Egalitär statt egal: Natascha Strobl im Interview

Porträt von Natascha Strobl im Interview
Wenn der Bundeskanzler einen McDonald's-Hamburger empfiehlt: Natascha Strobl analysiert in den sozialen Medien aktuelle Diskurse und zeigt die politischen Strategien dahinter auf. | © Markus Zahradnik
Angriffe auf den Sozialstaat stehen wieder verstärkt im Fokus der politischen Diskussion. Dies geschieht nicht zufällig. Die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl analysiert im Interview, wer den Sozialstaat angreift und welche Absichten dahinterstecken.

Diesen Sommer machte Bundeskanzler Karl Nehammer in einem Video von sich reden, das ihn mit Parteifreund:innen in Hallein zeigte: In diesem Kreis empörte er sich über die Armutsdebatte in Österreich, prangerte die hohe Teilzeitquote vor allem von Frauen und hohe Lohnabschlüsse an. „Wenn ich zu wenig Geld habe, gehe ich mehr arbeiten. Weil dann muss ich ja mehr Geld haben“, sagte der Kanzler und empfahl Familien mit Geldsorgen einen Hamburger bei McDonald’s als günstige warme Mahlzeit. Solche Situationen sind für Natascha Strobl Anlass zur Analyse. Mit ihren Büchern zu sozialen Fragen sowie zur neuen Rechten begeistert die Politikwissenschaftlerin seit Jahren ein breites Publikum. In sozialen Medien, aber auch für das Momentum Institut, liefert sie Analysen zu aktuellen Diskursen und zerlegt nachvollziehbar die politischen Strategien hinter solchen Aussagen. Natascha Strobl erklärt im Interview das Standing des Sozialstaats und warum es diesen zu verteidigen gilt.

Zur Person
NATASCHA STROBL, geb. 1985 in Wien, ist Politikwissenschafterin und setzt sich in ihrer wissenschaftlichen und publizistischen Arbeit mit sozialen Fragen sowie dem Erstarken von Konservativismus und rechtem Gedankengut auseinander. Zuletzt erschienen ihre Bücher „Solidarität“ (Verlag Kremayr & Scheriau, 2023), „Klassenkampf von oben“ (gemeinsam mit Michael Mazohl, ÖGB-Verlag, 2021) und „Radikalisierter Konservatismus“ (Verlag Suhrkamp, 2021).

Arbeit&Wirtschaft: Der Sozialstaat hat viele wirtschaftlich gut durch die COVID-Pandemie getragen, einzelne Personen wie auch Unternehmen. Dennoch kommt nun wieder vermehrt Kritik an einem, wie es gern heißt, Nanny-Staat. Wer sind diese Kritiker:innen?

Natascha Strobl: Da gibt es eine ganze Infrastruktur, die gegen den Sozialstaat agiert. Das sind vor allem Thinktanks, die sich gerne als wissenschaftliche Institutionen tarnen. Diese Einrichtungen gibt es seit mehr als 20 Jahren, und deren Botschaften werden dann von verschiedenen politischen Akteur:innen weitergetragen. So hat sich ein neoliberaler Mainstream eingeschlichen.

Welche Einrichtungen gehören da dazu?

Ein Beispiel ist hier die Agenda Austria. Da gehören aber auch konservative und liberale Zeitungen dazu. Deren Tenor ist: Es braucht Eigenverantwortung. Statt Verantwortung füreinander zu übernehmen, trage ich nun die Verantwortung für mich selbst. Damit gilt das Solidarprinzip des Sozialstaats nicht mehr.

Porträt von Natascha Strobl im Interview
Neoliberale Thinktanks und konservative Zeitungen fordern Eigenverantwortung statt Verantwortung durch den Sozialstaat – für Natascha Strobl ein gefährlicher Gedanke, denn damit gelte das Solidarprinzip des Sozialstaats nicht mehr. | © Markus Zahradnik

Wie wird hier konkret gegen den Sozialstaat argumentiert?

In der neoliberalen Perspektive ist der Sozialstaat ein Bürokratiemonster, das deshalb schädlich ist, weil es die Leute davon abhält, sich selbst für sich stark zu machen und etwas zu erreichen. Die Idee dahinter: Jede:r kann etwas werden, man muss es nur wollen. Aber nicht alle haben dieselben Startbedingungen. Wie wir auch wissen, hat Vermögen wenig mit Leistung und oft mit Netzwerken zu tun. Dementsprechend lässt sich diese Grundannahme schnell dekonstruieren. Wer sich genügend anstrengt, wird reich – das stimmt so eben nicht.

Welche Muster sind bei solchen Angriffen auf den Sozialstaat erkennbar?

Es geht so gut wie immer um Arbeitslose – dabei ist die Arbeitslosenunterstützung eine Versicherungsleistung und keine Sozialstaatsleistung. Es gibt in regelmäßigen Abständen Gastronom:innen oder Hoteliers, die in Medien beklagen, dass sie keine Mitarbeiter:innen finden, und das wird dann mit einer moralischen Anrufung verbunden, im Sinn von: Die Jugend von heute will nicht mehr arbeiten. Das wird unhinterfragt publiziert, ohne nachzuprüfen, wie niedrig Gehälter oder wie schlecht die Arbeitsbedingungen sind. Darauf folgen pseudowissenschaftliche Daten, die untermauern sollen, dass es einen Abbau der sozialstaatlichen Leistungen braucht, damit Menschen Anreize haben, Arbeit anzunehmen. Und das ist nichts, was sich organisch entwickelt, sondern da ist ein politisches Interesse dahinter, dass dieses Thema dann so diskutiert wird, wie es diskutiert wird.

„Wer sich genügend anstrengt, wird reich – das stimmt so nicht.” | © Markus Zahradnik

Der Einwand, der immer als Erstes kommt, ist: Das ist ja alles nicht finanzierbar. Doch was wollen jene, die gegen einen starken Sozialstaat auftreten, eigentlich mit dessen Abbau erreichen?

Das Narrativ ist, dass dann Unmengen von Geld frei werden. Dabei werden die negativen Effekte eines Abbaus des Sozialstaats aber nicht eingerechnet, beispielsweise dass es weniger Mittel für gesundheitliche Prävention gibt oder längere Arbeitszeiten bewirken, dass Menschen krank werden und früher in Pension gehen müssen. Mit solchen Annahmen werden Menschen also für dumm verkauft. Das ist das eine. Das andere ist tatsächlich, dass man von so einem neoliberalen Utopia in einem Pseudo-Dubai träumt und glaubt, der Motor der Veränderung liege bei Manager:innen und Start-ups und diesen müsse man daher das Leben möglichst leicht machen. Das ist zynisch.

Konservative inszenieren sich gerne als christlich-sozial, Rechte als volksnah und volksfreundlich. Beides würde durch einen starken Sozialstaat unterstützt. Wie passen hier Image und politische Forderungen zusammen?

Das Interessante ist hier ja tatsächlich, dass es auch von konservativer Seite her eine lange Tradition gibt, den Sozialstaat zu schützen. Davon hat sich nur in Teilen der Kirchen noch etwas erhalten. In den konservativen Parteien zählt nur mehr das liberale Dogma. Der Neoliberalismus hat aber auch den Volksgemeinschaftsgedanken der Rechten abgelöst und selbst linke sozialdemokratische Kreise durchdrungen, wenn auch nicht so stark wie die Kreise der Rechten und Konservativen. Wenn man sich die Rechte anschaut, stand da allerdings immer schon der sozialdarwinistische Gedanke im Mittelpunkt – wer nichts leistet, kann auch nicht Teil der Volksgemeinschaft sein.

Je größer die Gefahr ist zu fallen, desto mehr
werden die Ellenbogen ausgefahren, um ja nicht abzurutschen.

Natascha Strobl, Politikwissenschaftlerin

Almosen versus Rechtsanspruch auf eine gesicherte Existenz von der Geburt bis zum Tod: Wo auf dieser Skala befindet sich Österreich derzeit?

Global gesehen steht Österreich gut da. Aber der Sozialstaat hat in den vergangenen Jahren doch gelitten. Die Zerschlagung der Sozialversicherung ist problematisch. Die Geschlechterungerechtigkeit ist ein ganz großes Problem, da sind skandinavische Länder viel weiter. Mit dem hiesigen Kindergeld auszukommen ist zum Beispiel schwer, wenn man sich vom Partner trennen will. Auch bei der Kinderarmut gibt es in Österreich noch viel zu tun. Und alles, was es im Unterschied zu anderen Ländern gibt, muss eben gegen Angriffe verteidigt werden.

Woran denken Sie da konkret?

Bei aller berechtigten Kritik am Gesundheitssystem: Es gibt keine Ambulanzgebühren, und man muss nicht bei jedem Arztbesuch etwas zahlen. Die Arbeitslosenversicherung garantiert, dass man nicht gleich ins Bodenlose fällt. Das sind Dinge, die man verteidigen muss.

Angegriffen wird aber nicht nur der Sozialstaat an sich, sondern auch Institutionen, die für ihn eintreten, wie etwa die Arbeiterkammer. Wer steht hinter diesen Attacken?

Es ist ja interessant: Es geht nie um die Rechtsanwaltskammer, die Wirtschaftskammer oder die Landwirtschaftskammer. Es geht immer um die Organisation, die die Interessen von Arbeitnehmer:innen vertritt: die Arbeiterkammer. Warum? Weil hier Millionen Menschen organisiert sind. Das bedeutet auch politische Macht. Das zu sprengen würde bedeuten, dass das Kapital gegenüber den Arbeitenden unheimlich an Macht gewinnt. Dementsprechend stehen hier auch die Interessen des Kapitals dahinter. Man will nicht, dass sich die Menschen, die es sich selbst nicht richten können, zusammentun. Jede bzw. jeder für sich alleine wäre in einer schwächeren Position. Da geht es auch um die vielen Leistungen, die die Arbeiterkammer anbietet, die Beratungen, aber auch die Vertretung vor dem Arbeitsgericht, aber auch die Vertretung vor dem Arbeitsgericht. Diese Rechtsvertretung könnten sich die wenigsten leisten. Die paar Euro, die hier jeder an AK-Beitrag zahlt, bekommt man im Fall des Falles ja hundertfach zurück. Dass diese Angriffe ins Leere gehen, zeigen aber die konstant hohen Zustimmungswerte zur Arbeiterkammer.

„Global gesehen steht Österreich gut da. Aber der Sozialstaat hat in den vergangenen Jahren doch gelitten”, sagt Natascha Strobl im Interview. | © Markus Zahradnik

Wem würde die Schwächung von Institutionen wie Arbeiterkammer und Gewerkschaften nützen?

Ganz klar der Kapitalseite. Wenn man nicht mit dem ÖGB, sondern kleinen privaten Gewerkschaften verhandelt, die immer nur ein paar Leute vertreten, kann man diese leichter gegeneinander ausspielen. Es ist wichtig, dass es diesen einen großen Block gibt, der verhandelt. Es ist daher nicht überraschend, dass der Versuch, den ÖGB oder die AK zu zerschlagen, immer Priorität hatte – sowohl im Faschismus als auch im Zug des neoliberalen Putsches. Da sind die Gewerkschaften immer das große Gegenüber.

Mit solchen Kampagnen geht auch immer der Versuch einer Spaltung einher. Wer profitiert von einer potenziellen Spaltung, vom Ausspielen verschiedener Gruppen?

Es profitieren die, die keine demokratische Masse brauchen, sondern die Partikularinteressen vertreten, die demokratisch eigentlich gar nicht durchzubringen sind, weil sie keine Mehrheiten bekommen würden. Je mehr man die Gesellschaft fragmentiert, umso schwieriger ist es für die:den Einzelne:n, alles zu überblicken, und umso mehr bleiben Hilflosigkeit und Ohnmacht. Und genau das sind die gesellschaftspolitischen Verwerfungen des Neoliberalismus. Als Einzelne:r ist man überwältigt und weiß nicht mehr, ob es überhaupt noch einen Sinn hat, dagegen anzukämpfen und sich mit anderen zusammenzutun. Das ist im Ergebnis zutiefst antidemokratisch und führt zu Kämpfen am Arbeitsplatz oder sonst wo. Von Vereinzelung profitieren jene, die Wirtschaftsinteressen durchbringen wollen, also die Kapitalseite. Sie machen den Einzelnen Angst und können sie mit Emotionen überwältigen. Da sind wir dann auch bei der extremen Rechten. Ihnen geht es um Stimmenmaximierung und Macht.

Von Vereinzelung profitieren jene, die Wirtschaftsinteressen durchbringen wollen, also die Kapitalseite. Sie machen den Einzelnen Angst und können sie mit Emotionen überwältigen, meint Natascha Strobl. | © Markus Zahradnik

Warum kommt die Rechte trotz solcher Strategien zu vielen Stimmen?

Während die demokratische Lösung etwas ist, wo ich mich bewusst für etwas entscheiden kann, wo ich bewusst an etwas teilnehmen kann, werde ich durch die extreme Rechte von Angst überwältigt und schließe mich einer Masse an. Diese vermeintlich diskriminierte Masse ist dann der Mob, der um sich schlägt und nach einem Sündenbock sucht. Die extreme Rechte braucht die Menschen in genau diesem Zustand. Aber das ist demokratiezersetzend. Warum Menschen dennoch darauf anspringen? Das sind psychologische Mechanismen, die dann soziale Dynamiken bewirken.

Das Gegenkonzept lautet Solidarität. Doch der Begriff wird in konservativen, aber auch liberalen und rechten Kreisen wie ein Synonym für Sozialismus oder gar Kommunismus verwendet. Warum ist das so?

Weil man das Prinzip lächerlich machen will. Der Begriff wird als antiquiert hingestellt, das klinge so nach 19. Jahrhundert und Maschinenstürmern. Solidarität ist nicht einfach nur Altruismus. Solidarität hat etwas mit Gegenseitigkeit zu tun: Ich helfe anderen, aber auch mir wird geholfen. Und ich finde, es ist ein legitimer Gedanke zu sagen, ich schließe mich an, weil ich abgesichert sein will. Das ist Unterstützung auf Augenhöhe – und der Unterschied zum Charity-Prinzip.

Inwiefern würden von einer solidarischen Gesellschaft alle profitieren?

Egalitäre Gesellschaften bewirken auch, dass Menschen weniger Abstiegsängste haben, auch vermögende Menschen. Je größer die Gefahr ist zu fallen, desto mehr werden die Ellenbogen ausgefahren, um ja nicht abzurutschen. Wenn aber alles sanft und egalitär ist, tue ich mich auch nicht schwer, mir einmal eine Auszeit zu nehmen. Dann kann ich auch eine Zeit lang arbeitslos sein und mir in Ruhe einen neuen Arbeitsplatz suchen. Wenn ich bei so einer Entscheidung aber Angst habe zu fallen, kann das auch krank machen, und man brennt aus. Dann bleiben Menschen unglücklich in ihrem Job, machen diesen eher schlecht und sehen jede andere Person als Konkurrenz. Und auch Leute, die ganz oben sind, müssen immer Angst haben, dass die unten irgendwann mit Fackeln und Heugabeln vor der Tür stehen. Je egalitärer eine Gesellschaft ist, umso besser ist es also für alle: Dann kann zum Beispiel auch jeder sorgenfrei öffentliche Verkehrsmittel nutzen, weil niemand Angst haben muss, für eine Uhr oder eine Tasche abgestochen zu werden. Davon würden auch sehr reiche Menschen profitieren.

Stichwort Wohlhabende: Vermögenssteuern sind ebenso ein Reizwort wie Solidarität. Warum wären diese aber sinnvoll?

Zuerst einmal: Es geht nicht um die ein bisschen Vermögenden. Es geht um die, die unvorstellbar reich sind. Die haben Millionen, natürlich diversifiziert und angelegt in verschiedensten Finanzprodukten, und davon soll ein bisschen abgeschöpft werden. Das sehen Überreiche vielleicht, wenn sie ihr Portfolio öffnen. Aber das bedeutet nicht, dass ihr Lebensstil eingeschränkt wird. Es geht eben nicht um die Menschen, die ein 600.000-Euro-Haus haben. Vermögenssteuern würden Mitteln lukrieren, die der Gemeinschaft zugutekommen. Über die genaue Verteilung müsste demokratisch, also vom Parlament entschieden werden. Ich denke da an Bereiche wie soziale Absicherung, Ausbau von Infrastruktur, den Kampf gegen den Klimawandel.

& Podcast

Mehr zum Thema Reichtum gibt es in der passenden Folge des Podcasts „Klassenkampf von oben“, in dem sich Michael Mazohl und Natascha Strobl dem Komplex ganzheitlich annehmen. Können wir alle durch Arbeit reich werden, wenn wir nur wollen? Wieso sind Vermögen so ungleich verteilt? Welche Rolle spielen Erbschaften und warum werden diese leistungslosen Einkommen nicht besteuert? Und ist die „Trickle Down Economy“ am Ende nur ein Trick?

Wer noch mehr erfahren will: Das Buch „Klassenkampf von oben” ist im ÖGB Verlag erschienen und kann hier bestellt werden.

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Über den/die Autor:in

Alexia Weiss

Alexia Weiss, geboren 1971 in Wien, Journalistin und Autorin. Germanistikstudium und Journalismusausbildung an der Universität Wien. Seit 1993 journalistisch tätig, u.a. als Redakteurin der Austria Presse Agentur. Ab 2007 freie Journalistin. Aktuell schreibt sie für das jüdische Magazin WINA sowie für gewerkschaftliche Medien wie die KOMPETENZ der GPA-djp oder die Gesunde Arbeit. 2022 erschien ihr bisher letztes Buch "Zerschlagt das Schulsystem ... und baut es neu!" (Verlag Kremayr & Scheriau).

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