Produktivität und Löhne: Die große Abkoppelung

Produktivität und Löhne: Die große Abkoppelung
Illustration (C) Miriam Mone
In den vergangenen zwanzig Jahren blieb die Einkommensentwicklung hinter Produktivitätszuwachs und Wirtschaftswachstum zurück. Ein gutes Argument für Arbeitszeitverkürzung.
Die goldene Gerechtigkeitsregel in einem Wohlfahrts-Kapitalismus ist eigentlich ganz einfach: Das Wachstum der Produktivität und das Wirtschaftswachstum müssen an die breite Bevölkerung weitergegeben werden – und zwar in Form von Löhnen. Entweder in Form von höheren Löhnen für die Beschäftigten oder gleichen Löhnen für mehr Beschäftigte, etwa in Form von Arbeitszeitverkürzung. Und das ist nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit, sondern auch entscheidend für die langfristige Prosperität: Denn irgendwer muss ja den Krempel kaufen, den wir – „produktiver“ – produzieren. Ein höherer Güterausstoß bei stagnierender Massenkaufkraft: Das kann nicht sehr lange gut gehen.

Seit mindestens zwanzig Jahren sind aber in den meisten westlichen Industriestaaten diese Kurven auseinandergelaufen: Wir haben Wirtschaftswachstum, Produktivitätswachstum, aber die Masseneinkommen wachsen nicht mit. Auch im Jahr 2023 wird sich das laut Konjunkturprognose nicht ändern. Doch warum ist das eigentlich so?

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Wird wirklich alles immer produktiver?

Um uns einer Diagnose anzunähern, müssen wir erst einmal fragen, ob diese Grundannahme überhaupt stimmt. Und das ist gerade beim Faktor „Produktivität“ schwieriger, als man annehmen würde. Instinktiv würden wir annehmen, dass unsere Wirtschaft immer produktiver wird. Wir haben alle paar Jahre neue Computer und Smartphones, die ganz fantastische Dinge können. Grandiose Erfindungen werden gemacht. Die Logistik läuft dank Digitalisierung wie am Schnürchen. In den Büros machen simple Computerprogramme die Arbeit, für die früher Dutzende Menschen Zettel ausgefüllt haben. In den Fabrikhallen stehen Roboter und Automaten herum, die den Menschen die Arbeit abnehmen oder ihre Arbeit beschleunigen.

Leider ist Produktivität relativ schwer zu messen. Theoretisch ist das einfach: Output pro Mitarbeiter*in pro Zeiteinheit.

Aber leider ist Produktivität relativ schwer zu messen. Theoretisch ist das einfach: Output pro Mitarbeiter*in pro Zeiteinheit. In der Industrie heißt das: Wenn zehn Arbeiter*innen in zwei Stunden ein Auto montieren und im nächsten Jahr schaffen sie in gleicher Zeit zwei Autos, dann ist die Produktivität sehr gestiegen.

Schon schwieriger ist das bei den Dienstleistungsberufen: Eine Kellnerin wird ihre Produktivität schwerer steigern können, genauso ein Altenpfleger. Und in manchen Branchen sind diese Zahlen gänzlich undurchsichtig. Berühmtes Beispiel: Die USA steigerten in den 2000er-Jahren ihre Produktivität immens. Aber ein Großteil dieses Produktivitätswachstums ergab sich aus der Finanzspekulation: Es gab einfach mehr Deals pro Tag pro Finanzjongleur. Dieser Produktivitätszuwachs war aber schädlich und brachte der Gesellschaft keine Vorteile.

Produktivität: Gar nicht so einfach zu messen

In Krisen sinkt die Produktivität automatisch. Nicht, weil die Leute langsamer werden – aber wenn man mit relativ stabiler Belegschaft weniger absetzt und daher auch weniger produziert, dann ist der Output pro Mitarbeiter*in und Zeiteinheit logischerweise niedriger. Auch das macht die Produktivitätsmessung schwierig.

Der US-amerikanische Ökonom Robert Gordon hat die These aufgestellt, dass beim Produktivitätswachstum immer weniger weitergeht. Die meisten Produktivitätszuwächse durch Automatisierung und Digitalisierung sind längst erzielt. Die Innovationen, die wir täglich erleben – tollere Smartphones, lustigere Apps – sind mehr Entertainment, als dass sie sehr viel bringen. Und je höher die Produktivität, umso schwieriger ist signifikantes Wachstum.

Je höher die Produktivität, umso schwieriger ist signifikantes Wachstum.

Gordon illustriert das an einem schönen Beispiel: 1850 bewegten sich die meisten Menschen mit Pferdekutschen voran – wenn überhaupt. Höchstgeschwindigkeit: zehn Kilometer pro Stunde. Dann kam die Eisenbahn, dann das Flugzeug. Hundert Jahre später flog die Boeing 747 mit 900 Stundenkilometern. Aber sehr viel schneller geht es dann nicht mehr. Irgendwann bringt selbst die radikalste Innovation nur mehr ein paar Promille.

Das sogenannte zweite Maschinenzeitalter

Es kommt aber noch etwas hinzu, auf das viele Forscher*innen, allen voran Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee vom Massachusetts Institute of Technology, hingewiesen haben. Sie haben eine „große Abkoppelung“ von Löhnen und Wachstum seit der Jahrtausendwende beobachtet und führen das auf die Maschinisierung zurück. Kurz gesagt: Die Automatisierung – das „zweite Maschinenzeitalter“ – führt zu Jobverlusten in der Industrie. Arbeitsplätze gehen verloren. Neue Arbeitsplätze entstehen in der Dienstleistungsbranche, aber da sind die Löhne niedriger.

Der Strukturwandel führt also erstmals in der Geschichte dazu, dass gut bezahlte Jobs verloren gehen und schlecht bezahlte entstehen.

Der Strukturwandel führt also erstmals in der Geschichte dazu, dass gut bezahlte Jobs verloren gehen und schlecht bezahlte entstehen. Das war in der Industriellen Revolution anders: Landarbeiter*innen wurden arbeitslos, dafür fanden aber sehr viele Menschen Beschäftigung im produzierenden Gewerbe – in Fabriken und Büros –, wo höhere Löhne bezahlt wurden.

Deswegen fällt die Einkommensentwicklung hinter Wachstumsraten und Produktivitätszuwachs zurück. Denn selbst in den gut bezahlten Branchen gehen nicht nur Jobs verloren, es stagnieren auch die Einkommen: weil gerade sie es sind, die im internationalen Standortwettbewerb stehen, mit Konkurrenz, die billiger produziert. Lkw-Multis können ihre Produktion nach Polen verlegen – das kann das Massageinstitut natürlich nicht. Dienstleister haben niedrigere Lohnniveaus, sind aber ortsgebunden – im Unterschied zur Industrie.

Was herauskommt, wenn Einkommen nicht mehr mithalten können

Bei aller Komplexität ist eines aber klar: Unsere Ökonomien haben weiter Produktivitätszuwächse und, über einen längeren Zeitverlauf betrachtet, auch signifikante Wachstumsraten – und die Einkommensentwicklung hält damit nicht mehr mit. Das ist eine permanente Umverteilung von unten nach oben. Kräftigere Lohnzuwächse oder Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn sind daher nicht nur ein Imperativ der Gerechtigkeit, sondern auch wichtig für eine stabile Prosperität – gerade dann, wenn man will, dass es nach der Corona-Krise einigermaßen schnell wieder aufwärtsgeht.

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Über den/die Autor:in

Robert Misik

Robert Misik ist Journalist, Ausstellungsmacher und Buchautor. Jüngste Buchveröffentlichung: "Die falschen Freunde der einfachen Leute" (Suhrkamp-Verlag, 2020). Er kuratierte die Ausstellung "Arbeit ist unsichtbar" am Museum Arbeitswelt in Steyr. Für seine publizistische Tätigkeit ist er mit dem Staatspreis für Kulturpublizistik ausgezeichnet, 2019 erhielt er den Preis für Wirtschaftspublizistik der John Maynard Keynes Gesellschaft.

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