Arbeit&Wirtschaft: Wie kann man sich Arbeiter:innenproteste im Iran vorstellen?
Zep Kalb: Sie ähneln in mancher Hinsicht denen in Europa, doch der Staat spielt eine wichtigere Rolle, sowohl als Zielscheibe als auch als Vermittler. Streiks sind unüblich, viel eher kommt es vor, dass Arbeitnehmer:innen vor Regierungsgebäuden protestieren oder öffentliche Demonstrationen veranstalten. Das liegt daran, dass die Arbeiter:innen die Unterstützung des Staates – oder zumindest bestimmter staatlicher Akteure – als entscheidend für die Durchsetzung ihrer Forderungen ansehen.
Tatsächlich gibt es im Iran eine vergleichsweise hohe Zahl an Arbeiter:innenprotesten, deutlich mehr als in den meisten anderen Ländern des Nahen Ostens. Obwohl der Iran ein autoritärer Staat ist, sind solche Proteste aus mehreren Gründen möglich. Einerseits erhalten manche Proteste Unterstützung von Regimeakteuren, die damit eigene Interessen verfolgen – etwa um für ihre Organisationen höhere Haushaltsmittel zu sichern. Andererseits verfügen Arbeiter:innen über symbolische Macht innerhalb des iranischen Staates, der seine Legitimität auch auf der Wohlfahrt und dem Respekt für die arbeitenden Klassen aufgebaut hat.

Gibt es überhaupt unabhängige Gewerkschaften?
Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube, dass es im Iran keine unabhängigen Gewerkschaften gäbe. Zwar müssen alle Arbeitsorganisationen staatlich lizenziert sein, und viele Aktivist:innen erhalten keine Genehmigung, insbesondere wenn sie als regimekritisch gelten. Dennoch existieren mehr als 10.000 registrierte Arbeitsorganisationen: viele auf Betriebsebene, andere richten sich nach Regionen oder Branchen aus.
Diese Organisationen sind nicht per se machtlos. In den vergangenen Jahren konnten sie immer wieder soziale Forderungen durchsetzen, auch unter schwierigen Bedingungen. Arbeitskämpfe überschneiden sich oft mit anderen Bewegungen, etwa der „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung oder mit Forderungen ethnischer Minderheiten. Nur weil die Regierung Überwachung ausübt, heißt das nicht, dass diese Gruppen völlig kontrolliert werden. Sie finden Handlungsspielräume und nutzen sie.
Gerade prekäre Gruppen
sind oft besonders kämpferisch.
Zep Kalb, Soziologe
Wie ist der Arbeitsmarkt im Iran strukturiert?
Der Iran hat einen riesigen informellen Sektor. Zudem ist der öffentliche Dienst relativ klein: Nur etwa 15 Prozent der Beschäftigten sind direkt beim Staat angestellt. Sowohl im öffentlichen Dienst als auch im Privatsektor gibt es sehr viele befristete Verträge, Subunternehmen und indirekte Beschäftigungsverhältnisse.
Gerade diese prekären Gruppen sind oft besonders kämpferisch. Ein gutes Beispiel sind Lehrer:innen mit befristeten Verträgen, die für Gleichstellung mit fest angestellten Kolleg:innen eintreten. Ähnliche Proteste gab es in letzter Zeit auch bei Industriearbeiter:innen und LKW-Fahrer:innen.
Wie groß sind solche Proteste und geht es dabei auch um politische Forderungen?
Viele dieser Proteste sind landesweit und gut koordiniert, vor allem bei Berufsgruppen wie Lehrer:innen oder Pflegekräften. Sie fordern nicht nur bessere Arbeitsbedingungen und Löhne, sondern auch Versammlungsfreiheit oder die Freilassung inhaftierter Kolleg:innen. Die Grenzen zwischen sozialen und politischen Forderungen sind dabei oft fließend. Trotzdem haben sich einige dieser Gruppen beispielsweise während der „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung nicht aktiv beteiligt, was unter Aktivist:innen im Land durchaus kontrovers diskutiert wurde.
Warum kam es nicht zur gemeinsamen Mobilisierung?
Ich glaube, es ist ein Mix aus realpolitischen Zwängen und strategischem Kalkül. Auch in westlichen Demokratien – etwa während der „Black Lives Matter-Bewegung“ – gab es kaum flächendeckende Generalstreiks. Viele Menschen trennen Arbeit und Politik bewusst voneinander und in autoritären Staaten mit wirtschaftlichen Problemen ist das noch ausgeprägter. Die Angst vor Repression ist groß, der wirtschaftliche Druck hoch.
Außerdem agieren viele Arbeitsbewegungen sehr taktisch. Sie protestieren dann, wenn Aussicht auf konkrete Verbesserungen besteht. In den vergangenen Jahren konnten sie tatsächlich einige Erfolge erzielen, zum Beispiel bei der Anhebung des Mindestlohns oder bei spezifischen Verbesserungen für bestimmte Berufsgruppen. So erreichten Lehrer:innen im Jahr 2022 etwa, dass ihre Einstufung im öffentlichen Dienst an andere Bereiche des öffentlichen Dienstes angeglichen wurde. Auch die LKW-Fahrer:innen haben durch wiederholte Proteste Zugeständnisse erhalten. Es sind oft keine revolutionären Umbrüche, aber für die Betroffenen machen sie einen großen Unterschied.
Der Globale Rechtsindex 2025 des @ituc.bsky.social ist da – und das Fazit ist ernüchternd: In 148 von 151 Ländern gibt es keine Fortschritte bei den Rechten von Gewerkschaften. Gewinner dieses Stillstands ist u.a. das reichste Prozent. 👇
— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@aundwmagazin.bsky.social) 11. Juni 2025 um 17:00
Warum geht die Regierung in solchen Fällen auf die Forderungen ein?
Der geopolitische Druck durch ausländische Sanktionen und internationale Isolation spielt eine Rolle: Die Regierung versucht, gesellschaftliche Spannungen abzufedern, und Arbeitsproteste sind ein ständiger Stresstest für das System. Interessanterweise reagierten sowohl „moderate“ Regierungschefs wie Hassan Rohani (Anm. d. Red.: von 2013 bis 2021 Präsident des Irans) als auch Hardliner wie Ebrahim Raisi (Anm. d. Red.: von 2021 bis 2024 Präsident des Irans) ähnlich: Sie haben jeweils punktuelle Zugeständnisse gemacht, um größere Unruhen zu vermeiden. Die Arbeiter:innenproteste sind zwar weniger sichtbar im Ausland, aber intern sind sie oft wirksam.