Die Anzahl der Pflegegeldbezieher:innen erreicht bald eine halbe Million Menschen. Über ganz Österreich betrachtet, wird ein Drittel von ihnen von mobilen Diensten betreut. Ein Sechstel ist in Pflegeheimen untergebracht. Nur fünf Prozent werden in der 24-Stunden-Betreuung zu Hause gepflegt. Alternative Wohnformen und teilstationäre Betreuung nutzen jeweils nur unter drei Prozent der Pflegegeldbezieher:innen.
Pflexit: Kompetenzwirrwarr als Basis der Probleme
Das österreichische System der Langzeitpflege ist ein großes Wirrwarr an Kompetenzen. Der Bund verwaltet die Geldleistungen, also die Pflegegelder. In die Verantwortung der Länder fallen die Sachleistungen, also etwa die Pflegeheime oder mobile Heimhilfen. Dann gibt es noch die Gemeinden, die da und dort mitmischen wollen. Dazu kommt noch ein Pflegefonds, an dem sich alle bedienen können, der aber selbst praktisch nichts entscheiden oder steuern kann.
Neues Jahr, neuer Anlauf zur dringend notwendigen #Pflegereform? Konkrete Vorschläge dazu gibt es heute von @anderle_at und Kurt Schalek auf dem @AundW Blog. Zentral: eine bessere Finanzierung der #Pflege sowie eine Weiterentwicklung des Pflegefonds. https://t.co/TPzJNqjtm0
— Jana Schultheiss (@SchultheissJana) January 10, 2022
Ein Bericht des Rechnungshofs aus dem Jahr 2020 legt offen, welche Auswirkungen dieses Kompetenzwirrwarr zwischen Bund und Ländern in der Praxis hat. Am eindrucksvollsten veranschaulichen das die Pflegeheime. So liegen die durchschnittlichen Kosten pro Heimplatz und Verrechnungstag zwischen 91 Euro (Kärnten) und 161 Euro (Wien). Das Angebot an Pflegeplätzen unterscheidet sich von Bezirk zu Bezirk um das bis zu Sechsfache. Die Mindestpersonalausstattung bei einem Pflegeheim mit 71 Plätzen reicht von 22 Vollzeitbeschäftigten im Burgenland bis zu 46 in Wien.
Pflegedienstleistungen sind eine Postleitzahlen-Lotterie
Tatsächlich hat jedes Bundesland eigene rechtliche Vorgaben für die Personalausstattung in Pflegeheimen. Für die Bewohner:innen wird es damit zum Lotteriespiel, welchen Betreuungsschlüssel ihre Postleitzahl bietet, und damit auch, wie hoch die Qualität der Pflegedienstleistungen ausfällt. Umgekehrt bedeutet die Postleitzahl für die Beschäftigten, wie stark sich der Personalmangel in der Pflegeeinrichtung bemerkbar macht.
Das Personal – genauer gesagt der Mangel an Personal – ist der Dreh- und Angelpunkt der Pflegekrise. Insgesamt arbeiten in Österreich etwa 150.000 Personen in Pflegeberufen. Bis 2030 werden nicht weniger als 70.000 neue Pflegekräfte gebraucht, aus zwei Gründen: Einerseits gehen bis 2030 etwa 40.000 Pflegekräfte in Pension. Andererseits verringert sich der Beitrag, den derzeit pflegende Angehörige leisten.
Demografischer Wandel verschärft den Pflexit
Pflegende Angehörige leisten den größten Beitrag zur Langzeitpflege in Österreich. 80 Prozent aller Pflegegeldbezieher:innen werden von Angehörigen gepflegt – jede:r zweite davon ohne externe Unterstützung. Den Löwinnenanteil davon leisten Frauen. Sie müssen dafür die Pflegekarenz in Anspruch nehmen – bekommen dafür allerdings maximal für zwölf Monate Pflegekarenzgeld –, ihre Arbeitszeit reduzieren oder ihre Arbeit sogar ganz aufgeben. Sie verlieren dadurch jetzt an Einkommen und später an Pension.
Aus drei Gründen wird sich dieser Anteil reduzieren, den die Angehörigen jetzt (unbezahlt) leisten. Erstens erhöht sich glücklicherweise allgemein die Erwerbstätigkeit von Frauen. Zweitens steht demografisch eine immer größer werdende Gruppe Älterer immer weniger jüngeren Menschen gegenüber. Und drittens liegen Ein-Personen-Haushalte im Trend, und einen wesentlichen Teil der pflegenden Angehörigen stellen die Partner:innen der Pflegegeldbezieher:innen.
Pflexit: Jede zweite Pflegekraft denkt ans Aufhören
Zehntausende neue Pflegekräfte werden also gebraucht, derzeit überlegt aber beinahe jede:r zweite aktive Pflegekraft, den Beruf aufzugeben. Das zeigt eine Studie des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbands. Am häufigsten denken Beschäftigte in Pflegeheimen und Krankenhäusern über einen Berufsausstieg nach. Weil in Deutschland Ähnliches beobachtet werden kann, haben deutsche Medien diesen Trend „Pflexit“ getauft.
Die Gründe für den „Pflexit“ liegen auf der Hand. Das Einkommen ist mit durchschnittlich 1.500 Euro bis 1.700 Euro netto im Monat beschämend niedrig. Es fehlt an Wertschätzung und Anerkennung. Der chronische Personalmangel verhindert jegliche Erholungsphasen, und das Arbeitstempo, der Zeitdruck und das Stresslevel sind auf Dauer zu hoch.
Pflegepersonal leidet körperlich und psychisch
Eine Befragung der Initiative „Offensive Gesundheit“ (eine Kooperation der Gewerkschaften vida, GPA, GÖD und younion, des ÖGB, der AK Wien und der Ärztekammer Wien) zeigt zudem, dass sechs von zehn Beschäftigten regelmäßig mehr Arbeit leisten müssen als vereinbart. Insgesamt haben sich mit der Covid-19-Pandemie die Arbeitsbedingungen deutlich verschlechtert. Der Applaus war nett gemeint, ersetzt aber weder Ruhe- noch Freizeit.
Die Beschäftigten leiden darunter körperlich und psychisch. Zwei Drittel der Beschäftigten berichten von niedergeschlagener Stimmung, ein Viertel beklagt Angstattacken. Jede:r zweite Beschäftigte ist von Schlafproblemen, Vergesslichkeit und Konzentrationsproblemen betroffen. Unterm Strich rechnen zwei Drittel der Beschäftigten nicht damit, ihren Beruf bis zur Pension ausüben zu können, sagt eine Sonderauswertung des Arbeitsklimaindex der Arbeiterkammer Oberösterreich.
„Warm, satt und sauber“ gefährdet Bewohner:innen in Pflegeheimen
Besonders bitter ist, dass mehr als zwei Drittel aller Tätigkeiten in Pflegeheimen mit Kommunikation verbunden sind. Da geht es schlicht um die Beziehung zwischen Bewohner:innen und Pfleger:innen. Gerade bei demenzkranken Bewohner:innen steht und fällt damit die Bereitschaft, Hilfe überhaupt anzunehmen. Oder es wird verhindert, dass sie aggressives bis gewalttätiges Verhalten zeigen.
Leider bekommt das Personal keine konkreten Vorgaben und Ressourcen für diese emotionale und soziale Arbeit. Die Pflegekräfte beklagen, dass sich ihre Arbeit auf „warm, satt und sauber“ reduziert. Wie vor hundert Jahren. Bereits 2017 wies die Volksanwaltschaft in einem Bericht darauf hin, dass fehlende Beziehungsarbeit das Wohl der Bewohner:innen in Pflegeheimen gefährde.
Den Pflexit verhindern
Diverse Reformpapiere mit insgesamt mehr Lösungs- und Verbesserungsvorschlägen, als es Pflegegeldbezieher:innen gibt, wurden von den Regierungsverantwortlichen bisher zur Kenntnis genommen und in die Rundablage gelegt. Jetzt laufen Zeit und Beschäftigte davon.
Für das Budget 2022 hat die Arbeiterkammer ein Sofortmaßnahmenpaket im Umfang von 1,75 Milliarden Euro gegen die Pflegekrise vorgeschlagen. Darin sind unter anderem mehr Personal für die Pflegeheime vorgesehen, psychosoziale Beratung für Angehörige und Verbesserungen für die mobilen Dienste. In Summe gibt Österreich 1,5 Prozent des BIP für Pflege- und Betreuungsleistungen aus. Da ist ordentlich Luft nach oben. Norwegen und Schweden geben für ihre Senior:innen doppelt so viel aus. Als Gegenfinanzierung bieten sich die (wiedereingeführten) Erbschafts- und Vermögenssteuern an.
Pflegeberuf attraktiver machen
Letztendlich aber muss Langzeitpflege als Arbeitsplatz attraktiver gemacht werden. Arbeitsdruck runter, Löhne rauf. Erich Fenninger, Direktor der Volkshilfe Österreich, ließ Anfang dieses Jahres mit einer Forderung aufhorchen. Er verlangt 500 Euro mehr für Pflegekräfte, und das nicht einmalig als Bonus, sondern dauerhaft. Das Gehaltsniveau würde mit diesem Befreiungsschlag um 15 bis 20 Prozent steigen.
Dr. Ulrike Famira-Mühlberger @ufm2045, die stellvertretende Direktorin des @wifoat, hat uns im Interview unter anderem erklärt, warum es gut ist, dass es keine große Pflegereform geben wird. https://t.co/HfWvDUtHN6
— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@AundWMagazin) April 13, 2022
Wie wichtig uns unsere Ältesten und Liebsten sind, beteuern eigentlich alle Parteien. Am politischen Willen sollte das also nicht scheitern. Und Geld war in anderen Krisen plötzlich auch genug da. Um die zentralen Probleme anzugehen, hat der ÖGB einen 10-Punkte-Plan für Österreich herausgegeben.