„Leidtragende werden die Versicherten sein“ – Ingrid Reischl (WGKK) im Interview

Inhalt

  1. Seite 1 - Status quo der Wiener Gebietskrankenkasse
  2. Seite 2 - Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen
  3. Seite 3 - Sparen durch Leistungskürzungen?
  4. Seite 4 - Was wären die Alternativen?
  5. Auf einer Seite lesen >
Ingrid Reischl, Obfrau der Wiener Gebietskrankenkasse, kritisiert die Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen und des halben Hauptverbands, für die ihrer Ansicht nach viel zu wenig Zeit vorgesehen ist. Auf der Strecke würden die Versicherten bleiben, weil sich die Kassen jetzt mit sich selbst beschäftigen müssen. Und die neue Österreichische Gesundheitskasse werde ein Bürokratiemonster sein.

Interviewfoto von Ingrid Reischl
„Wir haben uns mit den deutschen Sozialversicherern getroffen, die über 1.000 Krankenversicherungen auf 110 fusioniert haben. Sie haben gesagt, der Zeitfaktor ist entscheidend – und: Im Nachhinein sind sie alle teurer geworden. Und diese Österreischische Gesundheitskasse (ÖGK) wird ein Bürokratiemonster.“ Reischl sieht in der Sozialversicherungsreform eine Reihe von Verschlechterungen, finanziellen Belastungen und Gefahren für die Versicherten. Foto (C) Matt Observe

Wie wird sich die Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen auf die Versicherten auswirken?

Die Regierung plant, die neun Gebietskrankenkassen und den halben Hauptverband in neun Monaten zusammenzulegen. Wir reden von mehr als sieben Millionen Versicherten, 10.600 Beschäftigten in der Sozialversicherung und einem Umsatz von 13 Milliarden. Ich recherchiere das jetzt schon einige Zeit und habe keine neuneinhalb Unternehmen in Europa gefunden, die in so kurzer Zeit zusammengelegt wurden. Das wird einfach nicht funktionieren. Leidtragende werden die Versicherten sein: Wenn sich die Krankenversicherungen mit sich selbst beschäftigen müssen, werden sie die Zeit nicht für die Versicherten aufbringen. Dazu kommt, dass man der österreichischen Krankenkasse bis 2023 eine Milliarde Euro wegnimmt. Zu den Fusionskosten, die die Arbeiterkammer mit 500 Millionen Euro festmacht, darf die neue Krankenkasse bedeutend mehr an Privatspitäler wie die Privatklinik Währing, die auf Schönheit setzt, zahlen. Dann darf sie die Lohnnebenkostensenkung der AUVA mit jährlich 200 Millionen Euro ab 2023 zahlen. Und dann spart sich der Bund Geld, indem er für die Leistungen notwendige Beihilfen kürzt. Das heißt: Man beschäftigt Unternehmen mit einer Fusion, berechnet keine Fusionskosten und nimmt Geld aus dem System – und auch das werden die Versicherten merken.

Leidtragende werden die Versicherten sein: Wenn sich die Krankenversicherungen mit sich selbst beschäftigen müssen, werden sie die Zeit nicht für die Versicherten aufbringen. Dazu kommt, dass man der österreichischen Krankenkasse bis 2023 eine Milliarde Euro wegnimmt. 

Glauben Sie, dass das eine populistische Entscheidung ist, weil es immer gut kommt, mit Verwaltungseinsparungen zu argumentieren?

Ja, vor allem in dieser Zeitdimension. Man kann sicher darüber reden, Träger zusammenzulegen. Aber jedes private Unternehmen würde erstmal langsam Aufgaben bündeln und dann Synergien gewinnen. Dabei haben wir die EDV schon ausgelagert: Die neun Gebietskrankenkassen haben eine IT-Tochter und nur mehr zwei Rechenzentren. Man hätte weiterhin Aufgaben bündeln und sich dann überlegen können, die Träger zusammenzulegen. Aber in so kurzer Zeit kann das nicht funktionieren. Wir haben uns mit den deutschen Sozialversicherern getroffen, die über 1.000 Krankenversicherungen auf 110 fusioniert haben. Sie haben gesagt, der Zeitfaktor ist entscheidend – und: Im Nachhinein sind sie alle teurer geworden. Und diese Österreischische Gesundheitskasse (ÖGK) wird ein Bürokratiemonster. Ich finde es wirklich schade, dass man so ein gutes Gesundheitssystem im Moment zerstört. Das tut mir im Herzen weh. Ich bin seit 1993 Funktionärin und habe noch nie erlebt, dass man so zerstörerisch unterwegs ist. Das haben sich die Menschen in diesem Land einfach nicht verdient, auch wenn sie die Regierung gewählt haben.

Bezieht sich das Teurerwerden auch auf die Patientinnen und Patienten?

Ja, das würde ich meinen, denn mit der Fusion verbunden ist auch, dass in der ÖGK die Arbeitgeber zu gleichen Teilen vertreten sind wie die Arbeitnehmer. In der Dachorganisation gibt es sechs Arbeitgeber- und vier Arbeitnehmer-Vertreter. Sie werden entscheiden, ob die Menschen Selbstbehalte zahlen werden. Die Selbstständigen sind mit der SVA in ihrer eigenen Versicherung, die für die Fusion mit den Bauern bis zu zehn Jahren Zeit hat. Diese Fusion wird gelingen, weil der Zeitraum enorm ist. Und der ehemalige SVA-Obmann Alexander Herzog hat immer gemeint, dass er trotzdem mit 200 Millionen Euro Fusionskosten rechnet.

Sie rechnen mit Selbstbehalten auch für unselbstständig Versicherte. Warum halten Sie Selbstbehalte für schlecht?

Wir haben in der WGKK in der Zeit, als wir wirtschaftliche Herausforderungen hatten, eine Studie gemacht und uns angesehen, was so ein Selbstbehalt in der Verwaltung bringen und was er kosten würde. Wir haben festgestellt, dass aufgrund unserer Versicherten-Zusammensetzung nur mehr 40 Prozent der Versicherten Selbstbehalt zahlen würden.

Warum das?

Weil wir der Meinung sind, dass man Mitversicherte wie Kinder und Menschen mit niedrigen Einkommen ausnehmen muss. Wir haben bei der WGKK zwar auch gut zahlende Versicherte, aber die guten Risken sind bei der Beamtenversicherung und bei der KFA. 40 Prozent würden also Selbstbehalte zahlen und die würden sich bald fragen, warum sie so viel zahlen. Außerdem vergisst man gerne, dass wir schon Selbstbehalte haben – bei den Medikamenten. Und wir haben Kostenbeteiligungen. Im internationalen Vergleich sind diese Selbstbehalte hoch.

40 Prozent würden also Selbstbehalte zahlen und die würden sich bald fragen, warum sie so viel zahlen. Außerdem vergisst man gerne, dass wir schon Selbstbehalte haben – bei den Medikamenten. Und wir haben Kostenbeteiligungen. Im internationalen Vergleich sind diese Selbstbehalte hoch.

Aber könnten allgemeine Selbstbehalte nicht helfen, um bei den Versicherten ein stärkeres Bewusstsein für Gesundheitsleistungen zu schaffen? Oder halten Sie die Gefahr, dass Menschen durch Selbstbehalte vom notwendigen Arztbesuch abgeschreckt werden, für zu groß?

Wir haben bei der Studie gesehen, dass der Lenkungseffekt in Frage zu stellen ist. Der ist dort sehr groß, wo er auf etwas gelenkt ist, was medizinisch nicht unbedingt notwendig ist. Wir hatten in der Vergangenheit bei Krankentransporten einen Selbstbehalt, den wir abgeschafft haben, weil wir die Leistungen harmonisiert haben. Aber dieser Selbstbehalt hat gewirkt, denn vorher haben viele den Krankentransport wie das Taxi angerufen. Man muss sich genau anschauen, welche Selbstbehalte steuern und welche nicht. Und es gibt vor allem dort einen Lenkungseffekt, wo es nicht um medizinisch dringende Leistungen geht.

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Über den/die Autor:in

Alexandra Rotter

Alexandra Rotter hat Kunstgeschichte in Wien und Lausanne studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin in Wien und schreibt vor allem über Wirtschaft, Gesellschaft, Technologie und Zukunft.

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