Reinhold Binder im Interview: „Da müssten Alarmglocken schrillen“

Portrait von Reinhold Binder während eines Interviews.
„Unternehmensgewinne haben die Teuerung angeheizt. Jetzt müssen die Löhne steigen, um die Kaufkraft zu sichern“, fordert Reinhold Binder. | © Markus Zahradnik
Klare Kante vom Start weg: Reinhold Binder ist seit Sommer Vorsitzender der Produktionsgewerkschaft PRO-GE. Im Interview mit Arbeit&Wirtschaft erteilt er dem gesetzlichen Mindestlohn eine Absage und spricht sich für eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung aus.

Ein leichter Einstieg in die neue Aufgabe ist Reinhold Binder nicht vergönnt. Das ganze Land schaut seit Herbst mit Argusaugen auf die Kollektivvertragsverhandlungen einer Branche: der „Metaller“. Hier wird abgesteckt, was im Interesse der Arbeitnehmer:innen erreicht werden kann. Der Metaller-Abschluss für rund 200.000 Beschäftigte hat Signalwirkung für die Lohn- und Gehaltsverhandlungen anderer Branchen. Doch schon zu Beginn zeichnet sich heuer ein schwieriger Verhandlungsprozess ab. Seit Ende 2021 steigen die Verbraucherpreise hierzulande stark an, in manchen Monaten in zweistelliger Höhe. Wie die Österreichische Nationalbank (OeNB) im September errechnete, lösten zunächst stark gestiegene Importpreise die hohe Inflation aus. Seit Mitte des Jahres 2022 sind aber zunehmend sogenannte Zweitrundeneffekte zu beobachten: Steigende Unternehmensgewinne verstärken den Preisauftrieb, zunächst im Energiesektor, später auch in anderen Wirtschaftsbereichen. Die OeNB empfiehlt zwar „eine moderate Entwicklung der Gewinnspannen“, spricht sich aber auch für „Augenmaß bei den Lohnverhandlungen“ aus. Dementsprechend klaffen die Forderungen der Gewerkschaften (PRO-GE und GPA) und das Angebot der Arbeitgeber:innen weit auseinander.

Reinhold Binder bleibt dennoch erstaunlich ruhig. Wir treffen ihn zum Interview in seinem Büro in der Zentrale der PRO-GE. Es gehe um den Respekt gegenüber der schweren Arbeit der Arbeitnehmer:innen in dieser Branche, betont er wiederholt. Menschen gingen nicht nur aus Freude an der Arbeit in die Schicht, Arbeit müsse auch so entlohnt werden, dass sich Arbeitnehmer:innen etwas leisten könnten. Aufgrund der hohen Inflation werde der Alltag aber immer teurer und führe zu einem Reallohnverlust. Das müsse den Arbeitnehmer:innen abgegolten werden.

Reinhold Binder ist seit dem Sommer 2023 Vorsitzender der Gewerkschaft PRO-GE. | © Markus Zahradnik

Arbeit&Wirtschaft:  In Ihren ersten Metaller-Lohnverhandlungen als Vorsitzender der PRO-GE waren Sie damit konfrontiert, dass die Arbeitgeber:innenseite versucht hat, die Spielregeln zu ändern. Die PRO-GE forderte 11,6 Prozent mehr Lohn. Die Arbeitgeber:innen boten 2,5 Prozent sowie eine Einmalzahlung von 1.050 Euro. Damit gingen die Arbeitgeber:innen davon ab, die rollierende Inflation als Basis zu nehmen. Was dachten Sie sich in diesem Moment?

Reinhold Binder: So etwas war ein Stück weit zu erwarten, weil wir uns in einer außerordentlichen Situation befinden. Die Spielregeln wurden aber nicht nur von den Arbeitgeber:innen missachtet, sondern auch von vielen Zurufer:innen rund um die Politik. Ich denke da an Ökonom:inn en, die zwar nicht selbst am Verhandlungstisch sitzen, aber freundliche Empfehlungen abgeben. Und bei diesen freundlichen Empfehlungen ist immer die spannende Frage: Wer profitiert davon? Da müssen wir sagen: Alle Modalitäten, die die rollierende Inflation ignorieren, gehen gegen die Arbeitnehmer:innen. Außerdem ist es immer problematisch, während eines Rennens das Pferd umzusatteln. Aus unserer Sicht ist es wichtig, Parameter zu haben, die man vergleichen und messen kann.

Die Arbeitgeber:innenseite argumentiert, dass die Abschaffung der kalten Progression in dieses erste Angebot einberechnet wurde.

Genau das lassen wir nicht zu. Es wurde keine Steuerprogression abgeschafft, sondern es wurden Steuerstufen verflacht. In Wirklichkeit geht es ja auch um Geld, das die Arbeitnehmer:innen schon bezahlt haben, und sie bekommen es durch die niedrigeren Steuerstufen auch nicht retour – sie müssen nur künftig weniger Steuern zahlen. Das nun hineinrechnen zu lassen, ist nicht fair und respektlos gegenüber den Arbeitnehmera:innen.

Arbeitgeber:innen ließen auch mit der Aussage aufhorchen, sie seien weder für den Erhalt der Kaufkraft der Beschäftigten verantwortlich, noch sehen sie sich in der Pflicht, die Inflation abzubilden. Warum ist das für Sie inakzeptabel?

Weil die Kaufkraft ein ganz wesentlicher Parameter im Wirtschaftskreislauf ist. Das haben die führenden Ökonom:innen aktuell auch bestätigt. Es ist jetzt notwendig, die Kaufkraft zu sichern. In der Vergangenheit sind die Preise gestiegen, jetzt müssen die Löhne hinauf. Jetzt muss die Teuerung abgefedert werden, um eben die Kaufkraft zu sichern.

Dann wird sofort dagegengehalten, wie diesen September zum Beispiel von der OeNB: Höhere Löhne treiben die Inflation weiter an.

In Wirklichkeit ist es ja so, dass die Preise nie sinken. Sie steigen, sie steigen horrend oder sie steigen möglicherweise ein bisschen moderater. Aber Fakt ist: Die Preise steigen immer. Und nachdem sie nun eklatant gestiegen sind, müssen die Löhne hinauf. Wir haben jetzt schon den höchsten Kaufkraftverlust seit Beginn der Zweiten Republik. Da müssten eigentlich die Alarmglocken schrillen.

Welches Licht werfen die heurigen Metaller-Verhandlungen, die ja auch als Lokomotive für alle folgenden Lohn- und Gehaltsverhandlungen in anderen Branchen gelten, auf den Zustand der Sozialpartnerschaft?

Einerseits hat man bei den Verhandlungen Partner. Das ist die Basis, dass man sich als Sozialpartner spürt, dass man etwas hat, was man gemeinsam vorlegt. Was mich allerdings sehr nachdenklich stimmt, ist, dass wir als Sozialpartner bereits vor über 19 Monaten in der Frage der Bekämpfung der Teuerung ein gemeinsames Neun-Punkte-Programm vorgelegt haben. Das Papier wurde von der Politik ignoriert. Die spannende Frage ist daher: Wie steht die Politik zur Sozialpartnerschaft? Und leider haben wir schmerzlich zur Kenntnis nehmen müssen, dass der Bundeskanzler auf die Sozialpartnerschaft pfeift – Stichwort: Video.

Da muss man schon auch betonen: Die Sozialpartnerschaft, das sind nicht nur die Arbeitnehmer:innen, das sind auch Wirtschaftsvertreter:innen. Das stimmt mich sehr nachdenklich, denn in Zeiten einer Krise müssen die Ohren ganz besonders in Richtung Sozialpartner gespitzt sein. Positiv ist aber auch zu sagen: Wir haben in Österreich eine 98-prozentige Kollektivvertragsabdeckung. Das zeigt doch die hohe Bereitschaft, auf sozialpartnerschaftlicher Ebene in der Kollektivvertragspolitik etwas zustande zu bringen.

Stichwort Krise: Immer wieder ist da zu hören, es brauche eine besondere Zurückhaltung der Arbeitnehmer:innen, denn hohe Lohnabschlüsse wären ein Wettbewerbs- und Standortnachteil.

Das sehe ich nicht so. Das Wichtigste ist, den Arbeitnehmer:innen wieder die Perspektive zu geben, dass man sich das Leben leisten kann. Und es ist kein sozialer Akt, dass Arbeitnehmer:innen tagtäglich aufstehen und in die Schicht fahren und dort harte und schwere Arbeit verrichten. Wir haben gerade in den Produktionsbetrieben Arbeitsbedingungen, wo du ja nach verrichteter Arbeit duschen musst, damit du überhaupt ins Auto einsteigen kannst. Es ist eine Frage des Respekts, hier vernünftige Lohn- und Gehaltsforderungen zu erfüllen, sodass die Kaufkraft gesichert ist. Ja, Arbeit soll im Idealfall wertgeschätzt und sinnstiftend sein, aber es geht schon auch darum, einen vernünftigen Lohn zu bekommen.

Einige Unternehmen haben bereits eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich umgesetzt. An solchen positiven Modellen sollten wir uns orientieren.

Reinhold Binder, Vorsitzender der PRO-GE

Man muss das auch perspektivisch sehen: Vom Lohn bzw. Gehalt muss man sich auch etwas aufbauen und leisten können. Da ist ein riesengroßer Umbruch in der Gesellschaft passiert. Wir sehen das an den Lebenshaltungskosten, die eklatant gestiegen sind. Selbst mit zwei Hauptverdiener:innen im gemeinsamen Haushalt ist es kaum mehr möglich, sich ein Eigenheim zu schaffen. Aber gerade für die Jugend ist es wichtig, hier Perspektiven zu haben.

Wären mehrjährige Lohnabschlüsse ein vernünftiger Ansatz?

Das wäre nur dann eine gute Idee, wenn alle unsere Forderungen erfüllt würden. Mehrjährige Abschlüsse dienen aber meist dazu, den Arbeitnehmer:innen in die Tasche zu greifen und sie im ersten Jahr mit nichts abzuspeisen. Die großen Industriemanager sagen nun, dass sie nicht einmal wissen, wie es in drei Monaten weitergeht. Dann ist es mir ein Rätsel, wie uns jemand heute einen Abschluss für 2024 und 2025 zusagen soll, der über der rollierenden Inflation liegt.

Wie stehen Sie zu einem gesetzlichen Mindestlohn?

Da bin ich absolut dagegen. Das wäre ein Wahnsinn. Bei jeder Regierungsumbildung könnte der Mindestlohn sofort außer Kraft gesetzt werden. Bei jedem Krisenanflug, das braucht nur ein kleines Lüfterl sein, müssten sich im Nationalrat nur 50 Prozent plus eine Stimme finden. Es ist daher wichtig, dass die Sozialpartner auf kollektivvertraglicher Ebene nicht nur Mindestlöhne, sondern gesamte Lohntabellen verhandeln und beschließen.

In Kollektivvertragsverhandlungen geht es nicht nur um Löhne, sondern auch um Zeit – von mehr Urlaub bis hin zu einer Arbeitszeitverkürzung.

Ja, wir fordern einerseits die sechste Urlaubswoche. Erstmalig in dieser Form haben wir den Arbeitgeber:innen dieses Jahr vorgeschlagen, dass ein Teil des Ist-Lohnes oder Gehaltsabschlusses in zusätzliche Zeit umgewandelt werden kann, wobei die Arbeitnehmer:innen hier ein einseitiges Wahlrecht hätten. Arbeit ist sehr belastend, wir müssen darauf schauen, dass Arbeitnehmer:innen lang und gesund im Erwerbsleben bleiben. Daher ist es wichtig, das Thema Arbeitszeit mitzuverhandeln. Für Kolleg:innen mit kleinen Kindern, die derzeit in Teilzeit sind, würden der Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen und eine Verkürzung der wöchentlichen Normalarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich dazu führen, dass man vor allem Frauen wieder schneller in Vollzeitbeschäftigung bringt. Das würde sich auch positiv auf die Pensionsansprüche auswirken.

Die voestalpine, ein Leitbetrieb der Metallindustrie, hat zum Beispiel schon vor einigen Jahren in manchen Bereichen eine Arbeitszeitverkürzung umgesetzt.

Einige Unternehmen haben bereits eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich umgesetzt. Es gibt dabei unterschiedliche Modelle, die voestalpine hat zum Beispiel die Soli-Prämie des AMS in Anspruch genommen. In der Papierindustrie haben wir beim vollkontinuierlichen Schichtbetrieb bereits die 36-Stunden-Woche. An solchen positiven Modellen sollten wir uns orientieren.

Portrait von Reinhold Binder während eines Interviews.
Es gibt einen leichteren Einstieg in den Job als die aktuelle Herbstlohnrunde. | © Markus Zahradnik

Wie schwierig ist es als Gewerkschaft, für Arbeitnehmer:innen in verschiedensten Betrieben zu verhandeln, in denen es bereits unterschiedliche Arbeitszeitmodelle gibt?

Das Wichtige ist jetzt – nach 47 Jahren gesetzlich verankerter 40-Stunden-Woche –, die Arbeitszeit generell zu reduzieren. Die zweite Basis sind natürlich die Kollektivverträge, wo es zur Arbeitszeit Gestaltungsmöglichkeiten gibt. Und dann können auch Betriebe eigene Arbeitszeitmodelle wählen. Uns ist wichtig, im Sinn der Arbeitnehmer:innen die Arbeitszeitbelastung zu entschärfen und für eine vernünftige Entlohnung zu sorgen. Bei Schichtarbeit ist es besonders wichtig, längere Freizeitblöcke zur Erholung zu haben. Es ist einfach eine sehr belastende Arbeit.

40 Stunden Wochenarbeitszeit sollen also der Vergangenheit angehören. Wie viele Stunden soll die Arbeitswoche künftig haben: 35 Stunden, 32 Stunden oder 30 Stunden?

Alles, was an Verkürzung umgesetzt werden kann, wäre der richtige Weg. Auch das ist ein Teil des Verteilungskampfes – da geht es eben nicht nur darum, wie sich Löhne und Gehälter entwickeln, sondern auch darum, wie die Arbeitszeit verteilt wird. Es muss nicht sofort die 32-Stunden-Wochen sein. Wenn auf gesetzlicher Ebene auf 38,5 Stunden reduziert werden könnte, wäre das ein erster wichtiger Schritt, den man schnell umsetzen könnte, da es die 38,5-Stunden-Woche schon in vielen Kollektivverträgen gibt. Es bräuchte nur den politischen Willen dazu. Wichtig wäre zudem, den untersten Einstiegslohn in allen Kollektivverträgen auf 2.000 Euro brutto zu heben.

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Über den/die Autor:in

Alexia Weiss

Alexia Weiss, geboren 1971 in Wien, Journalistin und Autorin. Germanistikstudium und Journalismusausbildung an der Universität Wien. Seit 1993 journalistisch tätig, u.a. als Redakteurin der Austria Presse Agentur. Ab 2007 freie Journalistin. Aktuell schreibt sie für das jüdische Magazin WINA sowie für gewerkschaftliche Medien wie die KOMPETENZ der GPA-djp oder die Gesunde Arbeit. 2022 erschien ihr bisher letztes Buch "Zerschlagt das Schulsystem ... und baut es neu!" (Verlag Kremayr & Scheriau).

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