An einem heißen Sommernachmittag versammelt sich eine Gruppe von Menschen am Wiener Westbahnhof rund um das Denkmal „Für das Kind“. Die Bronzefigur in der Kassenhalle des Bahnhofs zeigt einen Buben, der auf einem Koffer sitzt. Sie erinnert an die rund 10.000 mehrheitlich jüdischen Kinder, die zwischen 1938 und 1939 vor der Verfolgung durch die Nationalsozialist:innen fliehen konnten, indem sie in sogenannten „Kindertransporten“ nach Großbritannien gebracht wurden.
An diesem Junitag im Jahr 2025 ist das Denkmal Ausgangspunkt für einen historischen Stadtspaziergang. Denn die Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung ist auch eng mit dem düsteren Kapitel des Faschismus verwoben – beziehungsweise mit dem Widerstand. „Ihr könnt die Flyer auch zu Fächern umfunktionieren“, sagt Erik Stettler an die Runde von Menschen um ihn herum gerichtet. Er ist heute der Guide, der die Teilnehmer:innen gedanklich bis in die Zeiten der Monarchie zurück mitnehmen wird. Dass der Wiener Westbahnhof der Startpunkt dieses Spaziergangs ist, hat noch einen weiteren Grund: Im Direktionsgebäude wurde vor 80 Jahren der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) gegründet.
Aus der Asche
Stettler führt die Gruppe zuallererst im Bahnhof zu der Gedenktafel „Niemals vergessen“. Sie erinnert an die 150 Politiker:innen und Gewerkschafter:innen, die im April 1938 von hier aus ins Konzentrationslager Dachau deportiert wurden. „Die Gedenktafel ist beschämend klein und versteckt“, ärgert sich Stettler. Die Freien Gewerkschaften und die Sozialdemokratische Partei waren 1934, nach den als „Februarkämpfen“ bekannten blutigen Auseinandersetzungen mit dem Regime des Kanzlers Engelbert Dollfus, verboten worden. Im Austrofaschismus wurde das Standrecht wieder eingeführt, Erschießungen und Verhaftungswellen fanden statt. Betriebsrät:innen des sozialdemokratischen oder kommunistischen Lagers verloren ihr Mandat. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 wurden schließlich zahlreiche Gewerkschafter:innen vom Nazi-Regime als politische Gegner:innen inhaftiert und ermordet.

erkennt man daran, ob es freie Gewerkschaften gibt.“ | © Markus Zahradnik
Handgeschriebene Zettel und viel Diskretion
„Demokratien erkennt man unter anderem daran, ob es freie Gewerkschaften gibt“, betont Guide Stettler. „Aktuell leben wir in einer Zeit, in der sich in einigen Staaten autokratische Regierungen entwickeln und der Wunsch nach einem ‚starken Mann‘ lauter wird.“ Da hätten Gewerkschaften keinen Platz, so Stettler: „Die würden ja mitreden wollen“, so der 56-Jährige, der lange als Trainer mit Jugendlichen gearbeitet hat, unter anderem bei „Jugend am Werk“. Die circa zehnköpfige Gruppe verlässt danach den Westbahnhof und macht ganz in der Nähe vor einer unscheinbaren Hausfassade in der Kenyongasse halt. In den letzten Tagen des Krieges im April 1945 traf sich hier eine Runde von Männern, die das Regime überlebt hatten. Während in Teilen Wiens noch gekämpft wurde, drängten sich bei den mehrtägigen Beratungen bis zu 25 Menschen in der kleinen Wohnung von Josef Battisti (1900–1990) zusammen.
Aktuell leben wir in einer Zeit, in der sich in einigen Staaten
autokratische Regierungen entwickeln und
der Wunsch nach einem ‚starken Mann‘ lauter wird.
Erik Stettler, Guide von Stadtführungen
Battisti war gelernter Zimmermann und schon in seiner Lehrzeit Gewerkschaftsmitglied. In den 1920er-Jahren fungierte er als Sekretär der Bauarbeitergewerkschaft, nach 1934 spielte er eine zentrale Rolle in der illegalen Gewerkschaftsbewegung. Eine kurze Diskussion entsteht unter den Teilnehmer:innen: Wie konnte man sich damals – ohne Smartphone, Social Media, E-Mail-Verteiler – organisieren? Die Antwort: Durch Mundpropaganda, handgeschriebene Zettel und viel Diskretion. „Es ist beeindruckend, wie die Menschen ohne Hemmungen eine Zusammenkunft organisiert haben, ohne sich zu fragen, ob sie das dürfen. Sie haben es einfach gemacht“, fügt Stettler hinzu. Ein Komitee aus Vertreter:innen verschiedener Fachgewerkschaften entstand und begann in Battistis Wohnung, die Statuten für den ÖGB auszuarbeiten. Die Gründungsversammlung fand unter dem gemeinsamen Vorsitz von Battisti und Johann Böhm, dem späteren ersten ÖGB-Präsidenten, am 15. April 1945 im Wiener Direktionsgebäude des Westbahnhofs statt.
Tiefe Wurzeln
Bei der Entstehung des ÖGB stand zur Diskussion, ob man sich über Richtungsgewerkschaften organisieren wollte, wie in der Ersten Republik. Die Gewerkschaften waren damals nach ihren politischen und weltanschaulichen Richtungen aufgeteilt, also etwa in christliche, sozialistische oder kommunistische Gewerkschaften. Bei der Gründung des ÖGB hingegen einigte man sich auf einen allgemeinen, überparteilichen Gewerkschaftsbund.
Stettler führt die Gruppe weiter durch den siebten Bezirk und in die frühe Gewerkschaftsgeschichte, also zurück in die Monarchie. In der Zieglergasse, einer Seitenstraße der Mariahilfer Einkaufsmeile, macht die Gruppe einen Zeitsprung zu einem neuralgischen historischen Punkt: 1867 musste Österreich nach der Niederlage im Deutschen Krieg dem jahrelangen Aufbegehren der ungarischen Bevölkerung und Krone nachgeben, und das Kaisertum wurde in die Österreichisch-ungarische Doppelmonarchie umgewandelt. Ungarn machte einen Schritt in die Unabhängigkeit, und Österreich wurde zur konstitutionellen Monarchie.

Frauen vorne mit dabei
Im Österreichischen Staatsgrundgesetz von 1867 („Dezemberverfassung“) wurde schließlich auch das Recht der Bevölkerung festgehalten, Vereine zu gründen, was für die Etablierung der Massenparteien wie der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der Christlichsozialen Partei von großer Bedeutung war. Auch die damalige Arbeiter:innenbewegung machte von ihrem Recht Gebrauch, woran zum Beispiel die Hausnummer 18 der Zieglergasse erinnert. Dort befand sich ab 1868 eines der ersten sogenannten Arbeiterlesezimmer. Bildung war damals keine Selbstverständlichkeit, sondern den wohlhabenden bürgerlichen Schichten – und vor allem Männern – vorbehalten. Über Bildungsvereine kamen Arbeiter:innen in ihrer spärlichen Freizeit zusammen, um zu lesen, sich auszutauschen und zu debattieren. Frauen war es durch das Staatsgrundgesetz verboten, Mitglied in politischen Vereinigungen zu sein, weshalb sie unter anderem die (vermeintlich) unpolitischen Bildungsvereine zur Organisation nutzten.
„Wer glaubt, Frauen hatten nur eine unterstützende Rolle in der frühen Gewerkschaftsgeschichte, der irrt gewaltig“, betont Stettler. Bevor er die ÖGB-Gründungsroute als Guide übernahm, startete er mit einem historischen Stadtspaziergang zu Frauenthemen. „Sie sind für die eigenen Rechte eingestanden, und zwar breit aufgestellt.“ Als Beispiel nennt er die Frauentags-Demonstration 1911 in Wien, bei der rund 20.000 Menschen, vor allem Frauen, aufmarschierten.
Wissen ist Macht
Zentral waren auch Bildungsmaterialien und Medien, um das Gedankengut der betrieblichen Organisation zu verbreiten. Einige Minuten Fußweg vom Arbeiterlesezimmer entfernt in der Neubaugasse 65 befinden sich die Anfänge eines besonderen Magazins. Hier war im 19. Jahrhundert der erste Redaktionssitz der Zeitschrift „Die Gewerkschaft“, eines Sprachrohrs der Arbeiter:innenbewegung. 1923 wurde die Publikation in die Zeitschrift „Arbeit&Wirtschaft“ umgewandelt, und sie erscheint – wie Sie wissen – bis heute.

Die Gruppe spaziert weiter die sonnige Burggasse hinab und steht nach einer Linksabbiegung vor einem bis heute zentralen Ort der kulturellen Bildung: dem Wiener Volkstheater. 1889 eröffnet, sollte es ein Gegenpol zu den elitären Staatstheatern sein. Es versprach „geistige Erholung“ für die arbeitende Bevölkerung und konnte dieses Versprechen viele Jahre halten. Nach dem „Anschluss“ 1938 wurden jedoch die jüdischen Mitarbeiter:innen der Spielstätte entlassen. Das Gebäude wurde von den Nationalsozialist:innen übernommen und als „Kraft durch Freude“-Theater zweckentfremdet.

In der Nachkriegszeit wurde es dann anfangs von einer von Gewerkschafter:innen geführten GmbH gepachtet und wieder zum zentralen Veranstaltungsort für die gewerkschaftliche Bewegung. Gegen Ende des Spaziergangs begegnet die Gruppe noch den Spuren einer bedeutenden Gewerkschafterin: Grete Rehor (1910– 1987). Im nach ihr benannten Park, nicht weit vom Österreichischen Parlament spenden Bäume den Spaziergänger:innen etwas Kühle und Schatten. Rehor war christliche Gewerkschafterin und als junge Frau das erste weibliche Mitglied im Jugendbeirat der Arbeiterkammer Wien. Sie prägte Initiativen wie „Jugend am Werk“ oder „Jugend in Not“. Die ÖVP-Alleinregierung ernannte Grete Rehor 1966 zur ersten weiblichen Bundesministerin in Österreich.
Wer heute sagt, Gewerkschaften sind überholt, will morgen die Rechte von Arbeitnehmer:innen abbauen. Wir halten dagegen. Gemeinsam. #80JahreÖGB #DafürÖGB #Zusammenhalt
Errungenschaften der Vergangenheit und Zukunft
Bei der letzten Station angekommen, bleiben die Spaziergänger:innen vor den Büsten dreier Männer am anderen Ende des Parks stehen. Das „Denkmal der Republik“ erinnert an die Ausrufung der Ersten Republik 1918. Es stellt drei ihrer wichtigsten Akteure dar: den Gewerkschaftspionier und Bürgermeister Jakob Reumann (1853–1925), den Mitbegründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Victor Adler (1852–1918) und den Gewerkschafter und Pionier der Österreichischen Sozialgesetzgebung Ferdinand Hanusch (1866–1923).
Die Errungenschaften, die Menschen wie sie, wie Battisti, Böhm, Rehor und Konsort:innen, für die Österreichische Bevölkerung erkämpften, bilden bis heute das Fundament des Österreichischen Wohlstands. Die Werkzeuge ändern sich zwar, die Kommunikationsmittel und -methoden, doch die Motive bleiben gleich. Was die Gewerkschaftsbewegung damals ausgezeichnet hat – der Blick für die Vielen und das kompromisslose Eintreten für bessere Arbeits– und Lebensbedingungen –, das braucht es bis heute, und zwar mit der gleichen Überzeugung wie einst.