Die Geschichte des Sozialstaats

geschichte des Sozialstaats
Kampagne des Europäischen Gewerkschaftsbunds für ein soziales Europa 2006: Das Volk sorgt für den Wandel.
(C) ÖGB-Bildarchiv/Helmut Schnaitl
Er ist keine Staatscaritas – der Sozialstaat ist ein Demokratieprojekt. Sein Ziel sind eine gerechtere Gesellschaft mit weniger Ungleichheit und die Chance auf Mitbestimmung nicht nur bei Wahlen. Das rief und ruft oft starken Gegenwind hervor.
Der Sozialstaat ist eine Organisationsform der Gesellschaft. „Sozial“ bedeutet „gesellschaftlich“. Sein Ziel ist ein gutes Leben für alle und mehr Demokratie. Gleichberechtigte Mitbestimmung der Nichtprivilegierten muss auch in der Wirtschaft möglich sein. Bis zu diesem Ziel liegt noch ein sehr langer Weg vor uns. In der Geschichte des Sozialstaats sind wir gerade erst ein paar Meter gegangen. Und die Wahl von Betriebsräten gehört zu diesen Anfangsschritten. So in etwa können die Kernaussagen der Rede über den Sozialstaat zusammengefasst werden, die Bundespräsident Karl Renner den Delegierten des ersten Kongresses des Österreichischen Gewerkschaftsbunds im Frühjahr 1948 mitgab.

Demokratie und Sozialstaat sind untrennbar

Die Forderung nach Demokratie und die Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit waren von Anfang an eng miteinander verbunden. Das gilt für die „Tiroler Landordnung“ der aufständischen Bauern und Bergleute im 16. Jahrhundert ebenso wie für die „Wiener Jakobiner“ zur Zeit der Französischen Revolution. Es sollte dann noch weit mehr als ein Jahrhundert vergehen, bis damit begonnen werden konnte, ihre Ideen in die Tat umzusetzen. Mit der Gründung der demokratischen Republik 1918, deren Recht vom Volk ausging, bestanden dafür erstmals in der österreichischen Geschichte die Voraussetzungen.

Die Sozialoffensive der Republikgründungsjahre, die untrennbar mit dem Namen des Gewerkschafters Ferdinand Hanusch verbunden ist, bezog nicht nur so viele Menschen wie möglich in das soziale Netz ein, sondern machte sie zu Leistungsberechtigten. Aus staatlicher Gnade wurde das Recht freier Bürger:innen. Aber – darauf machte Karl Renner ausdrücklich aufmerksam – ein funktionierender Wohlfahrtsstaat allein ist noch kein Sozialstaat. Einen Wohlfahrtsstaat für das „eigene Volk“ anbieten, das kann auch eine Diktatur oder ein autoritäres Regime. Als der erste ÖGB-Kongress tagte, waren erst drei Jahre vergangen, seit Hitler das in seinem nationalsozialistischen „Dritten Reich“ bewiesen hatte. Der Sozialstaat ist dagegen immer ein Rechtsstaat und ein Staat, der die Mitbestimmung auf allen Ebenen fördert.

Gerechte Freiheit statt „freier Markt“

Karl Renner nannte in seiner Rede das Betriebsrätegesetz als Beispiel. Aber genauso ist hier die Errichtung von Arbeiterkammern als gleichberechtigte gesetzliche Interessenvertretung aller Arbeitnehmer:innen anzuführen. Und das unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft. Auch und vor allem ein ausreichender Handlungsspielraum für Gewerkschaften ist nötig. Der Bundespräsident betonte außerdem sehr deutlich, dass sich der Sozialstaat nicht scheue, in den „freien Markt“ des kapitalistischen Wirtschaftssystems einzugreifen, wenn das notwendig ist, um mehr Gerechtigkeit zu schaffen.

Preisregelung, um die Grundbedürfnisse der Menschen mit wenig und mittlerem Einkommen bei einer Inflation zu sichern, wäre ein Beispiel dafür. Der perfekte Sozialstaat hat – davon war Renner überzeugt – das bestehende System mit seinen Ungerechtigkeiten zu einem menschenfreundlicheren umgeformt oder hinter sich gelassen. Wie die Teilnehmer:innen an den Sozialforen im 21. Jahrhundert glaubte auch er fest daran, dass „eine andere Welt möglich“ sei, allerdings nur, wenn das „von unten aus“ geschehe, wenn die Menschen frei sind, sich dafür ohne Angst einzusetzen und einzubringen. Aber der Sozialstaat stellt die Eliten infrage, deshalb wird der Weg zu ihm oft blockiert.

Immer wieder Gegenwind

Nach 1918 blies der Gegenwind rasch und rau. Nach dem Ende der faschistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs hieß es deshalb: „Zurück zum Start!“ In der Zweiten Republik kam man dann auf dem Weg zum Sozialstaat zunächst ein gutes Stück voran. Das Netz der sozialen Sicherheit wurde enger geknüpft, kürzere Arbeitszeit und bessere Arbeitsbedingungen schufen mehr Freiraum für die Beschäftigten, der Zugang zu Bildung öffnete sich langsam, aber sicher, und Betriebsräte bekamen mehr Mitspracherecht. Vor allem aber wurde die Gewerkschaft im Rahmen der Sozialpartnerschaft zur gleichberechtigten politischen Big Playerin gegenüber Unternehmer:innenvertretungen und staatlicher Verwaltung.

Österreich war aber kein Sonderfall. In vielen Teilen Europas hatten verschiedene Modelle der Entwicklung zum Sozialstaat Konjunktur. Die „oberen Zehntausend“ spielten mit, solange die sogenannte „Systemkonkurrenz“ mit dem sowjetischen Block bestand – man wollte beweisen, dass die Mehrheit der Menschen im Kapitalismus besser lebt. Als die kommunistische Konkurrenz während der 1980er-Jahre verschwand, begann der Salto rückwärts – in Österreich weniger brutal als anderswo, aber durchaus deutlich spürbar. Es wird Zeit für eine Gegenoffensive im Interesse der Vielen.

Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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