Doch die kaiserliche Regierung weigerte sich selbst nach der militärischen Kapitulation am 3. November zurückzutreten, und Kaiser Karl ließ sich erst am 11. November dazu bewegen, auf die „Staatsgeschäfte in Österreich“ zu verzichten. Damit konnte am 12. November 1918 endlich der neue Staat proklamiert werden:
Deutschösterreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volke eingesetzt. … Die politischen Vorrechte sind aufgehoben.
Gleichzeitig wurde die demokratische Wahl einer „Konstituierenden Nationalversammlung“ für Anfang 1919 angekündigt:
Das gesamte Volk, Männer und Frauen, werde zur Wahl schreiten und sein äußeres Schicksal wie seine innere Ordnung allein, frei und unabhängig bestimmen … Bürger, Bauer und Arbeiter haben sich zusammengetan, um das neue Deutschösterreich zu begründen.
Ein revolutionärer Akt, auch wenn man dem Kaiser nicht den Kopf abschlug. Was bisher undenkbar schien, wurde Wirklichkeit: gleiche Rechte für ArbeitnehmerInnen, Gewerkschaftsvertreter als gleichberechtigte „Sozialpartner“ beim Überleiten auf Friedenswirtschaft und bei der Organisation des Arbeitsmarkts im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Das alles wurde trotz katastrophaler sozialer Zustände erreicht – ein Lied nannte Wien eine „sterbende Märchenstadt“. Um das Überleben der jungen Republik zu sichern, forderte die Provisorische Nationalversammlung Solidarität ein:
Wer über Vorräte verfügt, öffne sie dem Bedürftigen! Der Erzeuger von Lebensmitteln führe sie denen zu, die hungern! Wer überschüssige Gewandung besitzt, helfe die frierenden Kinder bekleiden!
Die „Republik Österreich“, wie sie nach dem Friedensvertrag mit den Siegermächten des Ersten Weltkriegs ab 1919 hieß, schuf mit der Gleichberechtigung von ArbeitnehmerInneninteressen die Grundlage für Österreichs modernen demokratischen Sozialstaat. Sie scheiterte daran, dass das Ziel einer sozialen Demokratie von rechten Regierungskoalitionen systematisch bekämpft wurde.
Brigitte Pellar
Historikerin
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 9/18.
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