Ärzt:innen vor der Kündigung? + Podcast

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  1. Seite 1 - Ärzt:innen vor der Kündigung
  2. Seite 2 - Beim Après-Ski infiziert sich jeder
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1.500 der 8.200 Wiener Ärzt:innen denken über eine Kündigung nach. Der Wiener Intensivmediziner Frédéric Tömböl ortet ein „Systemversagen“. Die eigenen Privilegien sind dabei oftmals hinderlich.

Kannst du ein Beispiel geben?

Es ist klar, dass sich jeder – wirklich jeder – beim Après-Ski mit COVID infiziert. Aber man sagt, kein Problem, das AKH wird’s schon richten. Wenn du ein Lungenersatzverfahren brauchst, dann machen wir das halt einfach. Und wenn du eine Leber brauchst, bekommst du noch eine Leber, und eine Niere und so weiter… Das ist meiner Meinung nach eine der Facetten, warum dieses Pandemie-Management so schwierig ist für die Regierung. Die Impfpflicht ist ein sehr schönes Beispiel. Die Prämisse davon ist: wir haben euch jetzt drei Mal im Guten darum gebeten, aber jetzt haben wir lang genug geredet, jetzt ist es verpflichtend, mit Strafe. Die Regierung versucht eine sehr einfache Antwort auf sehr schwierige Fragen zu geben. Also: ja, natürlich wird uns das auch zum Verhängnis, wenn man so tut, als könnten wir alles lösen.

Wird euch dieser privilegierte Status auch insofern zum Verhängnis, als dass damit suggeriert wird, in dieser Berufsgruppe werden die Arbeitsbedingungen so schlimm schon nicht sein?

Ich denke, dass man damit sehr viele temporäre Schlechterstellungen entschuldigt. Man sagt dann: Die sollen sich nicht beschweren, die verdienen eh so viel Geld. Das ist im Vergleich zu anderen Gesundheitsberufen, die weniger verdienen, durchaus ein reales Spannungsfeld. Aber, was ich derzeit von Politiker:innen höre, dieser Mythos des Übermenschlichen, das hier geleistet wird – das stimmt nicht! Es ist Menschliches am Rande des Abgrunds. 1.000 Leute haben vor zehn Monaten bereits gesagt, sie sehen sich stark Burnout-gefährdet. Da hilft es wenig, dass man das zum Heldentum stilisiert. Da muss man sagen, das sind Menschen wie alle anderen und wir behandeln sie jetzt auch wie Menschen.

Frédéric Tömböl im Interview.
by Markus Zahradnik

Was sagt das über das österreichische Gesundheitssystem, wenn Menschen wie du, die eine mehr als zehnjährige Ausbildung hinter sich haben und einen absolut essentiellen Job ausüben, trotzdem unter solch prekären Umständen arbeiten?

(überlegt) „Prekär“ ist ein starkes Wort. Viele der Probleme sind global betrachtet Luxusprobleme. Also prekär würde ich meine Situation nicht nennen, weil mein Jahresgehalt ist sehr respektabel. Aber die Bedingungen fühlen sich prekär an. Zum Beispiel sind die Dienstzimmer eine Demütigung: die Klimaanlage bläst dir ins Gesicht und ist ca. 80 Dezibel laut, das Bett ist sicher kaputt, wenn du Glück hast, hast du saubere Bettwäsche. Also das passt nicht zusammen, mit dem sozialen Status, mit dem Gehalt. Ich denke, das Motto ist: Wer zahlt, schafft an. Da heißt es dann, wir zahlen euch eh so gut, jetzt kümmerts euch drum, macht‘s das einfach. Aber was sagt es über das System aus? Es wird sehr viel in die Verantwortung des Individuums hineingesteckt. Es ist oft eine enorme Improvisationsleistung, die im Spital von uns verlangt wird. Das Systemversagen soll individuell kompensiert werden, indem man sagt, wir haben hier eh gute Leute, die wir gut zahlen – die werden das schon irgendwie lösen. Es gibt diesen Spruch: Der Arzt in Ausbildung ist immer abwärtskompatibel. Egal, was fehlt an Personal oder Struktur, wird von sehr leistungsbereiten Akademiker:innen, mit sehr langer Ausbildung dann irgendwie gelöst. In der Klinik Donaustadt sind derzeit einige Pfleger:innen ausgefallen, daher sollen jetzt die Turnusärzt:innen pflegerischen Maßnahmen übernehmen. Sie werden’s schon schaffen, aber das ist dasselbe, wie wenn bei einer Airline das Bordpersonal ausfällt und die Pilot:innen dann die Erdnüsse verteilen. Das suggeriert, es ist eh egal, wer das macht, es muss halt irgendwer machen. Man kann es nicht oft genug betonen: Alle Menschen, die im AKH arbeiten, geben im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihr Bestes. Wir haben hier ein im Wildwuchs entstandenes System, das immer komplexer geworden ist und immer mehr Anforderungen erfüllen soll – mit Menschen, die nicht gut darauf vorbereitet wurden und oft improvisieren müssen.

Laut deinem Twitter-Profil bist du „gesellschaftlich engagierter Arzt“ – was bedeutet das in so einem Fall?

Dass wir genau solche Gespräche hier führen. Nach diesem Falter-Artikel beispielsweise habe ich anschließend sehr wütende Anrufe bekommen. Ich verstehe das, es ist für viele Systemverantwortliche unangenehm zu hören, dass das System einen Scheiß draufgibt, wie’s den Menschen geht, die da drin arbeiten. Ich sehe Vieles von meinem täglichen Tun als politisch an. Ich finde, wir sollten alle gemeinsam die Angst davor verlieren, eine Systemkritik zu üben – aber immer lösungsorientiert. Ein Interview wie dieses zählt daher für mich als gesellschaftliches Engagement.

Kann Corona auch Chance sein?

Am Anfang hätte ich das eher bejaht. Mittlerweile sehe ich, es geht einfach weiter wie immer. Geändert hat sich wenig. Es hätte eine Chance sein können. Seit zwei Jahren hören wir, dass die Probleme, die immer schon da waren, durch die Pandemie im Brennglas sichtbar wurden. An den Zuständen, wo das angebliche Brennglas drauf ist, hat sich in meinem Dafürhalten wenig verändert. Ich hoffe, dass es irgendwann eine Art strukturierte Nachbesprechung geben wird, um zu erörtern, was den Systemen geholfen hätte, krisenresistenter zu sein. Denn es wird nicht die letzte Krise sein, die auf uns zukommt. Wir haben jetzt die Möglichkeit, zu lernen, was hat funktioniert, was hat weniger funktioniert – und was machen wir nächstes Mal anders.

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Über den/die Autor:in

Johannes Greß

Johannes Greß, geb. 1994, studierte Politikwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet als freier Journalist in Wien. Er schreibt für diverse deutschsprachige Medien über die Themen Umwelt, Arbeit und Demokratie.

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