„Leidtragende werden die Versicherten sein“ – Ingrid Reischl (WGKK) im Interview

Inhalt

  1. Seite 1 - Status quo der Wiener Gebietskrankenkasse
  2. Seite 2 - Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen
  3. Seite 3 - Sparen durch Leistungskürzungen?
  4. Seite 4 - Was wären die Alternativen?
  5. Auf einer Seite lesen >
Ingrid Reischl, Obfrau der Wiener Gebietskrankenkasse, kritisiert die Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen und des halben Hauptverbands, für die ihrer Ansicht nach viel zu wenig Zeit vorgesehen ist. Auf der Strecke würden die Versicherten bleiben, weil sich die Kassen jetzt mit sich selbst beschäftigen müssen. Und die neue Österreichische Gesundheitskasse werde ein Bürokratiemonster sein.

Foto von Ingrid Reischl an ihrem Schreibtisch
„Die Gesundheit hängt in hohem Maß vom Einkommen und vom Bildungsstand ab, das ist durch viele Studien belegt. So leben ungelernte Arbeiter in Wien um neun Jahre kürzer als männliche Akademiker.“ Reischl setzt auf den Ausbau von Vorsorgeangeboten. Foto (C) Matt Observe

Glauben Sie, dass man durch die Stärkung von Vorsorgeangeboten unterm Strich sparen könnte, weil dann viele Menschen länger gesund bleiben würden?

Sicher. Nur was man bei der Vorsorge auch bedenken sollte: Die Gesundheit hängt in hohem Maß vom Einkommen und vom Bildungsstand ab, das ist durch viele Studien belegt. So leben ungelernte Arbeiter in Wien um neun Jahre kürzer als männliche Akademiker. Gesellschaftspolitisch gibt es viele Ansatzpunkte für ein langes und gesundes Leben der Bevölkerung und die sind ganz wesentlich. Das Gesundheitssystem ist ein Teil davon wie auch der Lebensstil, der aber wieder vom persönlichen Wissensstand abhängt. In diesem Zusammenhang sollte man Vorsorge sehen. Wir setzen zum Beispiel einen Schwerpunkt auf betriebliche Gesundheitsvorsorge – und da kommt tatsächlich jeder Euro, der in betriebliche Vorsorge investiert wird, dreifach zurück. Das macht Sinn. Auch Gesundenuntersuchungen in Betrieben machen Sinn.

Und welche Leistungen, die jetzt selbstverständlich sind, machen nicht so viel Sinn und könnten gekürzt werden?

Man könnte sich die zahlreichen Antibiotika-Gaben bei Erkältungen sparen. Wir haben ein Riesenproblem mit Resistenzen. Wir versuchen, die Ärzte und die Versicherten aufzuklären, damit nicht jede Erkältung mit Antibiotika behandelt wird. Ein unnötig teurer Trend ist auch, einmal im Jahr bei der Blutuntersuchung Vitamin D zu untersuchen. Wenn ich Vitamin-D-Mangel habe, stelle ich das einmal fest und nehme immer über die Winterzeit Tropfen. Selbst wenn wir jedem unserer Versicherten Vitamin D geben würden, würde uns das weniger kosten als die Untersuchungen im Labor. Wenig Sinn machen auch Screenings, für die es keine wissenschaftliche Evidenz gibt. Brustkrebs-Screenings machen Sinn, Darmkrebs-Vorsorge macht Sinn, aber nicht überall machen Screenings Sinn. Auch bei der Physio- bzw. physikalischen Therapie gibt es Verschiebungspotenzial. So gibt es wenig Wirksamkeit von Passivtherapien, aber Aktivtherapie ist sehr mühsam. Wer Schmerzen hat, lässt sich lieber massieren, obwohl das nachgewiesenermaßen nicht nachhaltig wirksam ist. Aber das kann man nur langsam angehen, indem man sukzessive die Verträge ändert und Aktivtherapien fördert.

Sehen Sie die Gefahr, dass insbesondere im Gesundheitssystem zu viel gespart und zu viele Leistungen gekürzt werden? Bzw. wird am falschen Ort gespart?

Im Gesundheitssystem wäre aus meiner Sicht genug Geld. Es könnte immer mehr sein, weil die Bevölkerung älter wird und es technischen Fortschritt gibt. Aber wenn man es schafft, die Gelder zwischen dem Spitalsbereich und dem niedergelassenen Bereich richtig zu platzieren, würde der Spielraum derzeit noch ausreichen. Das gelingt erst in Ansätzen: Wir haben mit der Gesundheitsreform gestartet und man sieht die Spitalshäufigkeit zurückgehen. Wir sind also auf einem guten Weg. Ich glaube nur, dass jetzt alle Reformprojekte de facto nicht weitergehen werden, weil wir uns in den nächsten Jahren mit uns selbst beschäftigen werden. Und wir haben nicht die Zeit, die notwendig wäre, mit dem Gegenüber – in unserem Fall die Stadt Wien – die Spitäler zu entlasten. Auf lange Sicht würde ich aufgrund der technisch-medizinischen Fortschritte gern mehr Geld im Gesundheitssystem sehen.

Ich glaube nur, dass jetzt alle Reformprojekte de facto nicht weitergehen werden, weil wir uns in den nächsten Jahren mit uns selbst beschäftigen werden.

Was genau meinen Sie?

Heute ist zum Beispiel die Magnetresonanz das Mittel der Wahl für die Diagnostik, und so eine Untersuchung kostet viel Geld – das beginnt mit 180 Euro. Und jedes Jahr gibt es neue Diagnose-Methoden und hochwirksame Medikamente, zum Beispiel in der Krebstherapie oder für die Heilung von Hepatitis C. Die Pharmafirmen verlangen dafür enorme Preise. Da kann man natürlich regulierend eingreifen, was aber nur auf EU-Ebene möglich wäre. Das wäre ein Ansatzpunkt, um Geld zu sparen. Wenn man das nicht tut, müsste man mehr Geld ins Gesundheitssystem stecken.

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Über den/die Autor:in

Alexandra Rotter

Alexandra Rotter hat Kunstgeschichte in Wien und Lausanne studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin in Wien und schreibt vor allem über Wirtschaft, Gesellschaft, Technologie und Zukunft.

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