Historie: Demokratiekompass Gewerkschaft

Historische Zeichung des Schwurs der revolutionären Arbeiter:innen in Wien 1848. Symbolbild für das Zusammenspiel von Gewerkschaften und Demokratie
Schwur der revolutionären Arbeiter:innen in Wien 1848. Sie fordern Gleichberechtigung: „Ihr nennt uns Gesindel, wir nennen uns von jetzt an Bürger.“
© Wien Museum Inv.-Nr. 87469, CCO (https://sammlung.wienmuseum.at/objekt/2586/), (© ÖGB-Bildarchiv/Foto Deak)
Geschichte und Gegenwart zeigen: Die Möglichkeit für gewerkschaftliche Aktion und Mitbestimmung ist ein guter Maßstab dafür, ob Demokratie funktioniert. Wo Gewerkschaftsrechte eingeschränkt oder abgebaut werden, ist Demokratiealarm angebracht.
Gewerkschaften brauchen Demokratie, Demokratie braucht aber auch Gewerkschaften. Das ist nachweisbar, wurde in der Geschichte aber immer wieder heftig bestritten. In den von der Sowjetunion beeinflussten kommunistischen Staaten Europas hielt man eigenständige, staatsunabhängige Gewerkschaften für überflüssig. In vielen Ländern des europäischen Südens glaubten die Arbeitnehmer:innen lange, Gewerkschaften könnten demokratische Politik ersetzen. Und die verschiedenen Richtungen des Liberalismus behaupteten (und behaupten), Demokratie und absolute Marktfreiheit seien deckungsgleich und Gewerkschaften seien schädlich, weil sie die Freiheit einschränken würden. Heute ist diese Ansicht wieder weit verbreitet, sie beeinflusst auch in Österreich immer wieder die Regierungspolitik.

ÖGB-Ehrenpräsident Anton Benya bei der „Demo für Demokratie“ im Juli 2001. Als Zeitzeuge warnte er vor einer Gefährdung der Demokratie durch Abbau der Mitbestimmung. © ÖGB-Bildarchiv

Auflehnen gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen

Jahrzehnte, in denen der Sozialstaat und gewerkschaftliche Mitbestimmung selbstverständlich waren, haben vergessen lassen, dass diese liberalistische Sicht auf Demokratie eine lange Tradition hat, die bis zur Französischen Revolution zurückreicht. In der Debatte um die erste Erklärung der Menschenrechte wurde das Koalitionsrecht der Arbeiter:innen als Einschränkung der persönlichen und wirtschaftlichen Freiheit ausdrücklich abgelehnt. Bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts hinein – mit Ausnahme des Revolutionsjahrs 1848 – blieb es bei rigorosen Koalitionsverboten. Ob Monarchie oder Republik, ob Verfassungsstaat mit Parlament oder Absolutismus, machte in dieser Frage keinen Unterschied.

Von Anfang an gab es aber auch Widerstand, und der organisierte sich in immer größerem Ausmaß, als in der industriellen Revolution Menschenmassen vom Land in die Fabriken und die großen Gewerbebetriebe kamen und sich gegen die unzumutbaren Arbeitsbedingungen aufzulehnen begannen. Im Kaiserreich der Habsburger erreichte die junge Arbeiter:innenbewegung 1869 nach einer Großdemonstration das Zugeständnis der Koalitionsfreiheit. In England, wo die Industrialisierung sehr viel früher begann, setzte die organisierte Protestbewegung schon 50 Jahre zuvor ein. Koalitionsfreiheit, das bedeutete, es war nicht mehr kriminell, Gewerkschaften zu gründen und zu streiken, aber es bedeutete noch lange keinen Anspruch auf Mitbestimmungs- und Vertretungsrechte.

Gewerkschaften? Ein klares Zeichen für Demokratie

Bis zur Mitbestimmung war es noch ein langer Weg, und die Anerkennung dieser Rechte als Menschenrechte gelang überhaupt erst unter dem Eindruck der Zerschlagung der Demokratien durch den Faschismus. Aber selbst nach dem Zweiten Weltkrieg war die Gleichsetzung von Marktfreiheit und Demokratie nicht ganz vom Tisch. Eleanor Roosevelt, die die Delegation der USA bei den Verhandlungen über die 1948 verabschiedete Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen leitete, setzte das Recht auf gewerkschaftliche Organisation als Menschenrecht schließlich mit folgendem Argument durch: „Es gibt keine persönliche Freiheit ohne wirtschaftliche Sicherheit und Unabhängigkeit, Menschen in Not sind keine freien Menschen.“ Über die UNO-Erklärung kam das Recht auf gewerkschaftliche Organisation in die Europäische Menschenrechtskonvention und wurde schließlich ab 1958 österreichisches Verfassungsrecht.

Nur soziale Einsicht und soziale Gerechtigkeit können diesen Staat begründen
und zu einer Heimstätte glücklicher Menschen machen.

Ferdinand Hanusch

Koalitionsfreiheit bringt nur etwas, wenn sie unter demokratischen Bedingungen in Anspruch genommen werden kann. Deshalb standen die Gewerkschaften in vielen Ländern ganz vorne, als es darum ging, demokratische Verfassungen und demokratisches Wahlrecht durchzusetzen. In Österreich konnte erst nach einem Bummelstreik der Eisenbahner und einer Generalstreikdrohung der Wiener Freien Gewerkschaften wenigstens das allgemeine Wahlrecht für Männer durchgesetzt werden, und es war der Gewerkschafter Johann Schorsch, der zu Beginn der Republik 1918 auf der sofortigen Einführung des Frauenwahlrechts beharrte. Es waren 1918 und 1945 Gewerkschafter:innen, die federführend am Aufbau des Sozialstaats und damit einer stabilen Demokratie mitwirkten. Die Feststellung des Gewerkschafters Ferdinand Hanusch, Leiter des Sozialressorts zu Beginn der demokratischen Republik, ist aktueller denn je: „Nur soziale Einsicht und soziale Gerechtigkeit können diesen Staat begründen und zu einer Heimstätte glücklicher Menschen machen.“

Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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