Langer Atem im Kampf gegen Bildungshürden

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Der durchschnittliche Bildungsstandard ist während der letzten Jahrzehnte zwar besser geworden, doch das bedeutet noch lange nicht, dass unser Bildungssystem auch gerecht ist. Brigitte Pellar wirft einen Blick zurück auf den langatmigen Kampf gegen Bildungshürden.

Gegen gläserne Decken im Bildungssystem – Vielfalt von Bildungswegen

Der Abbau von Diskriminierung im Schulbereich ist nicht nur Voraussetzung für einen breiten Zugang zu Hochschulstudien, sondern auch für am Arbeitsmarkt gefragte Qualifikationen insgesamt. Eine der zentralen Maßnahmen der Bildungsoffensive der Kreisky-Jahre war deshalb der Ausbau von „maturaführenden“ Bildungsangeboten außerhalb des achtjährigen Gymnasiums (AHS-Langform). Dazu gehörte die Errichtung von Oberstufengymnasien in den Bezirksstädten, vor allem aber der Ausbau des Angebots an Berufsbildenden Höheren Schulen (BHS) wie Handelsakademien, Höheren Technischen Lehranstalten oder Schulen für wirtschaftliche Berufe. Sie bieten, und das ist in dieser Form weltweit einmalig, vollen Zugang zum Hochschulsektor und gleichzeitig eine sehr gute berufliche Qualifikation. Die Aussicht, nach der Matura eine freiere Wahl zwischen gefragter Berufstätigkeit und Studium zu haben als nach der AHS-Matura, sollte auch Familien mit kleinem Haushaltsbudget die Entscheidung für einen längeren Schulbesuch in der Oberstufe erleichtern. Die Rechnung ging auf, wie aus der Bildungsstatistik 2019 ersichtlich ist. Unter den höchsten Bildungsabschlüssen der Wohnbevölkerung sind 18,5 BHS-Absolvent:innen ausgewiesen und damit fast die Hälfte aller Maturant:innen.

In der Kreisky-Ära wurde mit dem Ausbau des Angebots an berufsbildenden Schulen mit Matura begonnen. Sie bieten, und das ist in dieser Form weltweit einmalig, vollen Zugang zum Hochschulsektor und gleichzeitig eine sehr gute berufliche Qualifikation.

Für AK und ÖGB besonders wichtig war die Vernetzung mit den Fachschulen, um durch den Umstieg in eine BHS mit verhältnismäßig geringem Zeitverlust den Weg zur Matura offenzuhalten. Das berufsbildende Schulwesen hat aber noch eine weitere Funktion, um Ausbildungschancen zu sichern: Es hilft dabei, das schwankende Lehrstellenangebot auszugleichen.

Siemens-Lehrlinge in den 1950er Jahren. Schon vor 1990 begannen fast alle großen Produktionsbetriebe ihre Lehrwerkstätten zu verkleinern und dann abzuschaffen. Das bedeutete den Verlust von Tausenden Lehrplätzen mit hoher Ausbildungsqualität. I © Österreichische Siemens AG, Archiv für Geschichte.

Während der 1990er Jahre ging des Lehrstellenangebot aber in einem so großen Ausmaß zurück, dass das Bereitstellen von Fachschulen als Alternative aus vielen Gründen nicht mehr ausreichte. Auch die finanzielle Unterstützung von Lehrbetrieben, die während der Wirtschaftskrise der frühen 1980er Jahre Ausbildungsplätze gesichert hatte, konnte das Problem nicht mehr lösen. Deshalb arbeiteten ÖGB und AK das Konzepte für ein „Auffangnetz“ aus, das Jugendlichen, die vergeblich eine Lehrstelle suchen, eine überbetriebliche Ausbildungschance bieten sollte. Gleichzeitig machten sie Druck, bis 1997 auf dieser Grundlage das „Jugendausbildungssicherungsgesetz“ beschlossen wurde. 2008 folgte die gesetzliche Ausbildungsgarantie für junge Menschen bis 25, verbunden mit der Möglichkeit, die gesamte Lehrausbildung in überbetrieblicher Form zu absolvieren.

Schließlich folgte 2016 die Ausbildungspflicht bis 18, um Jugendliche, die von sich aus keines der Angebote annehmen, nicht zu verlieren. Wie wichtig das von ÖGB und AK vor einem Vierteljahrhundert gestartete „Auffangnetz“ gerade in Krisenzeiten ist, belegt die Statistik der Wirtschaftskammer für das Corona-Jahr 2020. Im ersten Pandemie-Jahr hätten ohne die überbetriebliche Lehrausbildung um 8,2 Prozent weniger junge Leute einen Lehrplatz gefunden als 2019. So waren es nur 5,6 Prozent, weil die überbetriebliche Ausbildung um 20 Prozent mehr Lehranfänger:innen aufnahm. Trotzdem gaben die Regierungsparteien dem Druck der Arbeitgeber:innenvertretungen nach, verknüpften die überbetriebliche verpflichtend mit der betrieblichen Ebene und wollen das überbetriebliche Angebot zugunsten der Betriebsförderung so weit wie möglich einschränken.

Seit 1997 erreichten ÖGB und AK die Ausbildungsgarantie für junge Menschen bis 25 mit einer überbetrieblichen Lehrausbildung und eine Ausbildungspflicht bis 18. Die Bedeutung dieses „Auffangnetzes“ zeigt sich wieder während der Pandemie. Trotzdem setzt die Regierung aktuell auf das Aushungern der überbetrieblichen Angebote zugunsten der Betriebsförderung.

Der ÖGB und vor allem die Gewerkschaftsjugend forderten seit Beginn der Zweiten Republik das Herauslösen der Lehrausbildung aus dem Gewerberecht und die Anerkennung der Lehre als Teil des Bildungssystems. Schon in der Ersten Republik verlangten Gewerkschafter:innen außerdem die Ausweitung der Berufsschulzeit. Das konnte bis heute nicht in vollem Umfang erreicht werden, aber ein entscheidender Schritt gelang 1969 mit der Beschlussfassung des Berufsausbildungsgesetzes. Die Ausweitung der Berufsschulzeit ließ dagegen von der ersten Forderung bis zur Verwirklichung 80 Jahre auf sich warten. 1995 wurde sie nach harten Auseinandersetzungen mit der Wirtschaftskammer bis zu einer Verfassungsklage mit der gesetzlichen Verankerung von Englisch, Deutsch und Politischer Bildung als Pflichtfächern an der Berufsschule eingeführt und im Schuljahr 1999/2000 erstmals für alle Lehrlinge verwirklicht.

Die erwähnte Anerkennung der Berufsausbildung beim Zugang zu den Fachhochschulen trug ebenfalls zur Aufwertung der Lehre im Bildungssystem bei, noch wichtiger war aber die Einführung der Berufsreifeprüfung (BRP) 1997 mit dem erklärten Ziel, die „Bildungssackgasse Lehre“ zu durchbrechen, auch dies eine Errungenschaft, die den Arbeitnehmer:innen-Interessenvertretungen zu verdanken ist. Der große Unterschied zur seit 1979 möglichen Studienberechtigungsprüfung war, dass sie den allgemeinen Hochschulzugang für Interessierte ohne Matura öffnete, nicht nur für spezielle Studienrichtungen. Die direkte Verbindung mit der Lehre gelang allerdings erst 2008 im zweiten Anlauf. Die angestrebte Integration der Vorbereitung in das Berufsschulangebot und damit in das öffentliche Bildungssystems lässt zwar noch immer auf sich warten, aber beim Modell „Lehre mit Matura“ ist die Vorbereitung kostenlos, wenn eine Teilprüfung schon während der Lehrzeit absolviert wird.

Die von ÖGB und AK 1997 durchgesetzte Berufsreifeprüfung durchbrach die „Sackgasse Lehre“ und machte den Bildungsweg „Lehre mit Matura“ möglich.

Die BRP erwies sich als Erfolgsprojekt, wenn der Anteil an Lehrabsolvent:innen im Vergleich zu den Fachschulabsolvent:innen auch nicht so hoch blieb wie im ersten Jahr nach der Einführung.

©AK Wien Bildung 2000.

Bis 2007 absolvierten über 12.000 Personen die Berufsreifeprüfung, und allein 2020 traten insgesamt rund 4.500 Personen an Schulen zu einer BRP-Prüfung an – die Prüfungen an den Erwachsenenbildungseinrichtungen sind in der Statistik nicht ausgewiesen. Was die „Lehre mit Matura“ betrifft, haben sich laut Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft (ibw) zwischen 2008 und 2019 etwa fünf Prozent der Lehrlinge auf die BRP-Matura vorbereitet und an die 5.000 von ihnen auch tatsächlich alle Prüfungen geschafft. Michael Sturm vom BFI Österreich, dem Dachverband der Berufsförderungsinstitute von AK und ÖGB, nach langjähriger Erfahrung: „Heute stellt die BRP das bedeutendste bildungspolitische Instrument des zweiten Bildungsweges dar.“

Bildung als Demokratiegrundlage

Wenn Gewerkschaft und Arbeiterkammer von Bildung sprechen, meinen sie nicht allein die Vermittlung von theoretischen und praktischen Kenntnissen, die das Leben verbessern und am Arbeitsmarkt gefragt sind. Franz Mrkvicka, bis 2000 Leiter des Bildungsbereichs der AK, fasste die Ziele der Interessenvertretungen der Arbeitnehmer:innen, wenn sie sich in Bildungspolitik einmischen, knapp zusammen: „Bildung muss eine dreifache Qualifizierung ermöglichen – für das Berufsleben, für das Leben in einer demokratischen Gesellschaft, für die persönliche Lebensbewältigung und Gestaltung.“

Erste Wahl von anerkannten Jugendvertrauensräten. 1973 erreichte der ÖGB, dass auch die Interessenvertretung der Jugendlichen in den Betrieben eine gesetzliche Grundlage erhielt. I ©ÖGB-Bildarchiv.

Ebenso sorgten ÖGB und AK dafür, dass die Berufsschulen vom Recht auf Schülervertretung nicht ausgeschlossen wurden.

Diese Position reihte sich in eine Tradition ein, die bei der freigewerkschaftlichen Bildungsarbeit der 1920er Jahre ihren Ausgang nahm. Richard Robert Wagner, der Organisator der ersten Wiener Gewerkschaftsschule, schrieb 1931 in „Arbeit&Wirtschaft“, als faschistischer Populismus die Demokratie zunehmend infrage stellte: „Die Arbeiter müssen vieles lernen, um aus Betriebs- und Staatsuntertanen demokratisch Mitwirkende in Betrieb und Gesellschaft zu werden. … [Sie müssen] verstehen, worum es jeden Tag geht, soll die Demokratie … nicht bloßer Schein, sondern wirkliche ‚Herrschaft des Volkes‘, Mitgestalten des öffentlichen Lebens … sein und nicht den demagogischen Angriffen faschistischer, volksverachtender Reaktionen erliegen.“

Die Arbeiter müssen vieles lernen, um aus Betriebs- und Staatsuntertanen demokratisch Mitwirkende in Betrieb und Gesellschaft zu werden.

Richard Robert Wagner, Organisator der ersten Wiener Gewerkschaftsschule, 1931

Was Arbeitnehmer:innen (und wie sie alle Bewohner:innen eines Landes) lernen müssen, um demokratiefit zu werden, definierte Hans Fellinger, Bildungsverantwortlicher der AK Wien in den 1960er Jahren, im AK-Jahrbuch 1963: „Bildungsarbeit als sozialer Auftrag … bedeutet gleichzeitig ‚Politik auf weiteste Sicht‘ durch Schulung und Erziehung der Arbeitnehmer zu selbständig denkenden Menschen, die objektiv kritisch urteilen können.“

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Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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