortschritt verkauft. Was daran stimmt: Erstmals gab es Versicherungspflicht für alle Arbeiter:innen, die einbezogen wurden. Wer nicht Mitglied einer von den Arbeiter:innen selbst verwalteten Unterstützungskasse war, als Facharbeiter:in ohnehin schon verpflichtend der Kasse einer gewerblichen Genossenschaft angehörte oder in eine vom Unternehmensmanagement geführte Betriebskasse einzahlte, den erfassten Bezirkskassen, wobei Kranken- und Unfallversicherung eng miteinander vernetzt waren. Aber was der Startschuss für die Sozialversicherung, wie wir sie kennen?

Es gab zumindest eine sensationelle Neuerung im österreichischen Kaiserstaat. Die Bezirkskassen wurden unter Einbeziehung der sie finanzierenden Unternehmer:innen und Arbeiter:innen unter staatlicher Kontrolle in Selbstverwaltung geführt, und die Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane wurden gewählt. Damit erhielten Arbeiter:innen erstmals das Wahlrecht, das ihnen sonst mit Ausnahme der Wahlen in die Gehilfenausschüsse der gewerblichen Genossenschaften verwehrt wurde – das allgemeine Wahlrecht für Männer gab es ja erst ab 1907.

Alles andere als sozial

Aber hinter dieser fortschrittlichen Fassade sah es weniger schön aus. Die Regierungen der autoritären Monarchie hatten keineswegs plötzlich ihr soziales Gewissen entdeckt. Es ging ihnen vielmehr darum, die sich immer stärker formierende sozialdemokratisch oder anarchistisch orientierte Arbeiter:innenbewegung mit den Freien Gewerkschaften als wichtigsten Basisorganisationen unter Kontrolle zu bringen.

Der Kampf gegen die Arbeiter:innenbewegung zog sich durch das ganze 19. Jahrhundert. Das bekamen auch schon die Vorgängerinnen der modernen Gewerkschaften zu spüren, die nach 1850 mit dem gesamten Zunftwesen endgültig verbotenen Gesellenbruderschaften ebenso wie die schon vor der Jahrhundertmitte verbotenen Fabrikkassen, die sich in der ersten Phase der Industrialisierung gebildet hatten. Der Staat argwöhnte nicht zu Unrecht, dass sie nicht nur als soziales Auffangnetz, sondern als (verbotene) Organisationsbasis und als Streikkassen dienten. Die Diktatur nach dem Scheitern der demokratischen Revolution von 1848 sorgte dann auch dafür, dass das Unterstützungswesen der Bergarbeiter:innen unter die Kontrolle der Montanunternehmen kam. Noch heute wird das Allgemeine Berggesetz von 1854 oft als Meilenstein des sozialen Fortschritts gepriesen. Die Bergarbeiter:innen erlebten das jedoch ganz anders, wie aus ihren Berichten am ersten Gewerkschaftskongress 1893 hervorgeht.

Gewerkschaftliche Unterstützung statt echte Sozialversicherung

Zur politisch motivierten staatlichen Kontrolle kam hinzu, dass die Leistungen der Bezirkskassen deutlich hinter jenen der selbstständigen Arbeiterkassen zurückblieben, vor allem aber, dass alle unselbstständig Beschäftigten in der Landwirtschaft und damit über die Hälfte der Arbeiter:innen ausgeschlossen waren. Eine Alterspension stand für Arbeiter:innen ohnehin nicht auf dem Programm der politischen Elite, nur der damals kleinen Gruppe der Angestellten wurde sie vor dem Ersten Weltkrieg zugestanden. Sonst waren Arbeitsunfähige weiter ausschließlich auf gewerkschaftliche Unterstützung oder die Armenfürsorge der Gemeinden angewiesen.

Protest-Satire gegen das Verschleppen der Alterspension für Arbeiter:innen 1924 (Die Leuchtrakete 9/1924, S. 1/ÖNB-ANNO).

Der Versuch, ein umfassendes soziales Netz im Sinne einer Sozialversicherung aufzubauen, startete erst 1918 in der demokratischen Republik. Die dringend gebotene Neuorganisation erfolgte 1927. Die Freien Gewerkschaften stimmten der Reform und damit der Einbeziehung der Arbeiterkassen in die Gebietskrankenkassen-Organisation unter der Bedingung zu, dass sie die entscheidende Stimme in der Selbstverwaltung bekamen. Und diese behielt die Gewerkschaft auch in der Zweiten Republik. Zumindest bis neoliberale Regierungen ab dem Jahr 2000 ihren Einfluss systematisch zurückzudrängen begannen, wenn auch nur teilweise erfolgreich. Das größte Loch im sozialen Netz, das Fehlen der Arbeiter:innen-Pension, wurde 1927 nur auf dem Papier gestopft. Eine extreme Sparpolitik verhinderte die Umsetzung, die unter entscheidender Beteiligung der Gewerkschaften erst in der Zweiten Republik erfolgte. Die Bestrebungen, den Gewerkschaftseinfluss auf die Gestaltung des sozialen Netzes zurückzudrängen, hatten und haben nicht zuletzt das Infragestellen des Sozialstaats und seiner Finanzierung zum Motiv.

Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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