Arbeitsminister Martin Kocher: First who, then what

Martin Kocher, der neue Arbeitsminister
Fotos (C) Michael Mazohl
Auf Unwissenschaft folgt nun mit Martin Kocher Wissenschaft im Arbeitsministerium nach und damit Expertise, die dringend gebraucht wird. Aber schafft es Kocher auch, die Langzeitarbeitslosigkeit zu bekämpfen? Ein Kommentar von Chefredakteur Michael Mazohl.
Die große Frage, wenn es um die Nachfolge Christine Aschbachers als Arbeitsministerin durch den IHS-Direktor Martin Kocher geht, lautet: Warum? Warum, sehr überspitzt gefragt, verabschiedet sich ein Spitzenökonom aus dem sprichwörtlichen Elfenbeinturm – in dem Fall der Chefposition im international angesehenen Institut für Höhere Studien – in die Niederungen der österreichischen Innenpolitik? Er wolle in dieser schwierigen Zeit Verantwortung übernehmen, sagt Kocher selbst. Und das ist ihm hoch anzurechnen. Denn die Schwierigkeiten in der größten Arbeitsmarktkrise der Zweiten Republik und die damit einhergehende Verantwortung könnten für ihn kaum größer sein.

Im Kabinett Kurz ist Expertise ein neuer Faktor. Gerade die ÖVP-Minister*innen sind damit bisher nicht wirklich in Erscheinung getreten. Kocher tritt jedoch als unabhängiger Experte (wenn auch mit ÖVP-Ticket) an. Schafft ihm seine Unabhängigkeit die Möglichkeit, tatsächlich arbeitsmarktpolitisch zu gestalten – und wo könnte er, seiner Aussage nach, heute noch „voll losstarten“?

Martin Kocher, der Arbeitslosigkeitsminister

Mit Jahresende 2020 lag die Arbeitslosigkeit um 27 Prozent höher als zum coronafreien Jahresende 2019. Besonders bestürzend, wenn auch nachvollziehbar: Erstmals stieg die Arbeitslosigkeit im Tourismus von November auf Dezember an, was einer Verdopplung im Vergleich zum Vorjahr entspricht. Glücklicherweise funktioniert die Kurzarbeit auch dort – für etwa 100.000 Beschäftigte.

Aus dem Arbeitsminister macht das in erster Linie einen Arbeitslosigkeitsminister. Sein wichtigster Partner sollte daher eine viel kritisierte Institution sein: das Arbeitsmarktservice. Wie Kocher sitzen auch die AMS-Chefs Johannes Kopf und Herbert Buchinger vor den größten Schwierigkeiten ihrer (teils schon jahrzehntelangen) Amtszeiten. Klar ist: Die meisten Problemstellungen ließen sich mit deutlich höheren Mitteln beheben oder wenigstens mindern.

Aufschwung sucht Qualifizierung

Das AMS ist nämlich keine unabhängige Institution, es folgt den Vorstellungen der Politik. Es verwaltet die Mittel, die ihm zur Verfügung gestellt werden. Aktuell lautet der politische Auftrag: Qualifizierung. Das macht doppelt Sinn: Auf der einen Seite nehmen laufende Ausbildungen Druck vom Arbeitsmarkt, auf der anderen Seite bereiten sie für einen Aufschwung vor, wann auch immer dieser passieren mag.

Das AMS muss sich dabei aber beschränken: Qualifiziert wird derzeit mangels Budget nicht in Richtung Strukturwandel – Stichworte Green Jobs, Pflege – sondern für die Bereiche, in denen die österreichische Industrie ihre Schwerpunkte hat, etwa Metall und Elektro. Kurz- bis mittelfristig mag das sinnvoll sein, mit Perspektive auf Klimakatastrophe, Pflegekrise (wie jüngst beim Pflegeskandal der SeneCura-Gruppe zusehen) und Digitalisierung wird das allein aber zu wenig sein.

Mit dem Infektionsgeschehen trifft das AMS noch auf eine Reihe anderer Problemstellungen. Termine können nicht mehr persönlich abgewickelt werden, sondern bis zu 90 Prozent telefonisch. Aufgrund der steigenden Anzahl der „Kund*innen“ und der begrenzten Personalressourcen gehen sich aber pro Beratungsgespräch nicht mehr die geplanten 30 Minuten aus, sondern nur mehr 15 bis 20 Minuten – wie Herbert Buchinger in einem Interview einräumte. Die Beratungsqualität leidet damit.

Martin Kocher hat auch schon Hartz IV gelobt.

Hartz IV hat allerdings auch positive Aspekte. Ja, der Druck, einen Arbeitsplatz anzunehmen, ist gestiegen. Es sind aber auch viele neue Jobs geschaffen worden, und die Anzahl der sogenannten Aufstocker ist gesunken.

Martin Kocher als IHS-Direktor über Hartz IV in einem Interview mit der „Wiener Zeitung“.

Schulungsteilnehmer*innen monieren zudem, dass Weiterbildungen in Präsenzveranstaltungen und kaum online stattfinden. Da sind sogar die viel kritisierten Schulen in puncto Distance Learning schon weiter. Aber auch hier geht es letztendlich um fehlende Ressourcen.

Martin Kocher, der Langzeitarbeitslosigkeitsminister

Die Corona-Krise hat hierzulande im März 2020 ihren Anfang genommen. Wer seither arbeitslos geworden ist und noch nicht wieder Arbeit gefunden hat, gilt damit noch nicht einmal als langzeitarbeitslos – sondern erst nach einem Jahr ohne Job. Trotzdem ist die Langzeitarbeitslosigkeit bereits auf einem Rekordhoch. Denn wer vor der Krise keine Arbeit gefunden hat, findet in der Krise noch viel schwieriger Beschäftigung.

Für Betroffene, die älter als 55 Jahre oder teils 50 Jahre sind, ist die Situation praktisch aussichtslos. Derzeit geht es hier um etwa 145.000 Personen über 50 Jahre, um 30 Prozent mehr als im Vorjahr.

Der Erfolg Martin Kochers muss gerade daran gemessen werden, wie seine Politik diesen Menschen wieder Perspektive und Würde gibt. Bis zu 15 Jahre Arbeitslosigkeit, Notstand, Mindestsicherung und damit Altersarmut können für so viele keine erwägbare Option sein. Und allein mit Qualifizierungen wird ihnen nicht geholfen.

Beschäftigung sucht Programme

Wenn der Markt – konkret: der Arbeitsmarkt – hier strukturell dermaßen versagt, ist der Staat gefordert einzugreifen. Die Aktion 20.000 hat funktioniert. Die Arbeiterkammer schlägt ein neues Modell vor. Gernot Mitter, Arbeitsmarktexperte der Arbeiterkammer, erklärt das recht einfach: „Wer länger als zwei Jahre arbeitslos ist, sollte die Möglichkeit einer Beschäftigung auf einem dauerhaft geförderten Arbeitsplatz erhalten.“

Gelingen soll das im Sinne einer Jobgarantie mit Lohnsubventionen für Arbeitgeber. Die Kosten für 40.000 Arbeitsplätze betragen dabei 300 Millionen Euro, also nicht einmal eine halbe AUA-Rettung. Klar ist: Ein umfassendes Qualifizierungsprogramm und ein gleichzeitiges Beschäftigungsprogramm würden die derzeitigen Kapazitäten des AMS sprengen.

Kritisch muss angemerkt werden: Martin Kocher hat ausgerechnet für das deutsche Hartz-IV-Modell lobende Worte gefunden, das Altersarmut im Nachbarland massiv beschleunigt.

Konsum sucht Motor

Mit 55 Prozent ist das Arbeitslosengeld in Österreich im internationalen Vergleich recht gering bemessen. Wer das Glück hat, nicht den Job zu verlieren, sondern in Kurzarbeit geschickt zu werden, erhält deutlich mehr. Und viel mehr ist oft nicht dabei als einfach nur Glück. In der größten Gesundheits- und Wirtschaftskrise die Arbeit zu verlieren, ist kein selbst gewähltes Schicksal.

Bei konstant steigenden Arbeitslosenzahlen und sinkenden offenen Stellen ist mir wirklich schleierhaft, wie eine halbe Million Arbeitslose rasch wieder einen Job finden soll.

Ingrid Reischl, leitende Sekretärin im ÖGB, begründet die Forderung nach der Erhöhung des Arbeitslosengelds

Die Regierung hat im vergangenen Jahr mit Einmalzahlungen reagiert. Aber auf lange Sicht ist das zu wenig, um eine breite Verfestigung von Armut zu verhindern. Erst Anfang Dezember bekräftigte Ingrid Reischl, leitende ÖGB-Sekretärin, die Forderung, das Arbeitslosengeld dauerhaft auf 70 Prozent zu erhöhen. „Bei konstant steigenden Arbeitslosenzahlen und sinkenden offenen Stellen ist mir wirklich schleierhaft, wie eine halbe Million Arbeitslose rasch wieder einen Job finden soll“, argumentiert sie.

Es gibt auch noch einen zweiten Aspekt: Wer mehr Geld zur Verfügung hat, kann mehr davon ausgeben. Eine Binse, die aber einen großen Effekt hat: Der Nachfrageschock wird abgemildert. Höheres Arbeitslosengeld wird damit zu einer indirekten Wirtschaftsförderung.

Krise sucht Augenhöhe

Letztendlich geht es hier um eine Reihe großer Entscheidungen, die Kocher am besten nicht allein triff, und sich schon gar nicht diktieren lässt, sondern in die gerade die Interessenvertretungen mit eingebunden werden müssen. Arbeiterkammer und ÖGB haben bereits sehr freundliche Gesprächseinladungen ausgesprochen. Kocher sollte sie annehmen.

Videos zum Thema auf YouTube

AMS-Vorstand Herbert Buchinger im Interview

Arbeitsmarktexpertin Ulrike Huemer, WIFO, im Interview

Über den/die Autor:in

Michael Mazohl

Michael Mazohl studierte Digitale Kunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Im ÖGB-Verlag entwickelte er Kampagnen für die Arbeiterkammer, den ÖGB, die Gewerkschaften und andere Institutionen. Zudem arbeitete er als Journalist und Pressefotograf. Drei Jahre zeichnete er als Chefredakteur für das Magazin „Arbeit&Wirtschaft“ verantwortlich und führte das Medium in seine digitale Zukunft. Gemeinsam mit der Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl erscheint ihr Buch „Klassenkampf von oben“ im November 2022 im ÖGB-Verlag.

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