Interview: „Nichts ist gottgegeben. Wir GewerkschafterInnen wissen das am besten“

Oliver Röpke im Interview
„Es fehlt uns aber die Möglichkeit, die Sanktionen gegen die Dumpingfirmen wirklich durchzusetzen. Weil viele Mitgliedstaaten sich einfach weigern, Strafen durchzusetzen.“ Röpke hätte sich mehr Kompetenzen für die neue EU-Arbeitsbehörde gewünscht.
Fotos (C) Michael Mazohl

Inhalt

  1. Seite 1 - Die Europäische Arbeitsbehörde
  2. Seite 2 - Kampf gegen Lohn- und Sozialdumping
  3. Seite 3 - Der Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA)
  4. Seite 4 - Gewerkschaftsbewegung auf europäischer Ebene
  5. Seite 5 - Hart erkämpft
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Im Interview erklärt Oliver Röpke, Leiter des ÖGB-Europabüros in Brüssel, wie Lohn- und Sozialdumping in Europa beendet werden könnte, warum er eine EU-Vertragsänderung für eine gute Idee hält und was die Arbeit im EWSA mit den Angriffen auf Armin Wolf zu tun hat.
Im März 2019 wurde erstmals ein Österreicher zum Präsidenten der ArbeitnehmerInnen-Gruppe im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) gewählt: Oliver Röpke, Leiter des ÖGB-Europabüros in Brüssel. Der EWSA setzt sich aus VertreterInnen von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen und anderen Interessenvertretern zusammen und berät die EU – er legt Stellungnahmen zu EU-Themen vor und bildet so eine Brücke zwischen den Entscheidungsorganen der EU und ihren Bürgerinnen und Bürgern. Was sagt sein neuer Vorsitzender zu aktuellen Entwicklungen?

Zur Person
Oliver Röpke ist Leiter des ÖGB-Europabüros in Brüssel, Mitglied im Vorstand des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) und Präsident der ArbeitnehmerInnen-Gruppe im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA).

Dietmar Meister: Das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission haben sich im Februar darauf geeinigt, eine Europäische Arbeitsbehörde einzurichten. Was soll diese Behörde machen?

Die Europäische Arbeitsbehörde soll die Kooperation und den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten, vor allem zwischen den Arbeitsinspektoraten der Mitgliedstaaten, erleichtern.
Oliver Röpke: Sie soll die Kooperation und den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten, vor allem zwischen den Arbeitsinspektoraten der Mitgliedstaaten, erleichtern. Zum Beispiel bei gemeinsamen, grenzüberschreitenden Inspektionen von ungarischen und österreichischen Arbeitsinspektoraten, die so gemeinsam Baustellen und andere Arbeitsplätze kontrollieren können. Positiv ist weiters, dass auch die nationalen Sozialpartner die Arbeitsbehörde anregen können, sich bestimmter Fälle anzunehmen.

Das heißt: Wenn nationale Sozialpartner oder Gewerkschaften sehen: Da läuft etwas falsch, zum Beispiel im Bereich Lohn- und Sozialdumping, dann können sie diese Infos an die Arbeitsbehörde übermitteln und die Arbeitsbehörde auffordern tätig zu werden. Dennoch ist diese Arbeitsbehörde ein politischer Kompromiss zwischen den Mitgliedstaaten, die mehr europäische Kompetenzen wollten, und jenen, die weniger wollten – und Ländern wie Österreich, wo sich die Regierung überhaupt dagegen ausgesprochen hatte. Die Behörde ist also ein erster Schritt in die richtige Richtung, aber lange nicht das, was wir – der ÖGB und die europäischen Gewerkschaften – uns eigentlich gewünscht hatten.

Die Behörde ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, aber lange nicht das, was wir – der ÖGB und die europäischen Gewerkschaften – uns eigentlich gewünscht hatten.

Was hättet ihr euch gewünscht?

Auf jeden Fall hätten wir uns mehr Kompetenzen für die Arbeitsbehörde gewünscht. Und wir hätten uns gewünscht, dass sie dort ansetzt, wo es am meisten krankt: bei der grenzüberschreitenden Durchsetzung von Ansprüchen und Sanktionen. In Österreich haben wir europaweit die beste Gesetzgebung gegen Lohn- und Sozialdumping. Wir haben auch Kontrollen in vielen Bereichen und stellen auch Verstöße fest – zum Beispiel bei grenzüberschreitenden Entsendungen.

Die Ergebnisse sind erschreckend: So betreiben in der Baubranche mehr als 50 Prozent der Entsendefirmen Lohndumping und zahlen nicht die kollektivvertraglichen Löhne. Es fehlt uns aber die Möglichkeit, die Sanktionen gegen die Dumpingfirmen wirklich durchzusetzen. Weil viele Mitgliedstaaten sich einfach weigern, Strafen durchzusetzen.

Es fehlt die Möglichkeit, die Sanktionen gegen Dumpingfirmen wirklich durchzusetzen.

Ganz besonders hervorzuheben ist hier Ungarn. Dort werden die entsendenden Firmen, gegen die Strafen verhängt wurden, in aller Regel nicht belangt. Diese Betrügerfirmen können also Leute um ihren KV-Lohn bringen, und es bleibt für sie folgenlos. Zum Vergleich: Wenn du eine Parkstrafe in München oder Brüssel kassierst, dann hast du die nach wenigen Wochen bei dir daheim in Österreich. Das funktioniert grenzüberschreitend. Aber im Bereich von Arbeitsrechten und Arbeitnehmerrechten funktioniert es nicht. Und da hätten wir uns gewünscht, dass die Arbeitsbehörde diese Kernkompetenz bekommt. Aber das ist leider nicht der Fall – noch nicht.

Oliver Röpke im Interview
„Der Sitz der EU-Arbeits-Behörde wird definitiv nicht in Wien sein. Die österreichische Bundesregierung hat damit eine große Chance vertan. Weil Österreich mit den langen Grenzen zu neuen EU-Mitgliedstaaten und mit den starken Lohnunterschieden eigentlich ein Hotspot ist.“

Kritiker sagen, diese Behörde werde in der Praxis wenig gegen Lohn- und Sozialdumping ausrichten können. Was antwortest du ihnen?

Solche skeptischen Töne kann ich verstehen. Ich glaube, bis diese Behörde überhaupt operativ zu arbeiten beginnt, wird ohnehin viel Zeit vergehen. Ich gehe davon aus, dass es mehrere Jahre braucht, bis die Behörde voll funktionsfähig sein wird. Dann erwarte ich mir aber, dass sie zumindest die limitierten Kompetenzen, die sie hat, engagiert nützt. Zum Beispiel, dass sie dem nachgeht, wenn sie von österreichischen Gewerkschaften darauf aufmerksam gemacht wird, dass am österreichischen Arbeitsmarkt bei grenzüberschreitenden Entsendungen massiv Lohn- und Sozialdumping betrieben wird. Dass sie dann gemeinsame Kontrollen der betreffenden Länder anregt und – auch wenn sie keine Sanktionen setzen kann – diese Verstöße dann auch öffentlich macht. Vielleicht in einer Art Blacklist. Damit der Druck auf die betreffenden Mitgliedstaaten steigt und auch der Druck auf die Kommission, hier weitere Schritte zu setzen.

ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian hat sich dafür ausgesprochen, dass die Europäische Arbeitsbehörde ihren Sitz in Wien hat. Die österreichische Bundesregierung hat sich aber gegen die Arbeitsbehörde ausgesprochen und sich entsprechend nicht um ihren Sitz beworben. Jetzt ist die Bewerbungsfrist abgelaufen. Das heißt, der Sitz der Behörde wird nicht in Wien sein?

Ja, der Sitz der Behörde wird definitiv nicht in Wien sein. Die österreichische Bundesregierung hat damit eine große Chance vertan. Weil Österreich mit den langen Grenzen zu neuen EU-Mitgliedstaaten und mit den starken Lohnunterschieden eigentlich ein Hotspot ist. Ein Hotspot der Arbeitsmobilität, aber auch des Lohn- und Sozialdumpings. Deshalb ist Wien ja eigentlich prädestiniert gewesen. Leider hat die Bundesregierung diese Chance nicht genützt und sich stattdessen eigentlich immer nur destruktiv verhalten, wollte von Anfang an die Arbeitsbehörde gänzlich verhindern. Völlig absurd, wenn man bedenkt, dass Österreich wahrscheinlich das Land ist, das von einer starken Arbeitsbehörde am stärksten profitieren könnte.

Die Arbeitsbehörde ist eine konkrete Maßnahme zur Umsetzung der 2017 beschlossenen „Europäischen Säule Sozialer Rechte“. Die Bezeichnung ist etwas verwirrend, denn diese Säule enthält keine Rechte im Sinne von Ansprüchen, sondern ist eine reine Absichtserklärung …

Ja, die Säule setzt nur unverbindliche Prinzipien fest. Das war das Maximum, das politisch erreichbar war, vor dem Hintergrund, dass viele Mitgliedstaaten sozialpolitischen Initiativen auf europäischer Ebene sehr skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, vor allem Staaten aus Osteuropa und vor allem die konservativ und liberal regierten Länder – einschließlich Österreich.

Die „Europäische Säule Sozialer Rechte“ darf keine heiße Luft bleiben, sondern muss wirklich zu verbindlichen Regelungen führen.

Unsere Forderung, also die Forderung des ÖGB und auch des Europäischen Gewerkschaftsbundes, war und ist: Die Säule darf keine heiße Luft bleiben, sondern muss wirklich zu verbindlichen Regelungen führen, zu spürbaren Verbesserungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Deswegen haben wir diese Säule auch unterstützt. Und das geht nur über verbindliche Richtlinien. Die Einsetzung der Arbeitsbehörde ist ein konkreter Schritt, um die Säule umzusetzen. Viele weitere Schritte werden aber in den nächsten Jahren noch notwendig sein. Wie die Umsetzung in der Praxis aussehen wird, wird sehr stark vom nächsten Parlament und von der nächsten Kommission abhängen.

Oliver Röpke im Interview
„Viele Länder in Europa sehen ihre niedrigen Löhne und Sozialstandards als Geschäftsmodell. Deshalb wollen sie auch keine gemeinsamen Mindeststandards auf europäischer Ebene.“

Wenn man alle Grundsätze der Säule Sozialer Rechte vollständig umsetzen würde, würde sich für Österreich mit seinem guten Sozialsystem wahrscheinlich nicht viel ändern. Osteuropäische Staaten hingegen müssten ihre Sozialsysteme erheblich ausbauen. Wehren diese Staaten sich deshalb dagegen?

Ja, das ist das eine. Viele Länder in Europa sehen ihre niedrigen Löhne und Sozialstandards als Geschäftsmodell. Deshalb wollen sie auch keine gemeinsamen Mindeststandards auf europäischer Ebene. Daneben gibt es aber auch noch ideologische Gründe. Die österreichische Bundesregierung zum Beispiel schiebt immer wieder das Subsidiaritätsprinzip vor und sagt: Für Sozialpolitik sind die Mitgliedstaaten zuständig, Europa soll sich da möglichst wenig einmischen. Aus meiner Sicht können wir aber keine europäische Wirtschafts- und Währungsunion haben, ohne dass sich auch die sozialen Standards annähern. Und zwar nach oben, das ist ganz wichtig. Nicht eine Annäherung nach unten, wie sie die österreichische Regierung will – Stichwort „Gold Plating“ – und wie wir sie bei der Arbeitszeitgesetzgebung erlebt haben. Da wurde das österreichische Gesetz genau auf das Mindestniveau der europäischen Arbeitszeitrichtlinie abgesenkt. Ohne diese EU-Richtlinie wäre die sogenannte „Arbeitszeitreform“ der schwarz-blauen Bundesregierung für die ArbeitnehmerInnen in Österreich wahrscheinlich noch negativer ausgefallen.

Wir können keine europäische Wirtschafts- und Währungsunion haben, ohne dass sich auch die sozialen Standards annähern.

Wie weit sind wir deiner Meinung nach von der Forderung „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ entfernt?

In der Praxis sehr weit. In der Theorie, auf der Ebene der Vorschriften, sind wir eigentlich schon relativ weit gekommen. Die Vorschriften, die wir in der Entsenderichtlinie haben, schreiben ja vor, dass auch bei entsandten Arbeitnehmern, bei grenzüberschreitender Tätigkeit, grundsätzlich der Lohn jenes Landes zu zahlen ist, in dem jemand tätig ist. Es gelten also die gesetzlichen oder kollektivvertraglichen Mindestlöhne. Ein Problem haben wir in der Umsetzung. Und die dramatischen Zahlen dazu haben wir aus Österreich. Bei grenzüberschreitenden Entsendungen kommt es 50-mal öfter zu Unterentlohnung, als wenn es um heimische Unternehmen geht. Und in grenznahen Gebieten haben wir teilweise eine Lohn- und Sozialdumpingquote von 60 bis 70 Prozent. Das heißt: In der Praxis sind wir da sehr, sehr weit entfernt.

Du bist jetzt seit März Präsident der Arbeitnehmergruppe im Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA). Der EWSA übt ja eine beratende Funktion aus. Wie groß ist sein Einfluss auf die Politikgestaltung?

Paritäten des Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA):

  • Gruppe der ArbeitnehmerInnen
  • Gruppe der ArbeitgeberInnen
  • Gruppe der sogenannten sonstigen Interessen (z. B.: KonsumentenschützerInnen oder LandwirtschaftsvertreterInnen)
Der EWSA berät die Kommission, das Parlament und auch die Mitgliedstaaten. Konkret heißt das, dass wir zu sehr vielen Gesetzesvorschlägen Stellungnahmen erarbeiten. Auch mit konkreten Änderungsvorschlägen, die wir dann versuchen gegenüber den Institutionen durchzusetzen. Das ist unsere grundsätzliche Aufgabe. Eine Besonderheit ist aber: Der EWSA ist drittelparitätisch besetzt. Das heißt, es gibt eine Gruppe der ArbeitnehmerInnen, eine Gruppe der ArbeitgeberInnen und eine Gruppe der sogenannten sonstigen Interessen, in der zum Beispiel KonsumentenschützerInnen oder LandwirtschaftsvertreterInnen drin sind. Damit ist der EWSA wesentlich ausgewogener als diese ganze Lobbyisten-Szene, die wir in Brüssel haben. Und für uns als Gewerkschaften ist deswegen der EWSA ein sehr wichtiges Instrument, um unsere Interessen durchzusetzen und um neue Themen, die uns wichtig sind, auf die Tagesordnung zu setzen. Wenn es zum Beispiel darum geht, ob es bei der Säule Sozialer Rechte bei einem Stück Papier bleibt oder ob sie umgesetzt wird, machen wir als EWSA Druck, erarbeiten konkrete Vorschläge für Initiativen, die von der Kommission in der nächsten Periode gesetzt werden sollten, um die Säule umzusetzen.

Oliver Röpke im Interview
„Man müsste dafür sorgen, dass in der Lobbyisten-Szene viel mehr reguliert wird, dass sie viel transparenter gemacht wird, um Chancengleichheit zwischen den verschiedenen Akteuren herzustellen.“

Du hast die Lobbyisten-Szene in Brüssel angesprochen. Wie viele Arbeitgeber- und wie viele Arbeitnehmer-Lobbyisten gibt es eigentlich in Brüssel?

Wir haben gemeinsam mit der Arbeiterkammer vor einigen Jahren Studien dazu in Auftrag gegeben und gehen heute davon aus, dass es in etwa 35.000 Lobbyisten in Brüssel gibt, vielleicht sogar deutlich mehr. Aber 35.000, die ständig hier sind. Und wir gehen davon aus, dass deutlich unter fünf Prozent dieser Lobbyisten Arbeitnehmerinteressen vertreten. Der Rest, über 95 Prozent, vertritt Wirtschaftsinteressen, Konzerninteressen, Finanzlobbys und so weiter. Es ist also extrem unausgewogen. Deswegen ist aus meiner Sicht der EWSA durchaus ein Gegenmodell zu diesem Brüsseler Lobbydschungel.

Was würde deiner Meinung nach passieren, wenn man von heute auf morgen alle GewerkschafterInnen aus Brüssel abziehen würde?

Dann würde die EU noch wirtschaftsfreundlicher werden. Dann würden alle Versuche, hier – zumindest langsam – ein soziales Gegengewicht aufzubauen, in sich zusammenfallen. Man würde das Feld damit gänzlich den Lobbyisten überlassen. Also, das wäre eine wahnsinnig schlechte Idee. Im Gegenteil: Man müsste dafür sorgen, dass in der Lobbyisten-Szene viel mehr reguliert wird, dass sie viel transparenter gemacht wird, um Chancengleichheit zwischen den verschiedenen Akteuren herzustellen.

Was waren in den letzten Jahren die größten Errungenschaften der Gewerkschaftsbewegung auf europäischer Ebene?

Die größten Errungenschaften sind eigentlich gewonnene Abwehrkämpfe. Der Kampf gegen die Dienstleistungsrichtlinie zum Beispiel. Diese sollte damals das Herkunftslandprinzip in Europa einführen. Nach diesem Prinzip hätten alle Unternehmen auf dem EU-Binnenmarkt nach den Regelungen und Vorschriften ihres jeweiligen Heimatlandes tätig werden können. Da hätte dann für ein Unternehmen aus dem Ausland in Österreich nicht mehr der österreichische Kollektivvertrag gegolten, auch keine österreichischen Verbrauchervorschriften und so weiter. Das wäre staatlich organisiertes Lohn-, Sozial- und Steuerdumping gewesen. Das haben wir als Gewerkschaften verhindern können.

Auch im Bereich der Arbeitszeit konnten wir Verschlechterungen abwehren. Bei der Arbeitszeitrichtlinie wurde versucht, die bestehenden sozialen Mindeststandards zu verschlechtern, anstatt sie nach oben heranzuführen. Und auf der positiven Seite würde ich durchaus die Soziale Säule als Leuchtturmprojekt hervorheben, wobei erst die Zukunft zeigen wird, ob die Säule wirklich umgesetzt wird und ob man dabei von einer großen Errungenschaft sprechen kann.

Kurz und Strache haben vorgeschlagen, den EU-Vertrag neu zu verhandeln. Was hältst du davon?

Von ihren konkreten Vorschlägen halte ich überhaupt nichts. Von der Idee, dass die Verträge geändert werden sollten, halte ich dagegen sehr viel – aber genau in die diametral entgegengesetzte Richtung. Wir als ÖGB haben da, gemeinsam mit allen europäischen Gewerkschaften, schon seit Jahren verschiedene Vorschläge. Vor allem muss bei einer EU-Vertragsänderung endlich korrigiert werden, dass soziale Grundrechte in der EU weniger gelten als wirtschaftliche Freiheiten. Wir haben kürzlich ein EuGH-Urteil gehabt, das einige Bestimmungen gegen Lohn- und Sozialdumping in Österreich aufgehoben hat. Da wurde gesagt, diese seien nicht mit dem Binnenmarkt vereinbar. Man hat hier einfach den wirtschaftlichen Anliegen der Unternehmen Vorrang gegeben vor dem Kampf gegen Lohn- und Sozialdumping. Und das ist inakzeptabel.

Vor allem muss bei einer EU-Vertragsänderung endlich korrigiert werden, dass soziale Grundrechte in der EU weniger gelten als wirtschaftliche Freiheiten.

Deshalb fordern wir, dass ein „soziales Fortschrittsprotokoll“ – ein sperriger Begriff – auf europäischer Ebene im Vertrag festgeschrieben wird. Das heißt: Soziale Grundrechte müssen im Zweifel Vorrang vor wirtschaftlichen Freiheiten haben. Der zweite Punkt wäre, endlich die Blockade gegen Steuerdumping zu durchbrechen, indem man auch bei Steuerfragen Mehrheitsentscheidungen treffen kann. Wenn wir die hätten, hätten wir vielleicht schon heute Mindeststeuersätze auf europäischer Ebene und könnten das Steuerdumping im Unternehmenssteuerbereich beenden. Und der dritte Bereich, in dem Änderungsbedarf wäre: dass man leichter Sanktionen gegen Mitgliedstaaten verhängen kann, die Freiheitsrechte oder Grundrechte wie Pressefreiheit, Meinungsfreiheit oder auch Gewerkschaftsrechte verletzen. Auch hier dürfte man nicht auf die Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten angewiesen sein. Konkret würde das bedeuten: Wer Freiheitsrechte einschränkt beziehungsweise nicht beachtet oder Gewerkschaftsrechte verletzt, der sollte keine Subventionen mehr bekommen.

Oliver Röpke im Interview
„Ich hoffe, dass es eine klare Mehrheit für pro-europäische Parteien gibt. Denn bei aller Kritik an der EU kann es keine Alternative sein, dass wir wieder zum Nationalstaat zurückgehen.“

Wenn du die Einschränkung der Pressefreiheit ansprichst, denkst du da auch an die Geschehnisse rund um Armin Wolf und den ORF?

Das sind erste Alarmzeichen. Und hier ist es unbedingt notwendig, dass wir als Zivilgesellschaft, aber auch die Politik und die Gewerkschaften ganz klarmachen: Auch erste Anzeichen sind nicht zu akzeptieren. Auch nur der Versuch oder der Anschein, dass hier freie Berichterstattung nicht gewünscht ist oder vielleicht eingeschränkt werden könnte, muss vermieden werden und gegen den muss vorgegangen werden. In Ungarn und anderen Ländern sind die Grundrechte aber bereits eingeschränkt. Ich glaube nicht, dass wir in Österreich schon so weit sind.

Das klingt so, als könntest du dir vorstellen, dass es auch in Österreich so weit kommen könnte?

Das müssen wir verhindern. Bis vor einigen Jahren hat keiner geglaubt, dass in einer Reihe von Ländern eigentlich für selbstverständlich gehaltene Grundrechte auf einmal wieder infrage gestellt werden. Von daher halte ich das nicht für ausgeschlossen. Nichts ist gottgegeben. Wir GewerkschafterInnen wissen das am besten. Wir mussten unsere Rechte immer hart erkämpfen. Und einmal erkämpft, heißt nicht, dass sie für immer und ewig gegeben sind. Dieser Kampf ist ein dauerhafter, der tagtäglich zu führen ist, von den Gewerkschaften, in den Betrieben, aber eben auch auf politischer Ebene. Und auch von uns Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern in Brüssel.

Wir mussten unsere Rechte immer hart erkämpfen. Und einmal erkämpft, heißt nicht, dass sie für immer und ewig gegeben sind.

Deshalb haben wir im Wirtschafts- und Sozialausschuss eine eigene Arbeitsgruppe gegründet, die sich nur mit dem Schutz von Grund- und Freiheitsrechten und mit der Rechtsstaatlichkeit von Mitgliedstaaten beschäftigt. Diese Arbeitsgruppe entsendet auch Delegationen in die Mitgliedstaaten, wo wir uns mit der Zivilgesellschaft unterhalten und Informationen von den Sozialpartnern einholen. Und dort, wo wir erste Alarmzeichen sehen, wird das von uns auch ganz klar ausgesprochen.

Zum Abschluss: Welches Ergebnis erhoffst du dir von den anstehenden Parlamentswahlen?

Ich hoffe, dass es eine klare Mehrheit für pro-europäische Parteien gibt. Denn bei aller Kritik an der EU kann es keine Alternative sein, dass wir wieder zum Nationalstaat zurückgehen. Oder dass wir Europa zurückbauen. Das kann es nicht sein. Wir als Gewerkschaften sind auch mit vielem, was auf EU-Ebene passiert, nicht einverstanden – auch mit der politischen Richtung nicht. Deshalb müssen wir dafür kämpfen, dass die politische Richtung geändert wird. Aber es hat keinen Sinn, wieder zurück zum Nationalstaat zu gehen. Deswegen erhoffe ich mir eine Stärkung der pro-europäischen Parteien.

Und zum Zweiten erhoffe ich mir eine Stärkung des progressiven Lagers, also jener politischen Gruppierungen im EU-Parlament, die uns in den letzten Jahren unterstützt haben, auf die wir uns verlassen konnten und mit deren Hilfe wir es auch geschafft haben, immerhin einige Verbesserungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durchzusetzen. Es ist wichtig, dass diese „ArbeitnehmerInnen-Mehrheit“ fraktionsübergreifend auch im neuen Parlament erreicht werden kann. Denn dann lohnt sich die Arbeit hier vor Ort, dann lohnt sich die Interessenvertretung, dann lohnt sich die Diskussion mit den einzelnen Abgeordneten.

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  1. Seite 1 - Die Europäische Arbeitsbehörde
  2. Seite 2 - Kampf gegen Lohn- und Sozialdumping
  3. Seite 3 - Der Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA)
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  5. Seite 5 - Hart erkämpft
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Über den/die Autor:in

Dietmar Meister

Dietmar Meister ist Chef vom Dienst in der Kommunikationsabteilung des Österreichischen Gewerkschaftsbundes. Der gebürtige Südtiroler lebt seit 15 Jahren in Wien, wo er Journalismus und Politikwissenschaft studiert und mehrere Jahre als freier Journalist und Redakteur gearbeitet hat.

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