Obdachlosigkeit: „Es kommen existenzielle Probleme auf uns zu“

Obdachloser Mann shläft auf Parkbank. Symbolbild Obdaclosigkeit Interview Elisabeth Hammer Neunerhaus
850.000 Menschen in Österreich haben weniger als 1.000 Euro pro Monat zur Verfügung. Gleichzeitig explodieren Mieten und Heizkosten. | © Adobe Stock/Photobeps

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  1. Seite 1 - Steigende Obdachlosigkeit
  2. Seite 2 - Leistbare Wohnungen finden
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Jede:r Siebte in Österreich hat Probleme damit, die Wohnkosten zu zahlen. Coronakrise und Inflation verschärfen das Problem. Neunerhaus stemmt sich gegen den vorprogrammierten Anstieg der Obdachlosigkeit. Geschäftsführerin Elisabeth Hammer im Interview.

In Österreich müssen 850.000 Menschen mit einem Einkommen von unter 1.000 Euro pro Monat klarkommen. Gleichzeitig steigen die Preise. Getrieben von den explodierenden Energiekosten steigen die Mieten. Es droht eine Stagflation in Österreich. Dazu kommt, dass Wien seit Jahrzehnten wächst, der Wohnungsbau aber nicht im gleichen Ausmaß nachkommt. Das alles wird zu einer Belastungsprobe für Menschen. Das alles treibt Elisabeth Hammer die Sorgenfalten auf die Stirn. Die Sozialwissenschaftlerin und Sozialarbeiterin ist Geschäftsführerin bei neunerhaus. Die Einrichtung versorgt obdachlose Menschen und versucht, ihnen langfristig eine Wohnung zu vermitteln. Im Interview mit Arbeit&Wirtschaft geht sie auf die aktuelle Situation ein.

Zur Person
Elisabeth Hammer ist seit dem Jahr 2017 Geschäftsführerin bei neunerhaus. Sie ist Sozialwissenschaftlerin und Sozialarbeiterin. Davor hatte sie bereits im Aufsichtsrat der Einrichtung gearbeitet und Angebote wie „Hosuing First“ und das Gesundheitszentrum mit entwickelt. Sie ist außerdem Obfrau der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAWO).

Neunerhaus: Elisabeth Hammer im Interview

Portrait Elisabeth Hammer Interview, Neunerhaus
Elisabeth Hammer, Geschäftsführerin von neunerhaus. | © Christoph Liebentritt
Könnten Sie mir einen Überblick über die Entwicklung der Zahlen von obdach- und wohnungslosen Menschen in den letzten Jahren geben? Mich würde interessieren, wie es vor Corona aussah und wie es jetzt aussieht.

Das wüssten wir alle gerne. Die Datenlage im Bereich Obdach- und Wohnungslosigkeit ist grundsätzlich verbesserungswürdig. Das platzieren wir seit Jahren. Wir wissen, dass sich zeitversetzt nach jeder größeren Wirtschaftskrise die Zahlen von Obdach- und Wohnungslosigkeit erhöhen. Das Aktuellste, was wir diesbezüglich an belastbarem Datenmaterial haben, stammt aus der Zeit nach der Finanzkrise 2008. In den fünf Jahren danach ist die Zahl obdach- und wohnungsloser Menschen um ein Drittel gestiegen.

Haben Sie denn aktuelle Zahlen?

In den letzten zehn Jahren schwankt die Zahl von wohnungs- und obdachlosen Menschen in Österreich zwischen 20.000 und 24.500 Menschen. Von 2019 auf 2020 ist die Zahl der wohnungs- und obdachlosen Menschen gesunken – um rund 2.000 Personen. 2020 waren 19.912 Menschen in Österreich als obdach- und wohnungslos registriert. Aber die Erhebungsmethode ist, wie gesagt, verbesserungswürdig. Diejenigen, die prekär wohnen, weil sie beispielsweise keinen eigenen Mietvertrag haben und irgendwo mitwohnen, werden nicht berücksichtigt.

Warum ist die Zahl ausgerechnet in der Coronakrise gesunken?

Es gab einen Delogierungsstopp. Das ist die wesentliche Maßnahme. Dazu kommt eine veränderte Strategie der Wohnungslosenhilfe. Man hat stärker auf eine ambulante Unterstützung in den eigenen Wohnungen gesetzt. Das sind Leute, die naturgemäß nicht auf der Straße oder in Notquartieren wohnen. Das ist eine Verringerung, die wird aber langfristig nicht halten.

Diese Wohnungen, die Sie jetzt angesprochen haben, die werden auch durch neunerhaus vermittelt. Jetzt wird es für manche Wohnungen im Jahr 2022 bis zu drei Mieterhöhungen geben. Viele Vermieter:innen schöpfen ihr Recht auf Inflationsanpassungen voll aus. Wird diese Inflation zu mehr Obdachlosigkeit führen?

Definitiv befürchten wir einen Anstieg von Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Das Thema leistbares Wohnen geriet schon vor der Pandemie unter Druck. Der Ukraine-Krieg und die Inflation verschärfen das Thema drastisch. Zwei Zahlen sind dabei besonders kritisch zu betrachten. Erstens erwarten rund 14 Prozent der Gesamtbevölkerung Zahlungsschwierigkeiten bei den Wohnkosten. Zweitens müssen rund 850.000 Menschen mit einem Einkommen von unter tausend Euro im Monat auskommen. Diese zwei Zahlen zusammengenommen weisen darauf hin, dass es keine Spielräume und keine Rücklagen mehr gibt, um diese Kostensteigerungen abdecken zu können.

Es ist nicht nur die Miete. Es geht auch um Energie und Lebensmittel.

Der Warenkorb der Menschen mit niedrigem Einkommen schaut ein bisschen anders aus als der von Personen aus der Mittel- und Oberschicht. Insofern müssen wir uns auch damit beschäftigen, dass die sozialen Folgen der Inflation ganz einfach ungleich verteilt sind. Menschen, die so niedrige Einkommen haben wie viele neunerhaus-Nutzer:innen, sind überproportional davon betroffen.

Zumal die Ausgaben getätigt werden müssen. Nicht zu essen oder nicht zu wohnen ist keine Alternative.

Das stimmt. Es kommen existenzielle Problemlagen auf uns zu. Wir sehen, dass in der Beratung Menschen zu uns kommen, die riesige Sorgen haben wegen der Preissteigerungen im Supermarkt. Der wöchentliche Einkauf fällt ihnen immer schwerer. Das Andere sind Menschen mit ihren Jahresabrechnungen für Gas und Strom. Die Welle, die wir erwarten, ist noch nicht ganz angekommen.

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Über den/die Autor:in

Christian Domke Seidel

Christian Domke Seidel hat als Tageszeitungsjournalist in Bayern und Hessen begonnen, besuchte dann die bayerische Presseakademie und wurde Redakteur. In dieser Position arbeitete er in Österreich lange Zeit für die Autorevue, bevor er als freier Journalist und Chef vom Dienst für eine ganze Reihe von Publikationen in Österreich und Deutschland tätig wurde.

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